Schweitzer Fachinformationen
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Medial geht Corona komplett an mir vorbei. Nicht aus Ignoranz, sondern weil ich gern in meinem eigenen Gefühl bleiben will. Ich habe schon vor Jahren aufgehört, Nachrichten zu konsumieren. Vielleicht bin ich die einzige ehemalige TV-Journalistin ohne Fernseher. Hätte mir einer der Dozenten im Studium erzählt, dass es bei den meisten Medien weniger um die Inhalte als ums Geldmachen geht, hätte ich wahrscheinlich ernüchtert abgebrochen und doch Tiermedizin studiert. Corona macht mir noch einmal mehr deutlich: Warum soll ich mir eine subjektive Auswahl an Weltelend quotengerecht aufbereitet servieren lassen, um danach nichts weiter damit zu machen, als traurig, wütend oder ängstlich zu werden. Meine Idee von »mich informieren«: Dort, wo ich gerade bin, viele Fragen stellen. Versuchen, einen möglichst umfassenden Eindruck von dem zu bekommen, was die Menschen vor Ort beschäftigt. Zuhören, beobachten und nachspüren, was das mit mir macht. Und wenn ich dann dazu beitragen kann, etwas zum Besseren zu verändern, frage ich, ob es gewünscht ist, und lege gegebenenfalls los.
Große Themen erreichen mittlerweile Menschen in der abgelegensten Hütte in den Bergen von Lesotho4. Insofern mache ich mir wahrlich keine Sorgen, etwas wirklich Relevantes zu verpassen. Heute ist es Mehdi, der mir aufgeregt von dem Mord an einem Schwarzen US-Amerikaner erzählt und von der weltweiten Bewegung, die sich daraus zu entwickeln scheint. Seit Wochen treffen wir uns heimlich. Mehdi, sein Bruder Youssef und ich. Mehdi und Youssef haben Muscheln getaucht, die wir, frisch gekocht, verputzen. Sie riskieren jedes Mal Ärger. Denn niemand darf ins, aufs oder auch nur ans Meer.
»Die Polizei hat uns schon wieder rauspfeifen wollen«, erzählt Mehdi wütend. »Die spinnen! Wovon sollen wir uns denn ernähren, wenn hier alles stillsteht und keiner mehr Arbeit hat?«
Die meisten Marokkaner sind selbstständig. Viele leben mehr oder weniger von der Hand in den Mund. Von meinen Freunden rund um Agadir arbeitet die Mehrzahl im Surftourismus. Doch damit ist es jetzt auf unbestimmte Zeit vorbei. Keiner von ihnen verdient noch Geld. Kaum ein Arbeitgeber kommt für seine Angestellten auf, nur wenige sind offiziell angemeldet und können auf staatliche Unterstützung hoffen. Ersparnisse hat so gut wie keiner, wie auch, wenn es immer jemanden in der Familie gibt, der gerade finanzielle Unterstützung braucht. Obwohl ich Respekt davor habe, wie schnell und radikal die marokkanische Regierung handelt, begreife ich nicht, weshalb Fischen nicht möglich sein soll, um sich in einer so schwierigen Zeit zumindest selbst zu versorgen. Doch die Einheimischen bleiben weitestgehend ruhig. Wenn in Marokko eines gilt, dann »Inschallah«5.
»Wir haben doch alles, was wir brauchen«, sagt Youssef zufrieden. Er ist 23 und damit acht Jahre jünger als Mehdi, aber so ausgeglichen, als wäre er fünfzig Jahre älter. »Das Meer gibt es uns. Notfalls fischen wir halt nachts. Und unser Garten versorgt uns mit dem Rest. Ich muss nie einkaufen.«
»Außer Zigaretten«, stichele ich.
»Im Zweifel verkaufe ich mein Auto«, womit er den jahrzehntealten Renault mit den platten Reifen meint, der langsam aus allen rostigen Nähten bricht. Ein verschmitztes Lächeln erscheint auf Youssefs hübschem Gesicht und entblößt dabei einen gammeligen schwarzen Zahn. Rauchen und Zucker, denke ich unwillkürlich und frage mich, was ich tun würde, wenn meine Zähne anfingen zu gammeln und ich mir den Zahnarzt nicht leisten könnte. »Wenn wir den Schmerz nicht mit Heilkräutern in den Griff kriegen, gehen wir zu einem Zahntechniker«, hat mir Mehdi erklärt. »Der behandelt dich je nach Problem für 120 bis 400 DH6. Nicht immer gut, aber ein richtiger Zahnarzt kostet fast dreimal so viel.«
»Iss noch!« Mehdi zeigt auf den Teller mit den leckeren Muscheln.
Um auch etwas beizusteuern, habe ich Salat und Chilisoße gemacht. Der Salat besteht vor allem aus lokalen Kräutern, die mir meine neue Freundin Anke gezeigt hat. Sie wohnt in der Wohnung nebenan und hat eine Philosophie: »Wenn wir wieder das essen würden, was um uns herum wächst, aufhören würden, alle den gleichen Kram zu kultivieren, zu spritzen und Monokultur zu betreiben, gäbe es keinen Hunger mehr auf der Welt.« Youssef findet es sichtlich seltsam, seine Hecke zu essen. Trotz der herzlichen Einladung fühle ich mich unwohl, weil ich weiß, wie hart die Jungs für ihr Essen gearbeitet haben, und keinem von ihnen etwas wegessen will. »Hast du schon mal irgendwo in Marokko jemanden aufessen sehen?«, geht mir Felix' Frage durch den Kopf. Felix, noch so ein wunderbarer Mensch, der ohne Corona sicher nie Teil meines Lebens geworden wäre. Ich habe ihn auf einem Festival in Deutschland kennengelernt und dann zufällig hier wiedergetroffen. Als der Lockdown kam, war er gerade in der Nähe von Marrakesch, genoss sein Leben und das Wasserskifahren. Innerhalb von Stunden kippte die Situation, und es war klar, dass die Regierung in Kürze jeglichen Verkehr zwischen den Städten untersagen wird. Rasch zog Felix mit seinem Bulli auf den nächsten Strandparkplatz bei mir um die Ecke, und wir beschlossen, die Zeit des Lockdowns gemeinsam durchzustehen. Einer für alle, alle für einen. »Bei mir um die Ecke« heißt übrigens fünf Minuten vom Haus meiner englischen Freunde Karen und Graham entfernt.
Ich beobachte die beiden Brüder, die entspannt auf ihren weißen Plastikstühlen sitzen. Sie sind fertig mit dem Essen. Dabei ist der Teller mit Muscheln in der Tischmitte noch halb voll. Nein, ich habe in ganz Marokko tatsächlich noch nie jemanden etwas aufessen sehen und auch noch nie erlebt, dass jemand sein Essen nicht teilt.
»Ich bringe einfach Felix den Rest«, schlage ich spontan vor und ernte ein doppeltes Kopfnicken.
»Auf jeden Fall, das muss er probieren«, sagt Mehdi und fügt voller Stolz auf seinen kleinen Bruder hinzu: »Youssef ist der beste Koch weit und breit!«
Plötzlich ist der Abendhimmel voller Flamingos, sicher fünfzig dieser Paradiesvögel fliegen übers Meer in Richtung untergehende Sonne. Manchmal weiß ich nicht, ob ich träume, so schön kann es hier sein. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmt mich. Ich sehe meine Freunde an. Den dünnen Mehdi mit seinen fast schwarzen Augen und dem strengen Gesicht, der hinter all seiner Freundlichkeit einen schmerzhaften Schatten auf dem Herzen zu haben scheint. Youssef mit dem schüchternen Grinsen und seiner verspielten Art. Eine blonde Locke fällt ihm ins Gesicht. Hell und lang. Er hat den gleichen Friseur wie die meisten Surfer hier: Salon Sonne und Salzwasser.
Diese herzliche, ehrliche Selbstverständlichkeit, mit der wir hier gemeinsam sitzen. Momente, die ich in dieser Form in meiner Heimat, seit ich »erwachsen« bin, nur selten erlebt habe. Natürlich esse ich in Deutschland auch zusammen mit Freunden. Aber das ist anders. Gut geplant und von vornherein zeitlich begrenzt, um überhaupt mal zueinanderzufinden bei all den verschiedenen Leben und Verpflichtungen, die jeder so hat. Obwohl ich hier die Fremde bin, fühle ich mich in diesem Augenblick zugehörig. Vielleicht weil es erwartungsfrei und unbefristet ist. Inschallah halt.
Youssef schenkt mir Tee nach. Ausnahmsweise ohne Zucker, er weiß, dass ich ihn so lieber mag. Zucker und Tee gehören in Marokko zusammen wie für meine Großeltern Brot und Butter . Ich stelle meine Füße auf mein Skateboard unter dem Stuhl und muss schmunzeln, sehe mich bei meiner Schwester in Hannover (Ist das wirklich schon sieben Monate her?), wie ich das Skateboard herauskrame, das mir ein Freund geschenkt hat und das ich aus Mangel an einem Zuhause bei ihr gelagert habe. Ich habe es bereits seit acht Jahren, aber so gut wie nie benutzt; dabei wollte ich es damals unbedingt haben. »Wie alt willst du noch werden, bis du endlich anfängst zu skaten?«, hat mein bester Freund Martin am Telefon gestichelt. »Keine Sekunde älter«, habe ich geantwortet und bin im Nu auf der Straße. Es ist ein kalter deutscher Herbstabend und niemand da, der den Spaß mit mir teilt. Hier in Marokko werde ich ständig von Leuten auf der Straße gefragt, ob sie mein Board, das ich seitdem immer dabeihabe, kurz mal ausprobieren könnten. Sei es der Gemüseverkäufer vor seinem Stand, der heimliche Angler auf dem Weg zum Meer oder die Nachbarin mit den Einkaufstüten in der Hand. Auch Youssef habe ich im wahrsten Sinne des Wortes spielend kennengelernt. Wir sind uns am Strand begegnet. Ohne lange nachzudenken, hat er einen Handstand gemacht, ich dann etwas Handstandähnliches, wir haben gelacht, Räder geschlagen, mit den Strandhunden getollt und sind hinterher zusammen ins Meer gesprungen, um die letzten Wellen der Saison mit dem Körper zu reiten. Dass wir im nächsten Moment verhaftet werden könnten, war uns egal.
Ich rolle mein Board mit den Füßen von rechts nach links und weiß: Da, wo ich bin, bin ich genau richtig. Die Berge...
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