Kapitel 2
Drei Tage später
Frau Huber blickte Mavie streng über ihre randlose Brille hinweg an. »Und wie geht es Ihnen wirklich?«, fragte die Therapeutin.
Mavie versuchte, die bunten Holzelefanten zu fixieren, die auf einem Regal hinter Frau Hubers Drehstuhl wie eine kleine Armee aufgestellt waren.
Einmal die Woche ging Mavie nun hierher, seit zwei Jahren. Und noch immer hatte sie kein einziges Mal geweint. Sie sprach mit der Psychologin über ihre Angst vorm Altern, über ihre Selbstzweifel, weil sie nie einen richtigen Beruf ausgeübt hatte, über allerlei ärgerliche Situationen mit ihren Freundinnen. Und natürlich über Serge und seine Affären. Es tat ihr gut, einen Ort zu haben, an dem man ihr zuhörte und wo sie schon oft wertvolle Ratschläge erhalten hatte. Aber Mavie passte auf, dass die Sitzungen nicht allzu sehr in die Tiefe gingen. Sie wollte auf keinen Fall eine heulende, elende Patientin sein, die von ihrer Therapeutin bemitleidet würde. Sie achtete stets darauf, Haltung zu bewahren und ab und an lustige Geschichten in die Stunden einzustreuen, damit es für Frau Huber unterhaltsam blieb.
Mavie war selbst etwas überrascht - und ehrlich gesagt erleichtert -, dass ihre Therapeutin sie gewähren ließ und dadurch bis heute nicht wirklich zu ihrem wahren Kern durchgedrungen war. Sie ahnte: Dieser wahre Kern war wie das Innere eines Vulkans. Einmal an die Oberfläche geraten, würde er unaufhaltsam ein Meer der Verwüstung hinterlassen.
»Frau Leinemann, erzählen Sie mir doch einmal, wie Sie sich dabei fühlen, wenn eine junge Frau auf der Toilette beim Sportlerball behauptet, dass sie mit Ihrem Mann schläft!«
Mavie wandte den Blick von den bunten Elefanten auf ihre manikürten Fingernägel. Ihre Hände, dachte sie mit Missmut, waren das Einzige an ihr, was sie überhaupt nicht mochte. Sie waren kräftig und grob und passten nicht zu ihrem zierlichen Körper und dem Alabasterteint. Leider gab es noch keine chirurgischen Mittel gegen Bäuerinnen-Finger. Also tat Mavie alles, um mit Nagellack und Schmuck von den breiten Knöcheln und kurzen Fingern abzulenken.
»Es war nicht schön«, sagte sie leise.
»Nicht schön.« Frau Huber schnaubte. »Unsere Stunde ist fast rum, und alles, wozu ich Sie bringen kann, ist ein >Nicht schön<. Wissen Sie, wie ich mich in einer solchen Situation fühlen würde?« Sie hielt inne und sah Mavie eindringlich an. »Hundeelend, Frau Leinemann, todunglücklich, stinksauer.«
Mavie spielte an ihrem dicken Goldring mit dem geschliffenen Smaragd, den Serge ihr bei einer Reise nach Damaskus gekauft hatte. Sie spürte, dass Frau Huber sie noch immer über ihre Brillengläser hinweg musterte.
»Sie werden irgendwann anfangen müssen, Menschen wieder in Ihr Herz zu lassen, Frau Leinemann. Sonst wird sich nie etwas an Ihrer Einsamkeit ändern.«
***
Der letzte Satz der Therapiesitzung klang Mavie in den Ohren, als sie auf die Maximilianstraße hinaustrat. Um sie herum trugen Damen in teuren Kostümen überdimensionale Einkaufstüten und winzige Schoßhunde spazieren, trafen riesige Sonnenbrillen auf noch größere Hüte, scherzten Anzugherren sich dem Ende ihrer kurzen Mittagspause entgegen.
Wann hatte sie sich zuletzt nicht einsam gefühlt, fragte Mavie sich.
Es musste irgendwann in den ersten Jahren mit Serge gewesen sein. Er hatte ihr damals die Welt zu Füßen gelegt, um sie für sich zu gewinnen. Sie hatte sich nie wertvoller und glücklicher gefühlt als in der Zeit, in der Serge seine ganze, unwiderstehliche Aufmerksamkeit über ihr ausgeschüttet hatte. Bis sie sich hatte erobern lassen und er schließlich seine erste Frau Ulla für sie verlassen hatte.
Mavie hatte damals geglaubt, den Jackpot geknackt zu haben. Nicht, weil Serge ein berühmter Fußballspieler war, nicht, weil sie von einem Tag auf den anderen in einen Trog mit flüssigem Gold gefallen war. Sondern weil Serge sie damals so liebte, wie sie sich immer gewünscht hatte, von einem Mann geliebt zu werden. So leidenschaftlich, so intensiv, so scheinbar bedingungslos.
Ein paar Jahre lang hatte er ihr das Gefühl gegeben, dass sie alles für ihn sei. Er schwirrte um sie herum wie ein Schwarm Fashionistas um reduzierte Louboutins, er überhäufte sie mit Zärtlichkeit und Geschenken, er schlug morgens die Augen auf und sagte ihr, dass sie das größte Glück war, das ihm je widerfahren sei. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Mavie keinen Mangel gespürt, aber Serges grenzenlose Liebe berührte offenbar eine tiefe, unerfüllte Kindheitssehnsucht in ihr: begeistert geliebt zu werden, so wie sie war.
Vor Dankbarkeit über die Erfüllung dieses Bedürfnisses trat sie in einen Wettstreit mit Serge: Sie versuchte, ihm noch mehr zu geben, ihn noch mehr zu lieben, ihn noch glücklicher zu machen als er sie. Sie wusste nicht mehr genau, wann es passiert war, aber schleichend vergaß Mavie dabei sich selbst und ihr eigenes Leben. Sie lebte nur noch, um an seiner Seite zu sein, um in seinen Augen zu sehen, wie schön, wie unwiderstehlich sie war. Sie brach ihr Studium ab, sie wurde hauptberuflich die Frau, die dafür sorgte, dass Serge Leinemann der zufriedenste Mann der Welt war. Sie flanierte in den schönsten Kleidern durch die High Society, sie schmückte sein Leben, dekorierte sein Appartement mit allem, was er liebte, lernte seine Lieblingsgerichte kochen, war Tag und Nacht an seiner Seite, um ihm zu sagen, wie großartig er war, wie wundervoll das Leben an seiner Seite sich anfühlte.
Dann, irgendwann, als die ersten großen Schmetterlinge weitergezogen waren, fing sie an, sich zu langweilen, und er begann, sich mit ihr zu langweilen. Und dann begann er, sie zu betrügen. Und sie musste erkennen, wie einsam es sich anfühlen kann, eine Königin zu sein.
***
Sarah hatte sich vorgenommen, an den Tagen vor dem Unterwäsche-Shooting nur Salat zu essen. Das Problem war, dass sie nicht gerne Salat aß. Sie liebte herzhafte, deftige Speisen, Bratkartoffeln mit viel Röstzwiebeln, Erbseneintopf mit Würstchen, Kassler mit Apfel-Sauerkraut.
Leider war Sarah kein sehr konsequenter Mensch, weswegen sie am Morgen des Shootings das Fotostudio mit exakt dem Gewicht betrat, das sie vorher gehabt hatte - nämlich mit ungefähr 7,5 Kilo zu viel. Erschwerend kam hinzu, dass Sarah seit Tagen nicht schlief. Die Vorstellung, zwischen ein paar makellosen Models vor lauter Fremden halbnackt vor einer Kamera herumzuspringen, rangierte in ihren Alptraum-Charts nur wenige Plätze hinter »Verlust des gesamten Besitzes durch einen Hausbrand« und noch vor »Eine Nacht in einem dunklen Verlies mit Bushido verbringen«.
Immer wieder hatte sie überlegt, wie sie aus der Nummer doch noch rauskommen könnte, sie hatte sogar erwogen, sich beim Fensterputzen das Bein zu verstauchen, um wegen des undekorativen Verbandes absagen zu müssen, aber sie fürchtete um die Teilnahme an Karlos erstem Länderspiel, bei dem sie unbedingt dabei sein wollte. Außerdem hatte Serge auf ihrer Kooperation bestanden.
Während sie die schwere Eisentür zu einem Hinterhofstudio in Sendling öffnete, fragte sie sich, mit welchem Recht Serge eigentlich so über ihr Leben bestimmen konnte und wieso sie das zuließ. Aber leider war es nun zu spät.
Das Erste, was Sarah sah, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, war SIE.
Es war nicht irgendeine Frau, die da vor der hellgrauen Leinwand in einem hauchzarten Set aus pastellfarbener Spitzenunterwäsche posierte. Es war die schönste Frau, die Sarah je gesehen hatte. Sie hatte eine unfassbar schlanke Taille, endlos lange Beine, zarte Schultern und Arme, eine makellose, leicht gebräunte Haut, und in ihren Bewegungen lagen die Leichtigkeit und Grazie einer Elfe. Doch am schönsten an der Frau war ihr Gesicht. Es war herzförmig, besaß einen entzückenden Schmollmund, eine winzige Stupsnase und die blausten Augen, die Sarah je gesehen hatte. Umrandet wurde dieses perfekte Gemälde von seidigen, endlos langen, dichten, flachsblonden Haaren.
Sarah wusste nicht, wie lange sie im Eingang gestanden und die Frau angestarrt hatte, aber sie fühlte sich wie schockgefrostet. Wie um alles in der Welt sollte sie nun noch im grellen Scheinwerferlicht ihre Hüftröllchen, die Dellen an ihren Oberschenkeln, die Narben an ihren ungepeelten Knien zur Schau stellen?
Sie musste fliehen, jetzt.
»Sie müssen Sarah Klein sein«, hörte sie in diesem Moment die prägnante Stimme neben sich, an die sie sich noch gut vom Telefon erinnern konnte. Zu spät. Die Frau, die sich neben ihr aufgebaut hatte, trug ein knappes lila Minikleid, neongelbe Turnschuhe und ein silberfarbenes Haarband um ihren Zopf. Sie sah, ehrlich gesagt, ziemlich wild aus.
»Ich bin Denise Herms von Fame, wir haben telefoniert«, sagte die Frau, und Sarah lief es eiskalt den Rücken herunter.
Ja, sie hatten telefoniert - aber wie um alles in der Welt war es dazu gekommen, dass sie nun wenige Tage später in diesem Studio stand?
Die Reporterin führte Sarah herum und zeigte ihr das Set, erklärte ihr, wo sie gestylt und geschminkt werden würde, und stellte ihr schließlich den Fotografen, einen kleinen, dicklichen Mann mit Geheimratsecken, vor, der Sarah nur einen kurzen, desinteressierten Blick zuwarf, während er sich weiter der wunderschönen Frau vor dem hellgrauen Hintergrund widmete. Denise stellte ihr das Model nicht vor, und Sarah war dankbar, denn sie fürchtete, aus Ehrfurcht vor so viel Schönheit keinen einzigen Ton herauszubringen.
Dann brachte Denise Sarah in ein Labyrinth aus Kleiderständern zu einer lächerlich dürren Stylistin, die in einen riesigen schwarzen Kaftan gehüllt war und eine für ihr Gesicht viel zu große, dunkle Brille trug, von der Sarah sicher war, dass darin nur...