Die Stadt lag plötzlich und unvermittelt vor Linc Redmain, als er um die scharfe Nase einer Klippe bog. Er hielt überrascht und beugte sich im Sattel vor. Der staubige mausgraue Wallach unter ihm stellte die Ohren auf und schnaubte leise.
Eine Stadt mitten im wilden Gebirge! Es konnte nicht Tularosa sein. Für eine County-Hauptstadt war diese regellose Anhäufung von Bretterhäusern zu klein und zu schmutzig.
Linc Redmain fasste in leichtem Unbehagen hinter den Hemdkragen und die Bandanna. Er verstand sich auf Städte dieser Art. Er hatte genug raue Camps gesehen - und nur ein blühender Optimist hätte die Stadt dort unten für zahm angesehen.
Er sah ein paar träge Gestalten vor einem etwas größeren Haus inmitten der Town. Das konnte eine Bar sein. In einem Korral am Rande des Ortes standen mindestens dreißig Mustangs. Sonst regte sich nichts Lebendiges.
Zwei Minuten lang saß der Mann still im Sattel. Er war lang aufgeschossen, beinahe hager. Das scharfgemeißelte Raubvogelgesicht hatte die Sonne rotgebrannt. Er trug ein verschossenes Hemd und darüber eine ärmellose Lederjacke. Die Lederhose war abgeschabt und blank - besonders da, wo die beiden Halfter mit den schweren Navy-Colts über sie hinscheuerten.
Jetzt hatte er seinen Entschluss gefasst. Er streifte die dünnen Wildlederhandschuhe ab und öffnete die Gürtelschnallen der Waffengurte, die er überkreuz trug. Er rollte sie zusammen und schob sie in die Satteltaschen. Er nahm einen flachen kleinen Derringer aus der linken Satteltasche, prüfte ihn kurz und steckte ihn innen in den linken Stiefel. Er zupfte die Lederhose so zurecht, dass sie leicht über die Stiefel fiel und die Waffe verbarg. Dann trabte er aus der Deckung der Felsnase und auf das letzte Stück des Weges zur Stadt.
*
Sie hieß Mogul City . so wie der Berg über ihr. Redmain sah es auf einem ausgebleichten Schild. Als er jetzt die schwarzen Maulwurfslöcher in der Flanke des Berges sah, wusste er auch, welche Bedeutung die Stadt früher gehabt hatte. Es waren die typischen Narben, die Goldgräber hinterlassen. Vielleicht war es auch nicht Gold gewesen, sondern Silber, denn ein paar verfallene Hüttenöfen standen noch in einer Bodenfalte. Zweifellos waren sie seit langen Jahren außer Betrieb - zum Tode verurteilt wie die ganze Stadt.
Linc Redmain ritt gleichgültig daran vorbei. Aber ganz so gleichgültig war er nicht, wie er aussah. In bitteren Jahren hatte er es gelernt, jede Art von Kummer im Voraus zu riechen. Hier roch es mächtig. Er las es in den hartäugigen Gesichtern der Männer vor der Bar, die viel zu faul und träge in der Sonne hockten, als dass das echt sein konnte.
Und dann gab es ihm einen Riss. Unwillkürlich wollte er die Rechte zur Hüfte fallen lassen, dorthin, wo sonst die Waffe hing. Ein untersetzter breitschädeliger Mann war wie ein Schatten auf die Veranda der Bar getreten. Er schaute scharf und angespannt zu Linc herüber. Mitten im Schritt verhielt er - dann ging ein Ruck durch seine klobige Gestalt, und er glitt schattengleich wieder in die Bar zurück.
Nur zwei oder drei Sekunden hatten die beiden Männer sich sehen können, und zwischen ihnen lag eine Distanz von hundert Schritten. Aber Linc Redmain hatte den Mann erkannt. Diese Gestalt gab es nur einmal. Er hatte sogar das matte Blinken auf der linken Brust des Mannes gesehen, ehe er wieder in die Bar zurücktrat.
»Foley Bronc!«, murmelte Redmain. »Und ich Narr habe geglaubt, er wäre tot!«
Er verwünschte seinen Leichtsinn, mit dem er die Waffen abgelegt hatte. Plötzlich waren ganz andere Voraussetzungen gegeben. Plötzlich war er nicht mehr ein x-beliebiger Fremder für diese Town, sondern Linc Redmain, der Buscadero. Linc Redmain aus Texas .
Er ritt weiter im gleichen sanften Trab, in der gleichen lässigen und scheinbar gleichgültigen Haltung.
Die Männer vor der Bar starrten Löcher in die Luft. Sie sahen ihn gar nicht. Er war Luft für sie. Immer das alte Spiel, wenn ein Fremder eine Stadt betrat.
Er hielt vor ihnen, saß ab und sagte: »Noch weit bis Tularosa, Gents?«
Ein schieläugiger Bursche mit desperatem Gesicht spie aus, genau vor Lincs Füße. Sein linkes Auge fiel voll auf Lincs Gesicht, während das rechte irgendeinen Punkt jenseits der Straße anpeilte. Plötzlich grinste er: »Sehr weit, Mister. Manche kommen nie dort an.«
Redmain lächelte sanft: »Mächtig witzig, Amigo. Welche Richtung?«
»Immer der Nase nach - solange du noch eine hast!«
Linc zuckte die Achseln: »Ich habe sie schon fünfundzwanzig Jahre. Wüsste nicht, wer sonst Verwendung dafür haben sollte. Gibts hier 'nen Drink?«
»Yeah - für gut zahlende Gäste. Für wen reitest du?«
Redmain seufzte. Er hasste dumme Fragen. Dies war eine. Dennoch antwortete er genauso sanft wie zuvor: »Für mich, Amigo. Nur für mich.«
Er spähte scharf zu den blinden Fenstern der Bar, doch dahinter rührte sich nichts. Nun, Foley Broncs Haupttrumpf war immer seine unendliche Geduld gewesen. Der Mann überstürzte nichts. Er schlug erst zu, wenn er seiner Sache absolut sicher war.
Die Männer neben dem Schieläugigen - es waren drei hartgesichtige Gestalten - rührten sich nicht. Sie sahen aus, als säßen sie schon seit Wochen hier, ohne zu wissen warum.
Plötzlich hing Hufschlag in der Luft. Ein Rudel von Reitern kam aus dem dunklen Loch eines Canons am anderen Ende der Stadt gestürmt. Fünf Reiter in vollem Galopp.
Durch die vier Männer vor der Bar ging ein Ruck. Sie schienen elektrisiert zu sein und Linc völlig vergessen zu haben.
Ein wilder Schrei stieg plötzlich aus der Kehle des vordersten Reiters. Ein Schrei, der Linc Redmain herumriss. Er starrte in das grinsende Gesicht des Reiters, der wie ein Tornado herangewirbelt kam. Ein stoppeliger Dreitagebart bedeckte die Backen des Mannes. Schwarzes Haar kam ungebändigt unter der Hutkrempe hervor. Er zeigte lachend alle Zähne und sah in diesem Moment beinahe hübsch aus.
»Redmain!«, schrie er. »Ich will geradewegs zur Hölle fahren, wenn du uns nicht wie gerufen kommst!«
Der Mann sprang im Galopp ab und mit langem Satz auf Linc Redmain zu. Er streckte beide Hände aus, und Redmain ergriff sie.
»Hallo, Lou!«, murmelte er. »Es ist lange her, seit wir uns gesehen haben!«
»Verdammt lange, Sohn! Komm rein in die gute Stube. Wir werden ein paar Pullen den Hals brechen! Was, zur Hölle, bringt dich her? Woher weißt du, dass ich hier bin?«
»Ich hab's nicht gewusst, Lou. Ich suche jemanden - eine Frau. Meinen Informationen nach müsste sie in Tularosa sein.«
»Eine Frau? Teufel, Teufel! Mit Frauen sollte sich unsereiner gar nicht einlassen. Kenne ich sie?«
»Kaum.«
»Natürlich muss ich sie kennen, wenn sie in Tularosa sein soll! Komme just daher! Der Name?«
»Lou, ich weiß nicht .«
»Nonsens! Wie heißt das hübsche Kind?«
»Doris. Doris Doreen.«
Der schwarzhaarige Mann stieß einen leisen anerkennenden Pfiff aus. »Hui! Das ändert die Sache. Doris Doreen, die berühmte Sängerin. Ihr beide habt was miteinander?«
»Nein, Lou. Es ist . ich habe etwas mit ihr klarzustellen.«
»So so. Sie ist dir durchgebrannt, was? Na, mich gehts nichts an. Komm, Bruderherz, die Flasche wartet! Wetten, dass wir ein paar lustige Wochen vor uns haben?«
*
Die vier Männer vor der Bar betrachteten Linc Redmain mit ganz anderen Augen. Der Schieläugige grinste verlegen und legte Linc die Hand auf die Schulter. »Hättest wahrhaftig gleich sagen können, dass Lou dein Freund ist! Ich dachte, du wärst ein Spitzel!«
Linc zuckte die Achseln. »Gewöhn dir das Denken ab, Amigo. Bei deinem Kopf wird nie was draus.«
Dann schaute er wieder zum Fenster des Saloons. Well - wenn Foley Bronc dort drinnen steckte, konnte er jeden Spaß haben, den er sich wünschte. Jetzt sah das Ding schon anders aus.
Er ließ Lou Haskell den Vortritt. In der Tür bückte er sich und tat, als müsse er etwas an seiner Hose richten. Er hatte die Finger am Kolben des Derringers - aber in dem dämmerigen Raum der Bar war niemand außer einem lehmgesichtigen Mulatten hinter der Theke. Foley Bronc hatte wohl das Lokal geräumt.
Aufatmend richtete er sich auf und setzte sich zu Lou Haskell an den Tisch. Noch zwei Männer kamen herein und nahmen am Nebentisch Platz. Ihnen stand das Gewerbe deutlicher als jedem anderen auf dem Gesicht geschrieben. Sie trugen alle Merkmale schneller und rücksichtsloser Schießer.
Lou Haskell beugte sich jäh vor und fragte lauernd: »Warum hast du dich eben gebückt, Linc? Hier gibts keinen Kummer für dich!«
»Ich habe auch keinen erwartet, Lou. Ist nur 'ne dumme Angewohnheit von mir.«
Haskell lächelte und warf sich in die Brust. »Hast du von mir gelernt, den Trick! Weißt du noch? Kann dir genau sagen, was in deinem Schädel vorgegangen ist, als du meine Stadt gesehen hast. Du hast gedacht: Das ist ein raues Camp. Wenn du umgeschnallt einreitest, wirst du den einen oder anderen harten Boy damit reizen. Also schnallst du ab und steckst den Derringer in den Stiefelschaft - so wie es dir der große alte Häuptling Lou Haskell früher mal beigebracht hat. - Stimmt's, Sonny?«
»Du bist immer noch so klug wie damals, Lou«, nickte Redmain.
»Und trotzdem bist du mir weggelaufen! Warum, damned?«
Redmain schüttelte den Kopf. »Irrtum, Lou. Du hattest es so eilig, dass ich dir nicht folgen konnte - mit einem Loch im Bauch.«
Haskell sprang hoch wie ein Gummiball. Ehrliches Staunen lag auf seiner Miene. »Mit 'nem Loch im Bauch? Du bist verrückt!«
Redmain zuckte die...