Schweitzer Fachinformationen
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Die fünfzehnjährige Melody schleicht sich heimlich fort, um den Geburtstag ihrer Freundin Simone zu feiern. Als sie heimkommt, steht der Reiterhof ihrer Mutter in Flammen. Ihre Mutter, ihr kleiner Bruder und eine Pferdewirtin kommen ums Leben. Der Brandstifter wird nicht gefasst. Zwanzig Jahre später kehrt sie nach Martinsfehn zurück und ist erneut auf Simones Geburtstag eingeladen. Simone verkündet auf der Feier, dass sie den Brandstifter kennt. Am nächsten Tag ist sie tot. Die Kommissare Nola von Heerden und Renke Nordmann müssen tief in der Vergangenheit graben, um den Täter zu finden.
In einer buchstäblichen Nacht-und-Nebel-Aktion hatte Melody die Beziehung zu Roland beendet. Sie war einfach mit Linus verschwunden, und es hatte sich angefühlt wie eine Flucht. Die Übergangswohnung war klein und dunkel und kein Ort, an dem sie bleiben wollte. Eher planlos war sie durch die großen Immobilienportale im Netz gesurft und dabei auf ein Haus in ihrem Heimatdorf Martinsfehn gestoßen. Sie erkannte es sofort. Die Küsterin hatte dort gewohnt. Inzwischen war sie offenbar verstorben, und es gab keine Erben. Sie hatte ihr Haus der Evangelischen Kirchengemeinde vermacht, die es nun anbot.
Ganz von selbst war Melody eingefallen, was die Therapeutin immer wieder gesagt hatte: Sie müssen sich mit der Vergangenheit aussöhnen. Fangen Sie dort an, wo Ihr Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Plötzlich schienen die Worte einen Sinn zu ergeben. Entwurzelt durch ein schreckliches Unglück, mäanderte sie heimatlos durch das Leben, wusste nicht, wohin sie gehörte. All die Jahre hatte sie sich danach gesehnt, irgendwo anzukommen, und jetzt wusste sie, wo der Ort sich befand, an dem sie sich endlich zu Hause fühlen würde. In Martinsfehn.
Auf einmal kamen Erinnerungen hoch, Erinnerungen an glückliche Momente. Ihr erster Schultag, die rosarote Zuckertüte und das Kleid mit den Rüschenärmeln, Picknick mit ihren Freundinnen im Garten von Simones Eltern, die Pferde auf dem Hof, vor allem Flöckchen, ihr eigenes Pony, der erste Kuss und Thore natürlich, ihre große Liebe.
Von dem Geld, das die Lebensversicherung für den Tod ihrer Mutter ausgezahlt hatte und das unangetastet auf einem Konto lag, weil Melody sich sehr zu Rolands Ärger geweigert hatte, dieses Blutgeld anzurühren, kaufte sie das Haus. Und heute wagte sie sich zum ersten Mal auf den Friedhof.
In der alten Bäckerei gegenüber vom Friedhof hatte jemand ein Blumengeschäft eröffnet. Melody entschied sich für ein fertig bepflanztes Weidenkörbchen. Die hellblauen Glockenblumen auf hauchdünnen Stängeln wirkten zart und schutzbedürftig und schienen genau richtig zu sein für einen Zweijährigen.
Bevor sie durch das bogenförmige Friedhofstor schritt, holte sie einen kleinen Teddy aus weißer Keramik aus ihrer Tasche und setzte ihn mitten in die Glockenblumen. Für einen Moment schnürte ihre Kehle sich zusammen, es mochte dumm sein, doch sie war ziemlich aufgeregt.
Vor zwanzig Jahren hatte sie den Friedhof zum letzten Mal betreten, an die Beerdigung erinnerte sie sich als einen der schrecklichsten Tage in ihrem Leben. Es fiel ihr schwer, daran zu denken. Zweimal verlief sie sich auf dem großen Gelände. Sie wollte schon aufgeben, als sie endlich das Grab entdeckte.
Weiße Eisbegonien und dunkelrote Geranien blühten um die Wette, die Erde war von Unkraut befreit und sorgfältig geharkt, und auf dem Grabstein aus silbergrauem Granit erhob sich ein Pferd mit wallender Mähne auf die Hinterbeine, ein Barockpferd, wie es in der klassischen Dressur geritten wurde.
Verena Matzke hatte ihre sportlichen Erfolge als Springreiterin gefeiert, sie züchtete Holsteiner mit dem Ziel, ein Ausnahmetalent mit besonderem Springvermögen hervorzubringen. Das Pferd auf dem Grabstein hätte ihr nicht gefallen. Auch wenn Melody sich dafür schämte, es fühlte sich gut an, dass Wulf das falsche Pferd ausgesucht hatte.
Von Michel war nicht mehr viel geblieben, nur sein Name unter dem seiner Mutter, Michel Tobias Matzke, 1994 bis 1997.
Dass allein der Anblick seines Namens so schmerzhaft sein würde, hatte Melody nicht erwartet. Längst vergessen geglaubte Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf, ein kleiner blonder Junge mit gelben Gummistiefeln, der in seiner Sandkiste spielte, lachte und die Arme nach ihr ausstreckte, der nicht schlafen konnte, wenn sie ihm nichts vorsummte.
Michel, kleiner Michel, du fehlst mir so. Mit leisem Wimmern sank sie vor der Umrandung aus dunklem Granit in die Knie, und es dauerte eine Weile, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie das kleine Körbchen mit den Blumen abstellen konnte.
Michel wäre jetzt zweiundzwanzig, ein junger Mann, vielleicht genauso uneins mit der Welt, wie sie es in dem Alter gewesen war, oder erwachsen und vernünftig. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie er aussehen könnte, schmal und sehnig wie ihre Mutter oder groß und bullig wie sein Vater, doch es wollte ihr nicht gelingen. Für sie würde Michel auf ewig ein kleiner blonder Sonnenschein mit strahlend blauen Augen bleiben, und sie würde alles geben für ein einziges Foto.
Eine Hand tippte auf ihre Schulter. »Hallo, Melody, bist du es wirklich? Ich werd verrückt. Erkennst du mich? Ist ja schon eine Weile her. Ich bin Simone.«
Mit dem Handrücken wischte Melody die Tränen fort, dann schaute sie blinzelnd hoch. Simone hatte sich kaum verändert. Dreiviertellange Jeans, hochhackige Sandalen und eine schwarze, durchsichtige Bluse über einem Top, ebenfalls schwarz und sehr tief ausgeschnitten. Ihr Haar war zu einer komplizierten Frisur geflochten. Genau wie damals wirkte sie so entschlossen wie jemand, der es gewohnt war, seinen Willen durchzusetzen. Wenn sie zurückdachte, hatte immer Simone bestimmt, wo es langging.
Melody erhob sich, sie wusste nicht, wohin mit ihren Händen, und verschränkte sie schließlich hinter ihrem Rücken, doch damit war Simone nicht einverstanden. Sie machte einen Schritt nach vorn und riss Melody überschwänglich in die Arme.
»Mensch, Melody, wie schön! Ich freu mich. Mir war immer klar, dass du eines Tages zurückkommen wirst. Du siehst aus wie deine Mutter, wie aus dem Gesicht geschnitten. Bis auf die Augen, ihre waren ja immer so kalt und ohne jedes Gefühl, ganz anders als deine. Keine Angst, du bist nicht wie sie.« Ohne zu zögern, griff sie hinter Melodys Körper und holte eine Hand nach vorn und drehte die Innenfläche nach oben. Als sie die rosarote Kraterlandschaft aus Narben entdeckte, strich sie vorsichtig darüber. »Ich hoffe, das tut nicht mehr weh.«
»Nein«, sagte Melody rau. Die zärtliche Berührung war ihr unangenehm, eine Grenzüberschreitung. Sie hatte Simone ewig nicht gesehen, und sie konnte es nicht leiden, wenn jemand ihre Narben ansah oder, schlimmer noch, berührte.
»Glaubst du an Schicksal?« Sie ließ Melody keine Zeit für eine Antwort. »Ich schon. Es ist kein Zufall, dass du ausgerechnet jetzt wieder hier auftauchst. Ich will nämlich rausfinden, was damals wirklich passiert ist, und du musst mir dabei helfen.«
»Wie soll ich das denn anstellen?«
Simones Finger drückten noch fester zu. »Erinnere dich! Du weißt mehr als jeder andere! Du bist der Schlüssel zur Wahrheit!«
»Ich kann mich an nichts erinnern«, schleuderte Melody ihr entgegen. »An gar nichts. Ich weiß nur das, was alle wissen, sogar noch weniger. Ich sehe nur das Feuer vor mir, ich kann es sogar riechen, immer noch. Direkt nach der Beerdigung hat man mich weggebracht, in eine Wohngruppe nach Lübeck. Ich weiß nicht mal, was die Polizei rausgefunden hat.«
»Nichts, nur dass es Brandstiftung war.«
Auf einmal tauchte das Bild dieses widerlichen Kommissars vor Melodys innerem Auge auf, sein herablassendes Grinsen. An den hatte sie ewig nicht mehr gedacht.
Ihre Worte schienen Simone nicht zu stören. »Pass mal auf, Süße. Ich finde raus, was damals passiert ist, und schreibe ein Buch darüber. Das wird 'ne ganz große Sache.«
»Ohne mich«, sagte Melody dumpf. »Für mich ist das Vergangenheit. Ich bin hergezogen, um einen Neuanfang zu machen. Ich will nicht mehr an damals denken!« Die letzten beiden Worte schrie sie beinahe, und sie nahm im Augenwinkel wahr, dass eine Frau stehen blieb und den Kopf schüttelte. Ja, recht hatte sie, auf dem Friedhof sollte man nicht rumbrüllen.
Simone ließ sich nicht beirren. »Ich kann verstehen, dass du gerade andere Dinge im Kopf hast. Aber es ist wichtig, Melody, auch für dich, glaub es mir. Du wirst erst deinen Frieden finden, wenn alles aufgeklärt ist.«
Was bildete Simone sich eigentlich ein? Dass Melody immer noch nach ihrer Pfeife tanzen würde, genau wie damals? Trotzig befreite sie ihre Hand aus der Umklammerung. »Mach dir keine Hoffnungen, ich werde dir nicht helfen. Ich will nichts damit zu tun haben. Seit zwanzig Jahren versuche ich, diese Nacht zu vergessen. Das ist vorbei. Endgültig vorbei.«
»Nein, da irrst du dich. Es ist erst vorbei, wenn die Wahrheit ans Licht kommt und der Täter zur Rechenschaft gezogen wird.« Simone legte eine Hand an ihre Kehle, dann flüsterte sie rau: »Der Täter lebt immer noch in Martinsfehn, davon bin ich überzeugt. Er lebt, und die anderen sind tot. Findest du das gerecht?«
Melody gab keine Antwort, sie drehte sich um und hockte sich wieder vor das Grab, mit dem Rücken zu Simone. Sie würde sich erst wieder rühren, wenn ihre ehemalige Freundin wegging. Doch den Gefallen tat Simone ihr nicht. Sie ließ sich neben Melody in die Knie sinken und fasste erneut nach ihrer Hand.
»Mensch, erzähl doch mal, was machst du? Bist du verheiratet? Hast du Kinder?«
»Geschieden. Ein Sohn, Linus, er ist fünf. Ich bin vor drei Wochen zurückgekommen. Ich dachte, es ist positiv für Linus, auf dem Land aufzuwachsen.«
»Ja, klingt doch gut. Ich hab übermorgen Geburtstag und will morgen Abend reinfeiern. Du musst unbedingt kommen.«
Melody erfuhr, dass Simone nach der Schule eine Ausbildung als Fotografin gemacht und vor einiger Zeit Haus und Laden von ihrem Chef übernommen hatte. »Der Fotoladen an der Hauptstraße. Die Feier findet draußen statt. Deinen Sohn kannst du ruhig mitbringen. Wenn er müde wird, legen wir ihn oben in meiner Wohnung ins Bett. Kein Problem. Meine Neffen und Nichten haben auch schon dort...
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