1 Big Five #1 Der Umgang mit der VUCA-Welt wird zur Kernkompetenz
Wir würden VUCA gerne als das Unwort des Jahres vorschlagen. Streng genommen als das Un-Akronym des Jahres. Es gibt fast keinen Beitrag zur digitalen Transformation, der ohne das wundersame Akronym auskommt. Keine Präsentation, die nicht mindestens einmal auf VUCA verweist. Meist wird VUCA zu Beginn eingeführt - um die Angst vor den im Zusammenhang mit VUCA stehenden Umbrüchen zu schüren und so auf die Dringlichkeit der digitalen Transformation zu verweisen. Das ergibt auch Sinn. Wenn wir Menschen zu Veränderungen motivieren möchten, können wir die Dringlichkeit dieser Veränderungen aufzeigen, indem wir die Folgen einer passiven Reaktion, Trägheit und Beharren auf dem Status quo aufzeigen (wenn wir uns jetzt nicht bewegen, werden wir von dem Monster, das auf uns zukommt, aufgefressen). Wir möchten aber auch die positiven Folgen der Veränderungen vor Augen führen, die aus einer aktiven Reaktion, Unternehmungslust und Freude am Gestalten der Zukunft hervorgehen (wir können den Schatz erreichen und - auf dem Weg - auch noch Abenteuer erleben). Am Ende trifft wohl beides zu. Beginnen wir also erst einmal damit, VUCA besser zu verstehen.
VUCA wurde als Begriff vom U.S. Army War College eingeführt, um die nach dem Kalten Krieg durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägte Welt zu beschreiben (Lawrence, 2013). Volatilität bezieht sich auf die Geschwindigkeit und die Stärke von Veränderungen, welche, je höher die Volatilität, mit Instabilität und Turbulenzen einhergehen. Unsicherheit beinhaltet das Fehlen von Informationen über die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Konsequenzen von Ereignissen. Komplexität bedeutet im Kontext von VUCA, dass es eine Vielzahl von Zusammenhängen in einem Netzwerk von Informationen und Prozessen gibt, sodass es schwierig ist, die Konsequenzen einer Handlung abzuschätzen. Ambiguität bezieht sich auf das Fehlen von Klarheit über die Ursachen, Konsequenzen und Bedeutung eines Ereignisses (Lawrence, 2013; Bennett?&?Lemoine, 2014). Das Akronym VUCA begann, sich nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 zu verbreiten, und, wie beschrieben, wird es zunehmend im Kontext der digitalen Transformation verwendet. Abbildung 2 zeigt diese Entwicklung exemplarisch über die Ergebnisse einer Google Scholar Suche nach »VUCA«.
Abbildung 2: Kumulierte Ergebnisse über Google Scholar nach Erscheinungsjahr seit 2000
Seit Beginn der Diskussion um die digitale Transformation können wir ab 2011 auch eine zunehmende Diskussion über VUCA beobachten. Jedoch bedeutet die Tatsache, dass wir erst seit Kurzem über VUCA sprechen, nicht, dass vorher noch niemand über Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität der Umwelt nachgedacht hat. Ganz im Gegenteil - Sie finden diese Begriffe beziehungsweise eng verwandte Konstrukte wie Umweltkomplexität, Umweltdynamik und Umweltdruck in jedem guten Buch zu Organisationstheorie. Der Einfachheit halber werden wir im Folgenden weiter den Begriff VUCA verwenden und nicht einzelne Facetten aufgliedern.
Tatsächlich sind die VUCA-Dimensionen für viele Mitarbeiter und Führungskräfte bereits Realität. Im Rahmen unseres Forschungsprojektes haben wir in einer für Deutschland repräsentativen Umfrage von Mitarbeitern und Führungskräften gefragt, inwieweit die Dimensionen der VUCA-Arbeitswelt heute bereits existent sind. Abbildung 3 illustriert die Ergebnisse dieser Befragung, welche bereits relativ hohe Werte in Bezug auf Volatilität, Unsicherheit und Komplexität zeigen.
Abbildung 3: Grad, in dem repräsentativ ausgewählte deutsche Berufstätige in ihrem Arbeitsleben mit VUCA konfrontiert sind
Trotz der bereits relativ hohen Werte können wir dennoch davon ausgehen, dass VUCA-Umweltbedingungen noch weiter zunehmen werden. Die im Zusammenhang mit der digitalen Transformation entstehenden Geschäftsmodelle wie Plattformorganisationen und das durch die digitale Transformation ermöglichte exponentielle Wachstum von informationsbasierten und plattformbasierten Unternehmen führen zu einer weiter ansteigenden Marktdynamik in Form von Volatilität und Unsicherheit. Die durch die Digitalisierung erhöhten globalen Zusammenhänge, Interdependenzen zwischen Märkten und der Eintritt von neuen Marktteilnehmern erhöhen die Komplexität. In Bezug auf viele der neu eingeführten Technologien ist es schwierig, abzuschätzen, welche Möglichkeiten und Risiken mit ihnen verbunden sind - dies erhöht die Ambiguität. Dementsprechend gehen auch CEOs davon aus, dass insbesondere die Komplexität weiter zunehmen wird. So gaben 79 Prozent von 1500 CEOs, die von IBM befragt wurden, an, dass die Zunahme an Komplexität die größte Herausforderung für Unternehmen ist (IBM, 2010). Gleichzeitig zweifeln viele der CEOs an ihren eigenen Fähigkeiten, diese Komplexität managen zu können.
Dabei ist es durchaus eine gute Nachricht, dass unter den CEOs Zweifel an der Fähigkeit, Komplexität managen zu können, herrschen. Denn die Forschung über menschliches Entscheidungsverhalten spricht generell eher dagegen, dass wir rationale Entscheidungen treffen und über Zeiträume von drei Jahren (welche der in der klassischen Betriebswirtschaftslehre referenzierte Zeithorizont für strategische Entscheidungen sind) planen können. Daniel Kahneman und Amos Tversky haben 2002 den Nobelpreis der Wirtschaftswissenschaften für ihre Erkenntnisse über menschliches Entscheidungsverhalten und Entscheidungen unter Unsicherheit erhalten. Insbesondere wenn Entscheidungssituationen zu komplex werden, beginnen wir, Heuristiken (auch »Daumenregeln« genannt) anzuwenden, um unsere kognitiven Ressourcen zu schonen. Dabei wird unser Entscheidungsverhalten beispielsweise von der Formulierung der gegebenen Optionen beeinflusst (Tversky?&?Kahneman, 1981). Wenn wir bereits (unbewusst) eine Entscheidung gefällt haben, suchen wir nur noch nach unterstützender Evidenz und blenden widersprüchliche Informationen aus. Wir gewichten Informationen, die wir erst kürzlich erhalten haben, stärker als Informationen, die schon vorher bekannt waren. Wir sehen Zusammenhänge, wo keine sind, sind irrational optimistisch und unterschätzen Unsicherheit systematisch (Mintzberg, Ahlstrand?&?Lampel, 2009).
Zudem verlassen wir uns, wenn eine Entscheidungssituation zu komplex wird, auf Defaults (Johnson?&?Goldstein, 2003). Der Default ist jeweils die Option, die den Standard einer Entscheidung darstellt beziehungsweise daraus resultiert, dass Individuen sich nicht entscheiden. In anderen Worten: Wenn wir uns nicht entscheiden können, welches der nächste Schritt für die Zukunft ist, bleiben wir lieber stehen. Oder wir entscheiden uns für den Schritt, den auch alle anderen gemacht haben. Für Unternehmen bedeutet dies, dass notwendige Veränderungen entweder nicht angegangen werden oder Unternehmen - ohne zu prüfen, ob eine bestimmte Handlung auch tatsächlich zielführend ist - das machen, was alle anderen Unternehmen machen. Zum Beispiel vor dem Hintergrund der Digitalisierung erst einmal einen Think Tank oder Accelerator gründen.
Neben diesen kognitiven Verzerrungen zeigt die Forschung auch, dass sich unser Entscheidungsverhalten ändert, wenn wir Entscheidungen für die Zukunft treffen. Wenn wir für die Zukunft planen, denken wir abstrakter, simplifizieren Zusammenhänge, sehen diese strukturierter und betrachten Situationen unabhängig vom jeweiligen Kontext (Trope?&?Liberman, 2003). Erst wenn Ereignisse näher an die Gegenwart rücken, sehen wir diese konkret, erkennen Komplexität und betrachten den Kontext von Situationen. Basierend auf dieser Annahme konnte beispielsweise Andranik Tumasjan gemeinsam mit Isabell Welpe und Matthias Spörrle zeigen, dass sich Unternehmer vor einem kurzfristigen Planungshorizont eher für eine durchführbare, aber weniger attraktive Geschäftsoption entscheiden, während sie sich bei einem langfristigen Planungshorizont eher für eine attraktive, aber schwer durchführbare Option aussprechen (Tumasjan, Welpe?&?Spörrle, 2013).
Entscheidungen für die Zukunft sind also nicht unbedingt schlechter - manchmal sind mutige Entscheidungen notwendig, für die es auch gut sein kann, noch nicht alle Konsequenzen und Hürden im Detail zu kennen. Unternehmen des Silicon Valley und insbesondere der Unternehmer und Investor Elon Musk (bekannt für PayPal, Tesla und SpaceX) zeigen, was man erreichen kann, wenn man ungeachtet der operativen Hürden versucht, die Zukunft der Menschheit in positiver Weise zu beeinflussen. Man kann zum Beispiel versuchen, ...