Kapitel 1
Martin,
wenn du diese Zeilen liest, hast du dich hoffentlich in deinem neuen Leben eingerichtet. Denn wir beide wissen, dass wir das Richtige getan haben, aber du sollst außerdem wissen, dass du für mich immer ein besonderer Mensch warst und immer bleiben wirst. Trotz allem, was ich gesagt habe, werde ich auf unsere gemeinsamen Jahre stets mit Liebe und Dankbarkeit zurückblicken. Und ich hoffe, du vergisst nie, dass ich noch immer deine Freundin bin und bleibe. Pass auf dich auf.
Alles Gute
Cari
Scheißkerl! Scheißkerl! Scheißkerl! Ich sah zu, wie Martin seinen letzten Karton in den Van lud, und ich stellte mir vor, wie er aussehen würde, sollte ich ihn erschießen. Ich sah ihn gerade blutüberströmt rückwärts taumeln, als er dem Fahrer ein letztes Mal sein schmieriges Lächeln schenkte und mir dann ein müdes und trauriges.
»Cari, ich ...«, fing er an, als würde er eine Rolle in einem Fernsehfilm spielen oder als wäre er überhaupt irgendwelcher Gefühlsregungen fähig.
»Pass auf dich auf!«, unterbrach ich ihn fröhlich, obwohl es mir lieber gewesen wäre, er würde bei einer Massenkarambolage auf der M25 zu Brei zerquetscht werden.
»Wir telefonieren bald mal«, fügte ich hinzu.
Als ich ihn auf die Wange küsste, erkannte ich voller Schadenfreude die Verwirrung in seinem Blick. Dann drehte ich mich um, stapfte die Treppe hoch und machte die glänzende rote Tür unseres ehelichen Domizils hinter mir zu.
Einen Augenblick blieb ich im Flur stehen und wartete, ob ich wie ein Häufchen Elend zusammenbrechen würde, was aber seltsamerweise nicht geschah. Dann bezog ich in der Fensternische Position und sah den Van wegfahren. Martin warf einen letzten, verwundeten Blick aufs Haus, wie ein getretener Hund, rutschte hinter das Lenkrad seines Wagens mit dem angeberischen Kennzeichen und fuhr davon.
Martin war verschwunden.
Wie erstarrt saß ich auf der Fensterbank - ein Bild vieler emotionaler Krisen vor dieser - und wartete auf das Gefühl unendlicher Einsamkeit. Es kam nicht. Nichts kam.
Martin hat mich verlassen.
Ich bin verlassen worden.
Ich lebe allein.
Ich bin eine Exfrau.
Ich bin ein Nichts.
Ich schluchzte probeweise, weil ich herausfinden wollte, ob von den noch gestern sintflutartig vergossenen Tränen etwas übrig geblieben war. Doch meine Augen blieben trocken. Tatsächlich fühlte sich mein aufgesetztes Abschiedslächeln inzwischen angenehm an. Und abgesehen von meinem Mordskater, der ab und zu Würgereize an mein Hirn sandte, war mein Schmerz gering und mein Kummer durchaus zu ertragen.
Das alles fand ich sehr seltsam.
Gefühle sind etwas Komisches. Denn meine sind immer anders als erwartet. Dafür machte ich den überdurchschnittlich großen Anteil bizarrer Gene in meinem Erbgut verantwortlich (siehe das spätere Geschwafel über meine Mutter und meinen Vater), aber in diesem Fall war meine emotionale Reaktion schlicht auf Unerfahrenheit zurückzuführen. Alles, was ich über in die Brüche gegangene langjährige Beziehungen wusste, brachte mir zehn Punkte auf der »Stress-Skala« und alle möglichen unerwünschten Formen der Beachtung seitens meiner Familie ein (weitere zehn Punkte).
Tja, wie soll man etwas wissen, ehe man es nicht ausprobiert hat? Und die Reaktionen anderer Menschen in dieser Hinsicht können von dubiosem Wert sein. Denn nachdem meine Mutter meinem Vater davongelaufen war, gab sie eine schicke Party mit Champagner und Lachs- und Kaviar-Kanapees, während sich mein gutes Tantchen Maud im Bad die Pulsadern aufschnitt, nachdem sie Onkel Geoffrey beim Kofferpacken erwischt hatte.
Da ich zu meinen besten Zeiten die ungekrönte Königin in der Kunst der Launenhaftigkeit gewesen war und alle Stufen der Hysterie und Gefräßigkeit ausprobiert und auch der Sauflust hemmungslos nachgegeben hatte, die von Phasen positiven Denkens unterbrochen worden waren, in denen ich mir eine brillante Zukunft ausmalte, hatte ich diesen letzten Tag der endgültigen Trennung definitiv als einen Tag untröstlicher Trauer geplant.
Doch jetzt - wie das Leben einen verunsichern kann -, da der Moment gekommen war (ich singe Frank Sinatras My Way), blieben meine Augen trocken. Würde ich dieses seltsame Gefühl - eine Mischung aus kribbelnder Erwartung, dem Bewusstsein theatralischer Bedeutung und süßem, ergreifendem Selbstmitleid - analysieren, käme ich wohl zu dem Schluss, es hätte einen Beigeschmack eigenartiger Fröhlichkeit. Diese Stimmung konnte natürlich nicht von Dauer sein. Aber ein ordentlicher Streit muntert mich immer auf, und gestern Abend hatte es jede Menge Geheul, Gejammer und umherfliegendes Besteck gegeben.
Eigentlich hatten wir wie zwei vernünftige Erwachsene diesen letzten Abend vor unserer Trennung verbringen wollen, bei einem Glas Wein Erinnerungen an glücklichere Zeiten austauschen und noch einmal die Details unserer Trennung in aller Freundschaft besprechen wollen. Ich hatte Martin den Zettel in den Koffer gesteckt, meine Abschiedsrede mit guten Wünschen für das Lebewohl an der Türschwelle vorbereitet und mir vorgenommen, nicht die Beherrschung zu verlieren. Aber meine guten Vorsätze haben sich noch nie mit Alkohol vertragen, und nachdem ich jeden Tropfen Wein im Haus getrunken hatte und in die Flasche Cherry-Brandy gefallen war, die eine wohlmeinende Tante meiner Mutter vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, beschimpfte ich keifend seine neue Liebe (Sharon!!!) und stachelte ihn zu ebenso gehässigen Vorwürfen an.
Natürlich machte sich alter Groll Luft. »Ausgerechnet Nigel! Cari, wie konntest du nur?« (Na, fantastisch! Nach einer Fummelei im Vollrausch, an die ich mich nicht erinnern kann, verschwindet er zu irgendeiner Konferenz, reißt eine Sekretärin auf, bumst sie drei Nächte lang ununterbrochen und stellt fest, dass er mit ihr leben will. Und wer wird der Untreue bezichtigt?) Hinzu kamen weitere kränkende Vorwürfe (ich würde meinen fetten Arsch nicht bewegen?), die er stumm gehegt, die er mir aber in unserer zehnjährigen Ehe nie mitgeteilt hatte, obwohl sie ihn alle praktisch vom ersten Tag an in die Arme einer anderen Frau getrieben hatten.
Als er um vier Uhr früh schließlich bei dem beschämenden Witz angekommen war, den ich 1993 seinem Boss erzählt hatte, und ich auf seinem kostbaren Grateful-Dead-Album herumgetrampelt war, hatte er eine Vase gegen die Wand geworfen, und wir hatten beide, keuchend vor Erschöpfung dagestanden und die Scherben angestarrt. Und dann, nach einer Wende um hundertachtzig Grad, die ich früher so aufregend gefunden hatte und die mich jetzt zur Verzweiflung trieb, hatte er leise und vernünftig gesagt: »Sei doch nicht so, Cari.« Woraufhin ich in Tränen ausgebrochen war, wir zusammen ins Bett gefallen waren und ich auf einer letzten Performance bestanden hatte. Nur, um's ihm zu zeigen.
Nachdem er eingeschlafen war, hatte ich im Dunkeln auf dem Rücken gelegen, bis draußen der graue Morgen dämmerte, und dem verrückten Kreischen der Stare gelauscht und mich gefragt, ob ich mir mehr Mühe hätte geben müssen, um ihn zu halten.
Ich glaube, es hat einen Zeitpunkt gegeben, wo es mir gelungen wäre, hätte ich es wirklich gewollt. Aber in den darauffolgenden Wochen voller Ungewissheit, Angst und Schmerz, während ich mit mir gerungen hatte, ob ich alle meine Überzeugungskünste ins Spiel bringen oder diesen Schicksalsschlag akzeptieren sollte, war Martin schmachtend durchs Haus gegeistert und hatte sich offensichtlich immer mehr in diese Person verliebt, die er erst vor sechs Wochen kennen gelernt und seitdem viermal gesehen hatte.
Und mittlerweile hatte er auch einen neuen Job in ihrem Wohnort, in Brighton gefunden.
Und das hat mich gerettet. Er würde hundert Meilen von Eastford entfernt leben. Nur wegen der lähmenden Angst, als Geschiedene in derselben Stadt wohnen zu müssen, waren wir so lange zusammengeblieben. Wie schmerzlich es gewesen wäre, ihm in Pubs, Weinbars und auf Partys meiner Freunde zu begegnen oder ihn in der Schlange vor einem Kino mit der falschen Blondine am Arm zu sehen.
Schon dreimal hat sie mit ihrer falsch klingenden, heiseren Stimme angerufen - sie besaß nicht einmal Anstand genug, zu warten, bis er aus dem Ehebett ausgezogen war. Nach ihrem ersten Anruf bin immer ich ans Telefon gegangen und habe einen Ton angeschlagen, der Sharon klar machen sollte, worauf sie sich da eingelassen hatte und wie froh ich sei, Martin loszuwerden. Jedes Mal habe ich gerufen: »Liebling, es ist für dich«, nur um die beiden zu verwirren, und einmal habe ich mit zuckersüßer Stimme hinzugefügt: »Deine Freundin«, die andeuten sollte, dass Martin und ich uns daraus einen Spaß machten.
Doch jetzt, als ich auf der Fensterbank saß und Martin schon fünfzehn Minuten näher bei ihr war, hoffte ich, dass er sich in seinem übernächtigten Zustand kaum gewaschen hatte und nach Sex stinkend bei Sharon ankäme, damit den beiden ihr erster gemeinsamer Tag gründlich versaut wurde.
Wie perfekt wäre die Welt doch - ha! -, würden sich Ex-partner einfach in Luft auflösen. Wochenlang hatte ich mir gewünscht, Martin würde sterben, damit ich nicht nur das einer Witwe gebührende Mitgefühl entgegennehmen könnte - wie kurzlebig ist hingegen das Mitleid für eine Ex-frau! -, sondern damit ihn auch keine andere haben konnte. Oder vielmehr, damit er keine andere haben konnte.
Ich wollte Martin doch gar nicht mehr haben. (Nein! Nein!) Warum wurde mir dann bei dem Gedanken, dass er jetzt nach Brighton zu einer Wohnung mit einer blauen Tür und zu. Sharon fuhr, die ihm gesagt hatte, er sei der aufregendste Mann, mit dem sie je...