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Über die gemeinsame Verfertigung der Vergangenheit im Gespräch
In den von Angela Keppler analysierten »Tischgesprächen«[22] findet sich der folgende Ausschnitt aus einem Familiengespräch.[23] Die Familie Braun hat gerade einen Skatabend beendet. Der Vater resümiert:
VATER:
»N schönes Spiel«
MUTTER:
»Wenn man's nicht zu bierernst nimmt«
»Reizvolles Spiel«
SOHN:
»Und du hast es trotz Casablanca offenbar nich' übergekriegt«
»Wie bitte?«
»Du hast es trotz Casablanca nicht übergekriegt?«
»Ich hab' in der ganzen Gefangenschaft kein Skat mehr gespielt.«[24]
Keppler verwendet diesen Gesprächsausschnitt als Beispiel für eine Vergangenheitsrekonstruktion en passant: In einer alltäglichen, in keiner Weise auf das Erzählen von Erinnerungen bezogenen sozialen Situation wird plötzlich ein Aspekt der Lebensgeschichte eines Beteiligten angesprochen - in diesem Fall die Kriegsgefangenschaft des Vaters, die dieser in Casablanca zugebracht hat. Interessanterweise wird dieses Thema nicht vom Vater selbst eingebracht - ganz im Gegenteil scheint er die Bemerkung seines Sohnes zunächst gar nicht zuordnen zu können. Dessen Erinnerung an eine frühere Erzählung des Vaters ist überdies ungenau, denn wie sich zeigt, hat der Vater in der Kriegsgefangenschaft überhaupt nicht Karten gespielt. Nichtsdestotrotz führt die Bemerkung des Sohnes, wie Keppler schreibt, im Anschluss zu einer eineinhalb Stunden langen Erzählung des Vaters über die Zeit seiner Kriegsgefangenschaft.
Für uns ist diese Passage bemerkenswert, weil sie einige zentrale Aspekte vereint, die - wie in diesem Kapitel ausgeführt werden wird - typisch für das »Familiengedächtnis« sind. Der wichtigste Aspekt liegt darin, dass das »Familiengedächtnis« kein umgrenztes und abrufbares Inventar von Geschichten darstellt, sondern in der kommunikativen Vergegenwärtigung von Episoden besteht, die in Beziehung zu den Familienmitgliedern stehen und über die sie gemeinsam sprechen. Solche Vergegenwärtigungen der Vergangenheit finden in der Regel beiläufig und absichtslos statt - Familien halten keine Geschichtsstunden etwa zum Nationalsozialismus ab, sondern thematisieren Vergangenes zu unterschiedlichsten Anlässen, wie hier beim Kartenspiel, bei Familienfeiern, beim Fernsehen, bei Diaabenden, wo auch immer. Dabei ist die gemeinsame Praxis des »conversational remembering«[25] etwas völlig Selbstverständliches - sie bedarf keines Vorsatzes, keiner der Sprecher muss dabei eine Absicht verfolgen, sie hat keinen festgelegten Ausgang, es braucht nichts »ausdiskutiert« zu werden, das Thema kann beliebig gewechselt oder abgebrochen werden.[26]
Weiter ist wichtig, dass das jeweilige historische Ereignis nicht vom damaligen Akteur ins Gespräch gebracht werden muss - ganz im Gegenteil kommt es häufig vor, dass ein Angehöriger der Nachfolgegenerationen die jeweilige Geschichte anspricht. Damit ergeht eine auf den ersten Blick paradoxe Aufforderung an den historischen Akteur: Er möge doch erzählen, was seine Zuhörer schon kennen. Auch im Fall der Familie Braun hat der Vater ja ganz offensichtlich schon zuvor Episoden aus seiner Kriegsgefangenschaft erzählt - andernfalls könnte sein Sohn ihn gar nicht darauf ansprechen. Dass dessen Erinnerung an die Erinnerungen des Vaters zum Thema »Kartenspielen während der Kriegsgefangenschaft« falsch ist, stellt weder ein Erzählhindernis dar, noch ist es überhaupt untypisch »für jene Geschichten, die man als Kind von seinen Eltern oft erzählt bekommen hat und bei denen man, gerade weil sie einem immer wieder von den Erwachsenen erzählt wurden, nie so ganz genau hingehört hat«.[27]
Der Umstand, dass sich Kinder und Enkel ihren ganz eigenen Reim auf die Geschichten machen, die sie von ihren Eltern und Großeltern gehört haben, dass sie diese nicht nur auf ihre Weise interpretieren, sondern oft völlig neu gestalten, ergänzen oder entstellen, wird uns noch beschäftigen - hier ist zunächst einmal wichtig, dass Geschichten in der Familie gerade deswegen erzählt werden, weil jeder sie schon kennt: denn der »Bezug auf vergangene Ereignisse (ist) nicht allein ein Akt ihrer gemeinsamen Vergegenwärtigung als etwas Vergangenes, sondern ein Vorgang der Bestätigung einer Einstellung zu wichtigen Angelegenheiten des Lebens, die sich in der Familie über die Zeiten hinweg durchgehalten hat. Die rituelle Wiederholung [.] benennt eine Kontinuität des Selbstverständnisses, die sie im selben Akt bezeugt.«[28]
Die kommunikative Vergegenwärtigung von Vergangenem in der Familie ist mithin kein bloßer Vorgang der Aktualisierung und der Weitergabe von Erlebnissen und Ereignissen, sondern immer auch eine gemeinsame Praxis, die die Familie als eine Gruppe definiert, die eine spezifische Geschichte hat, an der die einzelnen Mitglieder teilhaben und die sich - zumindest in ihrer Wahrnehmung - nicht verändert. Das Beispiel des von einer falschen Annahme ausgehenden Sohnes der Familie Braun deutet schon an, dass die einzelnen Familienmitglieder durchaus verschiedene Versionen der »Familiengeschichte« im Gedächtnis haben können - das »Familiengedächtnis« bildet aber einen Rahmen, der sicherstellt, dass sich alle Beteiligten an dasselbe auf dieselbe Weise zu erinnern glauben. Das Familiengedächtnis ist, wie sich im Folgenden zeigen wird, eine synthetisierende Funktionseinheit, die gerade mittels der Fiktion eines gemeinsamen Erinnerungsinventars die Kohärenz und Identität der intimen Erinnerungsgemeinschaft »Familie« sicherstellt.
Diese implizite Fiktion liegt übrigens auch anderen, sozial distanzierteren und temporären Erinnerungsgemeinschaften zugrunde - für die Familienmitglieder ist aber die prinzipielle Anforderung kennzeichnend, Kohärenz sichern, Identität bewahren und Loyalitätsverpflichtungen nachkommen zu müssen, und das Medium par excellence für die Erfüllung dieser Anforderung sind Keppler zufolge gemeinsame kommunikative Akte des Erinnerns: »Die Einheit einer Familiengeschichte besteht [.] nicht in einer einheitlichen Geschichte, sondern in der Kontinuität der Gelegenheiten und Akte des gemeinsamen Sich-Erinnerns.«[29]
Keppler weist übrigens ausdrücklich darauf hin, dass die kommunizierten Geschichten keineswegs vollständig, konsistent und linear sein müssen - ganz im Gegenteil bestehen sie häufig eher in Fragmenten und bieten in dieser Gestalt Anknüpfungspunkte für unterstützende, unterbrechende und korrigierende Kommentare und Ergänzungen. Und ebenso wenig, wie das Gros der in der Familie kursierenden Geschichten aus geschlossenen Narrativen besteht, so wenig existiert eine Familiengeschichte »aus einem Stück«: »Dieses große Ganze gibt es nicht«, schreibt Keppler, »und kann es nicht geben, wenn es denn stimmt, dass das Gedächtnis einer familiären Gemeinschaft an okkasionelle Akte des jeweiligen Sich-Erinnerns gebunden ist.«[30]
Das Familiengedächtnis basiert nicht auf der Einheitlichkeit des Inventars seiner Geschichten, sondern auf der Einheitlichkeit und Wiederholung der Praxis des Erinnerns sowie auf der Fiktion einer kanonisierten Familiengeschichte. Ihre synthetisierende Funktion wird immer aufs Neue realisiert, allerdings, so müsste man Keppler ergänzen, nur so lange, wie es gut geht: Denn bekanntlich funktionieren Familien keineswegs immer als Kommunikations- und Erinnerungsgemeinschaften und häufig zerbrechen sie ja auch, mit der Folge, dass die Vergegenwärtigung einer gemeinsam geteilten Vergangenheit unmöglich wird. Wir kommen im Übrigen auch auf den Grenzfall eines Familiengedächtnisses zu sprechen, das zu zerbrechen droht, ohne dass sich die soziale Zusammensetzung des Kollektivs verändert: Hier, am Beispiel der Familie Meier, wird die Einheitlichkeit des Familiengedächtnisses dadurch in Frage gestellt, dass einige Zeit nach dem Tod des Urgroßvaters eine von ihm verfasste Chronik entdeckt wird, die diesen als NS-Verbrecher zeigt, der stolz auf seine Taten ist. Dieses Bild vom Urgroßvater nun widerspricht auf drastische Weise demjenigen, das die Familie bis dahin gepflegt hatte, und das führt zu deutlichen Schwierigkeiten der Hinterbliebenen, zu einer gemeinsamen Erinnerung zurückzukehren. Das, was die posthum entdeckte Chronik beinhaltet, ist nicht mehr verhandelbar. Wenn der Urgroßvater seine Geschichte im Rahmen von Familiengesprächen erzählt hätte,[31] hätte das vielleicht zu einigen Schwierigkeiten bei der Wiederherstellung der Fiktion einer gemeinsamen Familiengeschichte geführt - aber diese wäre auf jeden Fall leichter restaurierbar gewesen, als es hier, im Angesicht der nicht mehr modifizierbaren Chronik, der Fall ist.
Vor diesem Hintergrund macht der Fall der Familie Meier, der ausführlicher im nächsten Kapitel[32] vorgestellt wird, ex negativo deutlich, dass das Familiengedächtnis als eine Funktion zu verstehen ist, die jenseits der individuellen Erinnerungen und Vergangenheitsauffassungen der einzelnen Familienmitglieder die Fiktion einer gemeinsamen Erinnerung und Geschichte sicherstellt. Denn nachdem die Geschichte des Urgroßvaters sich als völlig diskrepant zum Gedächtnis der Familie Meier herausgestellt hat, zeigt sich, dass die...
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