Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
FREITAG, 31. MAI
Seit drei Tagen drehte sich Margits Leben beinahe ausschließlich um ihren Enkelsohn. Vormittags nahm sie den Kinderwagen mit ins Büro, um dort das Nötigste zu erledigen, nachmittags machte sie frei, um Caspar zu genießen, wie sie das nannte. Ein Innenarchitekt war bestellt, der im Obergeschoss ein Kinderzimmer einrichten sollte, direkt neben Margits Schlafzimmer, und soeben hatte der Paketwagen einen riesigen Karton mit exklusiver englischer Babymode geliefert, die sie für ein Heidengeld im Internet bestellt hatte. Für Cornelius' Enkelsohn war ihr nichts zu teuer.
Das ungewöhnlich ernste Gesicht und die rabenschwarzen Haare ließen Caspar wie eine Miniaturausgabe seines verstorbenen Großvaters aussehen, was sie immer wieder mit Staunen erfüllte. Mit Säuglingen kannte Margit sich nicht aus, doch sie war überzeugt, dass Caspar sehr viel aufmerksamer in die Welt schaute als alle anderen Babys seines Alters, eine kleine Persönlichkeit, die man bereits ernst nehmen musste, ein Mensch, der seinen vorgezeichneten Weg gehen würde. Ganz besonders liebte sie es, die winzigen Hände zwischen Daumen und Zeigefinger zu nehmen und zu betrachten, selbst die Finger glichen denen von Cornelius. Eines Tages würden das Männerhände sein, die fest zupacken konnten.
Margit war jetzt achtundfünfzig, sie war ungewöhnlich spät in die Wechseljahre gekommen und litt immer noch an den typischen Beschwerden. Sie verachtete ihren Körper für das, was er ihr antat, nächtliche Hitzewallungen, die sie um den Schlaf brachten, und überfallartige Schweißausbrüche zu jeder Tages- und Nachtzeit. In den letzten Wochen hatte sie sich furchtbar gefühlt, fast schon depressiv. In den schlaflosen Nächten quälte sie die Frage, ob es jetzt nur noch bergab gehen würde. Manchmal schaute sie morgens in den Spiegel und dachte, vorbei, du befindest dich auf dem letzten Wegstück zum Grab. Da kommt nichts mehr, du wirst nur noch älter, jeden Tag ein bisschen älter. Mit tiefem Seufzen registrierte sie die Falten, die sich nicht mehr verleugnen ließen, die schlaffe Haut an den Unterarmen und am Hals, das wabbelige Gewebe am Bauch. Geradezu zwanghaft suchte sie ihren Körper nach neuen Scheußlichkeiten ab, nach weiteren Zeichen des äußeren Verfalls.
Doch mit Caspar waren all die düsteren Gedanken verflogen, er ließ ihre Tage wieder leuchten. Vergessen war das lähmende Gefühl, dass alles dem Ende zustrebte, das hier war ein neuer, unglaublich aufregender Anfang, der Beginn einer neuen Zeit.
Als Cords Mutter hatte sie sich ständig überfordert gefühlt, vermutlich war sie mit achtzehn einfach zu jung gewesen für diese Aufgabe, doch sein Sohn kam genau zum richtigen Zeitpunkt in ihr Leben, und zum ersten Mal begriff sie, wie es sich anfühlte, ein Kind aufrichtig zu lieben. Wenn es stimmte, was sie vorhin im Internet gelesen hatte, standen Silvanas Chancen auf eine vollständige Genesung nicht gut, und Cord, davon war sie fest überzeugt, würde der Doppelbelastung als Mediziner mit eigener Praxis und alleinerziehender Vater nicht lange gewachsen sein. So etwas schafften nur Frauen. Sehr bald schon würde Caspar ihr allein gehören.
Margit fühlte sich keineswegs zu alt, um ein Kind aufzuziehen. Heutzutage ließen sich sogar noch sechzigjährige Frauen befruchtete Eier implantieren, alles eine Frage des Geldes. Das Schicksal hatte ihr diesen mühsamen Weg erspart, sie hatte Cornelius' Enkel einfach geschenkt bekommen. Und warum sollten sie und Erich nicht als späte Eltern durchgehen?
Vorsichtig beugte Margit sich über den dunkelblauen Kinderwagen, den sie vor zwei Tagen gekauft hatte, weil ihr das ständige Hin und Her mit Caspars Sachen auf die Nerven fiel. Sie brauchte nichts von Cord, sie konnte es sich leisten, ihren Enkelsohn ganz nach ihrem eigenen Geschmack auszustaffieren. Der Kleine schlief selig unter der Decke mit dem blau-weiß gestreiften Bezug, gefüttert und frisch gewickelt. Sein Mund zuckte, und sie hätte zu gern gewusst, ob so ein kleiner Mensch schon träumte, und wenn ja, wovon.
Es klingelte, und Erich stürzte förmlich zur Tür. Manchmal kam es ihr so vor, als hielte er es kaum aus in einem Raum mit dem Baby, aber daran würde er sich gewöhnen müssen.
»Hallo, Erich, ich brauche ein paar Unterschriften von Margit«, hörte sie und erkannte die Stimme sofort.
Tineke stand vor der Tür, ihre Nichte und wichtigste Mitarbeiterin. Tineke hätte hübsch sein können, eine junge Frau, nach der die Männer sich auf der Straße umdrehten, doch es schien ihr nicht wichtig zu sein. Sonst hätte sie wohl kaum ihr langes Haar ganz kurz schneiden lassen. Auf Margit wirkten Frauen mit Kurzhaarfrisuren spröde und betont intellektuell, als fühlten sie sich dem Rest der Welt überlegen. Selbst wäre sie im Leben nicht auf die Idee gekommen, sich von ihren langen Haaren zu trennen, nicht mal jetzt mit ihren achtundfünfzig Jahren. Sie bemerkte durchaus, dass die neue Frisur Tinekes ebenmäßige Züge betonte, doch langes Haar war seit Urzeiten der Inbegriff von Weiblichkeit, und sie glaubte nicht eine Sekunde, dass es irgendwo auf der Welt einen Mann gab, der das anders sah. Zudem hätten ihrer Nichte ein paar weibliche Rundungen gutgetan, sie war so schlank, dass sie aus der Ferne ohne Weiteres als junger Mann durchging.
Tineke, unter deren rechtem Arm ein grauer Ordner klemmte, zwängte sich an Erich vorbei in den Raum. Ihr Blick fiel sofort auf den Karton.
»Sind die Sachen schon da? Darf ich gucken?« Sie wusste von der Bestellung, hatte sogar ein paar Teile mit ausgesucht.
Jedes einzelne Stück wurde überschwänglich und mit lautem Jubel kommentiert. Margit konnte die Begeisterung verstehen, es war unglaublich, was für herzige Babysachen es heutzutage zu kaufen gab. Sie konnte den Kleinen jetzt mit winzigen Jeans, Pullovern und Kapuzenjacken ausstaffieren, als müsste er nächste Woche schon zur Schule. Sogar Babyschühchen, die wie Markenturnschuhe aussahen, gehörten zu der Ausstattung.
»Ist das nicht etwas übertrieben?«, fragte Erich spöttisch. Den ganzen Nachmittag blätterte er schon in einem dicken Bildband über die Toskana, den er gestern aus Oldenburg mitgebracht hatte. Ein Fingerzeig, dass er sich die Zeit nach seiner Pensionierung anders vorgestellt hatte.
»Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie oft man einen Säugling umziehen muss«, platzte es aus ihr heraus, weil sie seine ewige Besserwisserei unerträglich fand. »Schließlich hat er keine Mutter, die für ihn sorgen kann.«
Ihr Ausbruch ließ ihn kalt, wie immer. »Nein«, sagte er überfreundlich, und sein Mund verzog sich zu einem unangenehmen Lächeln. »Aber einen sehr bemühten Vater.«
»Einen völlig unfähigen Vater«, gab sie verärgert zurück.
»Findest du? Cord gibt sich doch wirklich alle Mühe. Und es ist nicht leicht für ihn.« Jetzt musste Tineke sich auch noch einmischen! »Die Arbeit in der Praxis, eine kranke Frau und ein Baby.«
»Bist du nicht hergekommen, weil du ein paar Unterschriften brauchst?«, wurde sie sofort in ihre Schranken verwiesen.
»Ja. Natürlich, du hast recht.« Mit hochrotem Kopf schlug Tineke die Unterschriftenmappe auf und blätterte verschreckt darin herum. Sie trug mal wieder Jeans. Wie oft sollte Margit noch darauf hinweisen, dass eine Frau in Tinekes Position sich formeller zu kleiden hatte. Jeans gehörten in die Freizeit und nicht in die Chefetage. Aber was konnte man von Tineke schon erwarten, das Mädchen hatte keinen Stil, kein Wunder bei dem Elternhaus.
Gerade als Margit die Kappe von ihrem Füllhalter ziehen wollte, um die Briefe zu unterzeichnen, meldete sich Caspar. »Lass die Papiere hier, ich rufe an, wenn ich fertig bin. Die Auszubildende kann sie holen.« Sie würde den Kleinen nicht weinen lassen, das war nicht gut für ein Baby.
Mit angesäuerter Miene legte Erich den Bildband beiseite. »Wie lange soll das eigentlich so weitergehen? Meinst du nicht, dass wir uns langsam nach einer anderen Betreuungsmöglichkeit für Caspar umsehen sollten? Du hast genug im Betrieb zu tun, und ich fühle mich durch die ständige Anwesenheit eines Säuglings überfordert!«
Sie war ihm beinahe dankbar für diese Worte. Seit Tagen wartete sie auf die richtige Gelegenheit, ihren Lebensgefährten von ihrem Entschluss in Kenntnis zu setzen. »Ich habe entschieden, dass Caspar hier aufwachsen wird, in diesem Haus. Eine psychisch kranke Mutter und einen Vater wie Cord, der sich nur durchs Leben jammert, kann man dem Kleinen nicht zumuten. Und von fremden Leuten wird er ganz gewiss nicht erzogen. Ich weiß überhaupt nicht, wie du auf so einen absurden Vorschlag kommst. Wir reden hier von Cornelius' Enkelsohn.« Erich erblasste. Er konnte es nicht ausstehen, wenn sie den Namen ihres verstorbenen Mannes in seiner Gegenwart aussprach, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. »Hier ist er am besten aufgehoben und kann gleich auf seine späteren Aufgaben vorbereitet werden«, fuhr sie ungerührt fort und ließ ihren Blick dabei wie zufällig zu Tineke wandern. »Silvana mag ein schlichtes Gemüt sein, und der Himmel weiß, was Cord an ihr findet, aber wir haben ihr einiges zu verdanken. Sie hat uns den Firmenerben geboren.«
Ein Paukenschlag, mit dem keiner der beiden gerechnet hatte. Jeder in der Familie war davon überzeugt, dass Margit die Fabrik eines Tages an Tineke übergeben würde. Wer außer ihrer Nichte kam denn sonst in Betracht? Cord bestimmt nicht, der schaffte es ja kaum, seine Praxis so zu führen, dass am Ende des Quartals etwas übrig blieb. Tatsächlich hatte Margit mit dem Gedanken gespielt, doch sie konnte sich Tineke einfach nicht...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.