Kapitel 4
Die Sonne war gerade untergegangen, als sich die kleine Gruppe auf dem Felsen häufte. Über ihnen spannte sich ein Himmel aus flirrenden Sternen, und das bleiche Licht des Mondes schickte silbrige Schatten über das zerklüftete Gestein. Was vor Stunden noch wie ein kurzfristiges Bollwerk gewirkt hatte, fühlte sich jetzt wie eine Gefängnisinsel an, umgeben von unberechenbarem, tödlichem Sand. Ray saß mit geschlossenen Augen und lauschte. Unter der Oberfläche lag ein Flüstern, ein leises Vibrieren, das sich weder an Zeit noch an Ort hielt. Es war kein lauter Ton, eher eine Ahnung von Bewegung, ein unheilvolles Pochen im Herz der Wüste. Jeder Schlag schien eine Warnung: "Wir sind hier. Und wir kennen dich." Neben ihm legte Mick ein paar Patronen in sein Gewehr. "Die Dinger kommen in der Dunkelheit", murmelte er. "Wenn wir hierbleiben, werden sie uns umzingeln." Sein Blick glitt zu Cathy, die den Arm um Ruby gelegt hatte. "Wir müssen runter." Cathy nickte, obwohl ihr die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Ruby drückte ihre Puppe fest gegen die Brust. Ihre Augen glitzerten, als sie zu Ray aufsah. "Ist es heute noch hungrig?" flüsterte sie.
Ray beugte sich hinunter, strich ihr über die Schulter. "Es ist immer hungrig, Kleines", sagte er leise. "Aber wir sind noch nicht satt." Er richtete den Blick in die Dunkelheit unter ihnen, in jene Höhlen und Risse, aus denen sie jederzeit hervorschnellen konnten. Cal, der Sheriff, gab ein kratziges Signal. Er zeigte auf eine steile Fels Rampe am Rande der Plattform. "Dort drüben ist noch ein Aufstieg", erklärte er. "Wenn wir es schaffen, bis zum höchsten Punkt - den Hügel dort -, könnten wir das Camp da oben sichern." Er nickte in Richtung eines schwachen Lichtes in der Ferne, wo ein verlassenes Firewatch-Tower-Gerüst stand. Mick erhebt sich, trat neben Ray. "Das ist unsere einzige Chance. "Unten auf der Ebene haben wir keine Deckung." Er zeigte auf ein Tal aus glattem Sand, das von rissigen Felsen gesäumt wurde. "Die Wüste ist wie ein Amphitheater - und wir sind die Beute." Langsam machten sie sich bereit. Jeder spürte den schwankenden Boden unter den Füßen, als wollten die Tiefe Kreaturen selbst sie abschütteln. Mit vorsichtigen Schritten kletterten sie die Fels Rampe hinab. Die Dunkelheit verschluckte sie fast vollständig; nur das matte Mondlicht zeichnete schemenhafte Konturen in den Sand.
Plötzlich hallte ein dumpfes Knurren durch die Dunkelheit - nah, sehr nah. Ein kurzer, dröhnender Laut, als würde jemand eine Metalltür zuschlagen. Ruby presste sich dicht an ihre Mutter. Cathy flüsterte: "Hier lang." Sie führte die Gruppe in eine schmale Felsspalte, die sie vor den Schwingungen des Bodens zu schützen schien. Im Innern der Spalte war es fast still, nur einzelne Kiesel steuerten leise Mosaik Klänge auf den staubigen Boden. Ray legte den Finger an die Lippen. "Pssst..." Er lauschte. Dort, wo sie herkamen, rumpelte es erneut - lauter, gieriger. Eine gedachte Vibration lief durch den Fels, und Ray spürte, wie sich etwas tief drunter bewegte, als wolle es den Stein selbst zerreißen, um an sie heranzukommen. "Wir müssen schneller sein", flüsterte Mick. "Wir müssen die Lichtung erreichen, bevor sie den Boden aufreißen", antwortete Ray und schob Cathy sanft voran. Sie tauchten aus der Felsspalte in einen schmalen Streifen Ebene, auf dem nur vereinzelte Büsche wuchsen. Dort lagen Bretter und alte Stahlträger - einst Teil einer Förderanlage, wie es schien. Ein prekäres Labyrinth aus rostigem Metall, Schatten und totem Holz. Ray winkte den anderen zu: "Bleibt in der Deckung!" Langsam bewegten sie sich vorwärts, jeder Schritt eine heikle Balance zwischen Eile und Vorsicht. Die Schaufel des Bulldozers lag in einigen Metern Entfernung. Ray streckte die Hand aus, wollte das Metall berühren, doch im selben Augenblick spürte er ein Zittern im Boden - ein lautes, vibrierendes Poltern, das sich über die Ebene ausbreitete. Mick packte Ray am Arm. "Jetzt!"
Sie rannten. Die Schaufel war erreicht, und Ray schleppte sich an den Stahlträgern vorbei in Richtung Herdstelle eines alten Grubenbetriebs. Im Lärm drang ein schriller Pfiff an sein Ohr - ein Warnruf. Er drehte sich um: Im Schein des Mondlichts erkannte er das glatte, farblose Maul einer Kreatur, das sich wie eine Welle durch den Sand wälzte, gefolgt von Tentakeln, die feucht glänzten. Ray schrie, ballte die Fäuste - doch die Kreatur war schneller. Ein Tentakel packte die Schaufel, riss sie hoch wie ein Stöckchen, und verschwand damit im Sand. Das dumpfe Poltern erhitzte sich zu einem Knurren. Die Gruppe starrte in die Finsternis, wo etwas Großes unter den metallenen Trägern kroch, auf der Suche nach dem verbliebenen Geräuschquell. Cathy schluchzte. Ruby presste sich an sie, hielt die Puppe wie einen Schild. Ray riss Mick an der Jacke. "Rückzug!" brüllte er. "Zurück in die Spalte!"
Sie kämpften sich durch das Trümmerfeld, während das Biest hinter ihnen die verrückten Echos seines eigenen Schnaubens in die Nacht schleuderte. Jeder Meter war ein Kampf um Leben und Tod. Erst als sie wieder in der Felsspalte ankamen, wagten sie, zu atmen. Wer noch stehen konnte, sank erschöpft in den kühlen Fels. Ray hielt die Faust um das Gewehr. Sein Blick war stumpf und entschlossen zugleich. Er wusste: Das war nur der Anfang. Noch würden sie nicht oben sein. Doch solange sie atmeten, bestand eine Chance. Ein bleicher Schimmer kündigte den grauen Morgen an. Die Wüste schwieg, als hätte sie sich an jenes nächtliche Drama verschluckt. Doch Ray spürte die Spannung in der Luft - eine knisternde Erwartung, bevor das Unheil erneut zuschlug. "Wir müssen den Hügel erreichen", sagte er und deutete auf den Umriss des
Firewatch-Towers am Horizont. Die Struktur ragte wie ein stählerner Dolch gegen den Himmel. Von dort aus hätten sie freie Sicht über das Tal und könnten notfalls Signale senden. Mick zog die letzten Patronen aus seiner Tasche, bastelte daran, das Magazin zu laden. "Ich wünschte, wir hätten mehr Feuerkraft", murmelte er. "Oder wenigstens Dynamit."
Ray nickte. "Wir nehmen, was wir kriegen. Jeder Schuss muss sitzen." Cathy tauschte einen Blick mit ihm - Angst und Entschlossenheit kämpften in ihren Augen. Mit zittrigen Fingern streifte sie einen Stofffetzen ihrer Jacke ab und band ihn an einen Stock: eine improvisierte Signalflagge. Vielleicht sah sie sie da oben. Vorsichtig verließen sie die Sicherheit der Spalte. Der Sand unter ihren Stiefeln war kühl und glatt, als hätte man ihn poliert. Kaum ein Geräusch war zu hören, doch das Pochen unter der Oberfläche war deutlicher als je zuvor. Eine Vorahnung von etwas Großem, das erwachte. Sie erreichten den Riss, wo das Biest in den Stahlträgern verschwand. Ein mattes, gelbes Poltern wie von tropfendem Wasser, tief und rhythmisch. Ray hob sein Gewehr, sichtlich hin- und hergerissen zwischen Jagdinstinkt und Schutzinstinkt für die anderen. Mick trat neben ihn. "Es wird Zeit. Wenn wir hier stehen bleiben, werden wir es nicht überleben." Langsam, als würden sie die Luft selber schneiden, bewegten sie sich weiter. Jeder Schritt roch nach Panik. Und doch gingen sie weiter. Nach zwanzig Minuten brachen sie aus dem Trümmerfeld hinaus - auf eine offene Ebene. Kein Baum, kein Busch, nur endloser Sand. In der Ferne funkelte die Stahlkonstruktion des Towers. Dorthin mussten sie.
Ray gab ein Handzeichen. "Geht in zwei Gruppen. "Ich nehme Cathy und Ruby, Mick deckt uns von hinten." Sie setzten sich in Bewegung. Cathy trug Ruby auf den Schultern, Ray sicherte die Flanke. Hinter ihnen ertönte ein leises Grollen - wie eine Melodie aus Blei. Ray wirbelte herum, sah die feine Kontur einer Welle aus Sand, die sich verschob. Ein Schatten, der kriecht. Er nahm Cathy und Ruby an die Hand. "Lauf", rief er. "Schneller!" Mick schoss zweimal in den Sand - die Patronen schlugen mit dumpfem Klang ein, lösten einen kleinen Sandwirbel aus. Das Biest zuckte zurück, ein kurzes Stöhnen. Dann rannte es los, wie ein Wolf, der im Boden jagt - gierig, unaufhaltsam. Ray rannte, zog Cathy und Ruby mit sich. Der Sand unter ihm gab nach, wie ein lebendes Wesen. Jeder Schritt war ein Kampf, ein Aufprall. Er stolperte, fing sich an einem verrosteten Rohr. Cathy fiel, Ruby schrie. Ray packte beide, riss sie hoch. In dem Moment raste das Biest an ihnen vorbei - eine graue Flut aus Tentakeln und Schuppen. Es verfehlte sie um Zentimeter, so nah, dass Ray den fauligen Schweiß auf seiner eigenen Hand spüren konnte. Er drehte sich um, sah Mick, der hinter ihm stand, das Gewehr erhoben. Vier Schüsse krachten hinaus. Viermal zischte das Biest, viermal verlor es kurz den Halt im Sand. Doch es brach nicht, taumelte nur. Ray fasste Cathy am Arm. "Weiter - höher!" Mit letzter Kraft zogen sie sich an den Metallbeinen des Towers hoch, genagelt an den rostigen Leitern, die wie schiefe Todesleitern in die Höhe ragten. Das Biest raste weiter, verließ die Ebene, stieß gegen die Konstruktion. Metall ächzte, schien sich zu verformen. Ruby kauerte sich an Ray, die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Cathy krallte sich in eine Leiterstufe, während Ray nach oben kletterte. Mick folgte ihnen, ballte die Fäuste um die Schrotflinte. Oben angekommen, stellten sie sich wankend auf die kleine Plattform. Der Turm schwankte im Wind. Unter ihnen pulsierte der Boden, als wolle er die Plattform begraben. Cal kam hinter ihnen an. Er legte schwere Metallkästen ab - Konserven, Wasserkanister, ein altes Funkgerät. "Vielleicht kriegen wir ja ein Signal raus...", keuchte er. Ray starrte hinaus über das Tal. Die Sonne warf ihr erstes rotes Schimmern über den Horizont, als sei sie ein warnendes Auge. Unter ihnen versank das Biest im...