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Die Psycholinguistik ist - wenn die institutionelle Gründung in den 1950er-Jahren datiert wird - eine noch relativ junge Forschungsdisziplin, die allerdings aufgrund verschiedenster Einflüsse eine enorm bewegte Entstehungsgeschichte aufweist (Knobloch 1994, 2003). Im Spannungsfeld zwischen Psychologie und Linguistik galt und gilt es, einen psycholinguistischen Sprachbegriff zu konkretisieren und dabei die Polarität der Elterndisziplinen zu überwinden. Im Folgenden wird die Geschichte der Psycholinguistik nachgezeichnet, indem das Augenmerk auf unterschiedliche Betonungen der im Wort Psycholinguistik zusammengesetzten Nomen gelegt wird. So kann Psycholinguistik als Psycholinguistik, mit Betonung psychologischer Einflüsse, oder als Psycholinguistik, mit der Betonung linguistischer Einflüsse, gelesen werden (Abbildung 3).
Strömungen in der Psycholinguistik
Heymann Steinthal (1823-1899) wird als Begründer der Sprachpsychologie angesehen, da er sich mit der Psychologisierung der Sprachauffassung Humboldts (1767-1835) beschäftigte, d. h., er versuchte, sprachphilosophische Überlegungen auf psychologische Prozesse zu übertragen. Diese Idee entfachte um 1900 eine Debatte über die Bedeutung der Psychologie für die Sprachauffassung (und andersherum) und die behandelten Themen umfassten die Erforschung sprachlicher Assoziationen (Thumb/Marbe 1901), Versprecher (Meringer/Mayer 1895), den Spracherwerb (Stern/Stern 1907), das Sprach- und Redeverstehen (Bühler 1907) und auch den Zusammenhang von Sprechen und Denken (Vygotskij 1934/2002). Aufgrund dieser Vielfalt sprachpsychologischer Themen sprach Bühler (1927) sogar von einer Krisenpolyphonie und es können aus heutiger Sicht in diese Zeit psycholinguistische Ansätze hineininterpretiert werden. Die Besonderheit dieser Zeit liegt folglich darin, dass das Interesse an Sprache in den 1920/30er-Jahren nicht rein linguistisch motiviert war, sondern ebenso sprachpsychologische Betrachtungen einschloss. Außerdem fand das soziale Eingebundensein im Rahmen der psychologischen Aspekte ebenfalls theoriebildend Berücksichtigung, etwa handlungstheoretische Aspekte in Sprachprozessen (Wegener 1885), Strömungen der Völkerpsychologie (Wundt 1904) und die Grundlegung des Zweiersystems bei der Betrachtung von Sprache bei Bühler (1934/1999). Insbesondere durch die Völkerpsychologie wurde die psychologische Perspektive bereits zu diesem Zeitpunkt um eine soziologische Perspektive bereichert, in welcher Sprache nicht nur an das Individuum gebunden betrachtet wurde, sondern soziale und kulturelle Kontexte ebenfalls Beachtung fanden. Betont wurde bei diesen sprachpsychologischen Fragestellungen vor allem die Funktionalität von Sprache, beispielsweise bei der Betrachtung der Funktion des Zeichens im Organonmodell (Bühler 1934/1999), der Darlegung ihrer Steuerungsfunktion für höhere psychologische Prozesse (Vygotskij 1934/2002) und der Ausbildung der Identität (Mead 1934/1968).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag es im Interesse der Sprachpsychologie, sprachwissenschaftliche, psychologische und soziologische Aspekte in Zusammenhang zu bringen.
Durch den Zweiten Weltkrieg und die vorausgehenden antiintellektualistischen Strömungen kam es wissenschaftsgeschichtlich zur Zerstörung wissenschaftlicher Traditionen und die sprachpsychologische Forschungsrichtung kam nahezu zum Erliegen. Sie wurde in der Folge nur bedingt aufgegriffen. Emigration oder Tod vieler Kolleg:innen führten zu einem abrupten Abbrechen einer regen Forschungsdiskussion (Ehlich/Meng 2004).
1953/54 wurde die Psycholinguistik in den USA in einem interdisziplinären Kontext von Psycholog:innen, Linguist:innen, Informations- und Kommunikationswissenschaftler:innen, Mediziner:innen und Anthropolog:innen gegründet (Osgood/Sebeok 1954). Es kam damit zur Institutionalisierung der Psycholinguistik und aus der Interdisziplinarität heraus sollte ein umfangreicheres Verständnis für sprachliche Vorgänge resultieren. Vernachlässigt wurden bei diesem Gründungsakt (ost- und west-)europäische Traditionslinien wie zum Beispiel Goldstein, Bühler und Vygotskij, sodass es zu keiner Fortsetzung dieser Tradition kam. Vielmehr gerieten die Forschungsergebnisse der 1920/30er-Jahren in Vergessenheit und die vielfältigen Perspektiven auf Sprache gingen verloren (Ehlich/Meng 2004, Knobloch 2003). Das Hauptaugenmerk der neuen Disziplin Psycholinguistik lag zunächst darauf, die lerntheoretischen Konzeptionen der Psychologie (vor allem noch behavioristisch geprägt) mit den linguistischen Konzeptionen (vor allem strukturalistisch geprägt) zu verbinden und zudem informationstheoretische Konzeptionen (vor allem in den Anfängen mathematisch und computertechnologisch orientiert) zu berücksichtigen. Diese Auffassung hat ihren Niederschlag auch in der Definition des Forschungsgegenstands der Psycholinguistik: Bei Osgood/Sebeok (1954) stehen vor allem Prozesse der Kodierung und Dekodierung von Nachrichten im Mittelpunkt, die zwischen Kommunikationsteilnehmer:innen vermittelt werden. Diese systematische und formalisierte Orientierung an Sprache vernachlässigt den Blick auf das sprechende Individuum.
Die 1953/54 institutionell in den USA gegründete Psycholinguistik interessierte sich für die systematische und formalisierte Verwendung von Sprache.
Unmittelbar nach der Gründung in den 1950er-Jahren wurde die Psycholinguistik Teilgebiet der Linguistik (nicht der Psychologie), sodass nun vor allem linguistische Ansätze Einfluss auf die Entwicklung der Psycholinguistik nahmen. Die vorherrschende strukturalistische Sprachauffassung von de Saussure (1916/2001), dass es sich bei Sprache um ein präzis erfassbares, formal exakt darstellbares relationales System von formalen Elementen handelt, war präsent und beeinflusste auch die Ausrichtung der psycholinguistischen Forschung. Dazu kam, dass Chomsky (1957) mit einer schockartig eingeleiteten Abkehr vom behavioristischen Paradigma versuchte, die Realität der (theoretischen) linguistischen Strukturen in mentale Strukturen zu übersetzen. Die beginnende kognitive Ausrichtung psycholinguistischer Forschung bezeichnet Knobloch (2003, S. 23) auch als "Flucht in den Kopf", da soziologische Aspekte der Sprache völlig in den Hintergrund rückten. Dadurch war die Psycholinguistik lange Zeit (lediglich) damit befasst, die psychologische Relevanz grammatischer Theorien zu prüfen (Knobloch 1994, Hörmann 1981). So kam es, dass die Psycholinguistik bis in die 1970er-Jahre regelrecht zur Hilfswissenschaft der Linguistik degradiert wurde (Hörmann 1981) und tatsächlich von einer Psycholinguistik gesprochen werden kann. Der Fokus des psycholinguistischen Interesses im Rahmen der linguistischen Tradition liegt folglich auf der Erforschung der competence, die ein einzelner sprechender Mensch innehat. Sprache ist das Objekt dieser Betrachtung und dient dem Transport von Informationen, was durch die Etablierung der Transportmetapher deutlich wird. Damit wird die nachrichtentechnisch ausgerichtete Auffassung von Informations- bzw. Zeichenübertragung betont, die sich bis heute fortsetzt (Rickheit/Herrmann/Deutsch 2003). Diese aktuell als europäische Psycholinguistik bezeichnete Schule findet ihre Fortsetzung und Weiterentwicklung vor allem im Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen (Knobloch 2003, Cutler 2005).
Die linguistisch orientierte Psycholinguistik nähert sich der Sprache als System und sucht psychologische Relevanz in grammatischen Theorien.
Lev S. Vygotskij (1896-1934)
Vygotskij wurde in Orsa (Weißrussland) geboren und starb mit 37 Jahren in Moskau an Tuberkulose. Er studierte in Moskau und war vielfältig interessiert an Kunst- und Literaturwissenschaften, Soziologie, Psychologie, Philosophie und Linguistik. Er hinterließ ca. 250 Schriften, die zunächst per Dekret verboten waren und daher erst sehr viel später (ab den 1980er-Jahren) Verbreitung fanden. Bis heute ist die Aufarbeitung von Vygotskijs Werk noch nicht abgeschlossen. Insbesondere durch die Übersetzung des Gesamtwerks ins Englische öffnete sich international eine intensive Auseinandersetzung mit seinem Werk (Vygotskij 1987-1999). Vygotskij gilt als Begründer des sogenannten kulturhistorischen Ansatzes, aus welchem sich auch die Tätigkeitstheorie entwickelt hat. Die idealistische Ausrichtung seiner Theorie erschwerte die Verbreitung in der damaligen UdSSR. Für die Psycholinguistik ist zentral, dass er sich intensiv mit der Funktion von Sprache für höhere psychologische Prozesse auseinandersetzte. Seine Erkenntnisse hierzu sind vor allem in der Monografie Denken und Sprechen zusammengeführt (Keiler 2015).
Die Formulierung einer kulturhistorischen...
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