Schweitzer Fachinformationen
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Rosa hockte an Barrys Grab unter den Fliederbüschen am Hintereingang zum Gasthaus, zupfte verwelkte Blüten von den Kapuzinerkressen, nicht daß sie gerade an den Bernhardiner dachte, es war nur der Platz geworden, an den ihre Füße gingen, ohne besondere Aufforderung. Auch wenn die Büsche längst kahl waren, wenn es von den Zweigen tropfte und ihre Schuhe in der nassen Erde einsanken, hockte sie hier, mit gespreizten Beinen, manchmal stützte sie die Hände auf und vergaß, daß sie es getan hatte, dann schimpfte die Mutter über den verkrusteten Matsch auf dem Mantel. Rosa mußte den Fleck ausbürsten, bis nichts mehr davon zu sehen war. Ansonsten schüttelte die Mutter zwar immer wieder den Kopf über die Tochter, doch wunderte sie sich nicht mehr. Ein altes Ei und alter Samen, sagte sie, was konnte man da erwarten? Sie sagte es auch, wenn Rosa in Hörweite war. Mich dürfte es eigentlich nicht geben, dachte Rosa oft. Die Mutter war fünfzig, als sie geboren wurde, ihre älteste Schwester dreißig.
Die Prüfung in Geschichte war nicht gut ausgegangen, unter dem Blick der Lehrerin wurde Rosas Kopf leer, sie hatte gelernt, gestern wußte sie, wann der Siebenjährige Krieg begann, jetzt wußte sie es wieder, 1756, natürlich 1756, nur in der Klasse stand sie blöd und stumm, und die anderen kicherten, und Hanna stupste Bärbel mit dem Ellbogen an und verzog das Gesicht. Hanna mit den dicken braunen Zöpfen, Hanna mit den großen dunklen Augen, Hanna mit der zarten Nase, Hanna mit den schmalen Fingern und den ovalen rosaroten Nägeln, kein einziger abgebissen oder eingerissen. Hanna, die so gut roch, die radschlagen konnte und immer eine Antwort wußte. Wenn die Lehrerin Hanna aufrief, um ein Gedicht vorzutragen oder ein Lied zu singen, sträubten sich die Härchen auf Rosas Armen und sie spürte etwas wie einen sanften Wind im Nacken. Alle Mädchen wollten neben Hanna sitzen, alle wollten ihre Hand halten, wenn sie sich in Zweierreihen aufstellen mußten. Hanna lächelte dann gleichmütig in die Runde. Auch die Erwachsenen lächelten, wenn sie Hanna ansahen, sogar die strenge Handarbeitslehrerin und der finstere Schulwart. Ein einziges Mal war es Rosa gelungen, als erste neben Hanna zu stehen, da merkte sie, wie schweißnaß ihre Hände waren, und trat schnell zur Seite. Rosa wußte, daß sie kein schönes Kind war. Ihre Nase war zu klobig, ihr Gesicht zu breit, ihr ganzer Körper zu gedrungen, ihre Füße und Hände zu groß, die Haare zu strähnig. Die riecht doch immer nach Wirtshaus, hatte Marianne gesagt, laut genug, daß Rosa es am anderen Ende des Turnsaals hören konnte. An dem Abend zog sie die Tuchent über den Kopf, zuerst merkte sie nichts, aber dann roch sie es: schales Bier, Tabak, Zwiebeln und brutzelndes Schmalz. Von da an hatte sie den fettigen Dunst in der Nase, sobald sie die Haustür öffnete, der ließ sich auch nicht hinausschneuzen, selbst wenn sie Wasser hochzog und wieder ausprustete. Die Mutter verbot ihr, öfter als einmal in vierzehn Tagen den Kopf zu waschen, davon würden die Haare dünn, sagte sie, und fielen aus. Rosas Haare waren ohnehin dünn.
Rosa zog eine Brennessel aus dem Boden, wunderte sich, wie lang und wie gelb die Wurzel war, zerkrümelte Erde zwischen den Fingern. Kühl fühlte sie sich an.
Die Mutter steckte den Kopf aus der Hintertür, rief Rosa. Semmeln solle sie holen. Zum Bäcker ging sie gern, zum Fleischhauer nicht, von dem Geruch nach Blut wurde ihr übel. Als sie zurückkam, saß die alte Frau Wiesner am Tisch in der Fensternische und schlürfte schmatzend Gulyassuppe. Rings um ihren Mund glänzte der rote Saft. Sie grabschte eine frische Semmel aus Rosas Korb, putzte den Teller aus, schob ihn mit einer ungeduldigen Bewegung bis an die Tischkante, so daß Marianne herlief, um ihn vor dem Fallen zu retten. Die Wiesner verlangte Kaffee mit viel heißer Milch, ohne Haut, und einen kleinen Cognac. Während sie darauf wartete, nahm sie ihr Strickzeug zur Hand und begann mit klappernden Nadeln an einem grünen Socken zu stricken. Rosa schauderte es. Sie hatte gehört, wie die Schwester mit ihren Freundinnen flüsterte, die Wiesner mache noch ganz andere Dinge mit ihren Stricknadeln. Die jungen Frauen scheuchten Rosa weg, bevor sie Genaueres erfuhr, aber aus ihren fahrigen Gesten, den geröteten Wangen, den gesenkten Stimmen wußte sie, daß es sich um Da-unten handeln mußte, um das unaussprechliche Geheimnis, um Männer und Frauen und die schrecklichen Dinge, die sie miteinander anstellten. Früher hatte Rosa manchmal Geräusche aus dem Zimmer der Eltern gehört, vor denen sie sich unter der Decke verkrochen hatte, seit langem schon hörte sie nur mehr Vaters schwere Schuhe auf den Boden plumpsen, aber als die Eltern am Ruhetag im Kino waren, hörte sie noch beängstigendere Geräusche aus dem Zimmer, das sie mit der Schwester teilte. Sie riß die Tür auf; noch bevor sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie mehr sah als den hellen Fleck des Bettes, drohte eine Männerstimme mit Prügeln, wenn sie nicht sofort verschwände. Rosa blieb auf halber Höhe der Treppe sitzen, döste irgendwann ein und wachte erst auf, als der Mann über sie hinwegstieg, sich umdrehte, sie unters Kinn faßte und dabei laut und gurgelnd lachte. Später steckte ihr Marianne eine Kokoskuppel zu und legte den Finger an den Mund.
Die Wiesner verlangte eine Kokoskuppel. Rosa erschrak. Konnte die Frau Gedanken lesen? Die Wiesner setzte ein Grinsen auf, vor dem Rosa heiß und kalt wurde, und zeigte mit der Stricknadel auf sie. Rosa solle die Kokoskuppel bringen, sie habe jüngere Beine, sagte die Wiesner. Mit abgewandtem Gesicht stellte Rosa den Teller auf den Tisch, die Wiesner ließ die Stricknadeln fallen, packte Rosas Kinn, betrachtete sie und schüttelte den Kopf. Rosa schämte sich, sie wußte nicht recht wofür, sie fühlte, wie sie rot wurde, häßliche rote Flecke bekam sie im Gesicht und am Hals, vor ein paar Tagen hatte sie sich im Spiegel erblickt, als sie genau diese Hitze spürte, und war erschrocken, weglaufen wollte sie und konnte nicht, blieb stehen vor diesem bösen, anklagenden Spiegel, bis Marianne ärgerlich nach ihr rief und sie aus der Erstarrung löste.
Die Wiesner lachte. In ihrer linken Mundecke bildeten sich Bläschen, in einem davon war ein Kokosschnipsel, eins glitzerte bräunlich-rosa von der Kakaocreme. Die dicken weichen Finger der Wiesner hielten immer noch Rosas Kinn, sie mußte dableiben und die Bläschen anstarren, als sie den Kopf zur Seite drehte und die Mutter hilfesuchend anschaute, ließ die Wiesner los und sagte zur Mutter, es werde nimmer lang dauern. Die Mutter strich sich die Haare aus der Stirn und von den Wangen, verschränkte die Hände über dem Bauch und senkte den Kopf. Der Nagel am Mittelfinger ihrer rechten Hand war eingerissen. Wie rot ihre Hände waren, wie dick die blauen Venen an den Handrücken. Hannas Mutter hatte ganz schmale Hände und lange rosarote Fingernägel.
Im Fliederbusch hatte Rosa ein Vogelnest entdeckt, darin lagen drei kleine türkisfarbene braun gesprenkelte Eier. Die Vogelmutter störte es nicht mehr, wenn Rosa still unter dem Busch hockte, sie starrte mit ihren schwarzen Stecknadelaugen vor sich hin und flog nur ab und zu kurz weg, um einen Regenwurm aus der feucht glänzenden Erde zu picken. Solange die Vogelmutter weg war, hielt Rosa sprungbereit Wache.
Gestern erst hatte der Nachbarkater seinen großen Kopf unterm Zaun durchgesteckt und wäre sicher durchgeschlüpft, wenn Rosa ihn nicht mit Schreien und Händeklatschen vertrieben hätte. Er fauchte und zischte, funkelte sie aus gelben Augen an. Sie starrte zurück, es war schwer, nicht zu blinzeln. Aug in Auge mit einer Katze durfte man nicht blinzeln, sonst hatte man verloren, unweigerlich. Wer hatte das gesagt? Rosa verstand nicht, warum die Vogelmutter ihr Nest ausgerechnet im Fliederbusch gebaut hatte, so nahe am Boden, aber da war es nun einmal, und sie mußte um halb acht in die Schule gehen und konnte erst um halb zwei zurückkommen, auch wenn sie rannte, bis sie Seitenstechen bekam. Sie schleppte ein langes Brett aus dem Schuppen zum Zaun, grub eine Rille und stellte das Brett hochkant vor den Spalt zwischen Erde und Zaun. Wenn der Zaun nur höher wäre. War er aber nicht.
Rosa spürte etwas auf dem Kopf, griff hinauf, hielt eine halbe Eierschale in der Hand. Wie zart die war. Rosa setzte sie auf ihren Mittelfinger, drehte sie hin und her. An der Bruchstelle war die Schale klebrig. Aus dem Nest piepste es hoch und leise. Rosa wollte aufspringen und schauen, hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück, horchte nur mit ganzer Aufmerksamkeit. Pecken hörte sie, Piepsen und ein trockenes Rascheln, das mußte die Vogelmutter sein, die ihre Flügel bewegte. Rosa hielt den Atem an.
Als die Vogelmutter knapp über ihren Kopf flog, zuckte Rosa zusammen....
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