Schweitzer Fachinformationen
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Die Geschichte beginnt mit einer traurigen Angelegenheit, es ist nicht zu ändern. Mutter Harms wollte sterben. Und den Tod kümmerte es nicht, dass der Frühling dieses Jahr schon im März den jungen Saft in die alten Weiden am Mühlbach gejagt hatte und nun, zehn Tage vor Ostern, ihre Reiser reif machte zum Pfeifenschneiden. Der Tod vergaß darüber seinen Auftrag nicht.
Aber die Schuljungen von Kummerow kümmerte es. Einen von ihnen, Martin Grambauer, dermaßen, dass er nicht nur alle guten Vorsätze und ein halbes Dutzend Aufträge, sondern auch noch den Tod vergaß.
Um zehn war die Schule aus, letzter Schultag vor den Osterferien. Die Konfirmanden hatten noch eine Stunde dazubleiben, Pastor Breithaupt musste heute die Bengels noch ein letztes Mal am Schopf reißen, die Mädchen noch ein letztes Mal in die Ohrläppchen kneifen, wenn sie die Zehn Gebote mit dem daranhängenden »Was ist das?« durchaus nicht passend zusammenbringen wollten, und einem allzu Begriffsstutzigen den gefürchteten Kleinen Katechismus ein letztes Mal unters Kinn hauen. Das half zwar nichts mehr in dieser Stunde, aber es gehörte nach den Auffassungen, die damals Pastoren und Konsistorium, aber auch Eltern von einem guten Religionsunterricht hatten, zu einer richtigen Prüfung, das hatten die Alten auch so durchmachen müssen als letzte Vorbereitung zum ersten Gang an den Tisch des Herrn.
Die jüngeren Jahrgänge gönnten es den älteren von Herzen, hatten sie doch ihre eigenen Sorgen. Es war so Brauch am letzten Schultag, dass es für die Jungens der erste Tag war, an dem man barfuß lief und im Mühlbach watete. Wer es am längsten aushielt, im Wasser stillzustehen, wurde König und konnte sich unter den Mädchen, die mit Kränzen aus Sumpfdotterblumen am Ufer standen, eine Königin erwählen. Wofür man gern einen Schnupfen, Husten und noch Ärgeres in Kauf nahm. Besonders, wenn es der Pastor ausdrücklich verboten hatte, wie heute. »Von wem ich es erfahre, der kann sich auf etwas gefasst machen!«, hatte er gesagt.
Sie kannten die Musik und wussten vor allem eins: In der Kirche durfte er nicht hauen, in die Schule konnte er drei Wochen lang nicht kommen, so lange waren Ferien. Nachher hatte er es sicher vergessen. Und außerdem war das Heiden-Döpen eine alte Sache.
Pastor Breithaupt warf noch einmal die Strenge seines geistlichen Schulinspektoren-Blicks in die jungen Gesichter und hatte den Eindruck, wenigstens etwas gewirkt zu haben.
»Raus jetzt!« Das war zwar kein feierlicher Abschluss eines Schuljahres, in ihren Ohren jedoch klangen die rauen Worte wie Osterglocken. Wie eine Schar Spatzen flogen sie hinaus.
So, dachte Kantor Kannegießer und wendete sich ebenfalls zur Tür, und jetzt laufen sie alle stracks zum Mühlbach.
Da erscholl wieder des Pastors mächtige Stimme.
»Martin Grambauer!«
Der war schon an der Haustür. Wie eingerammt blieb er stehen, indessen der wirbelnde Strom an ihm vorüberflutete.
»Martin Grambauer!! Hörst du nicht?«
Die Flut trug schon lauter Gischtköpfe aus schadenfrohen Augen. Eine besonders große Welle, der dreizehnjährige Hermann Wendland, rannte den Pfahl sogar an, warf ihn fast um und rief dazu: »Das haste davon!«
Martin trat wieder in die Schulstube.
»Hierher!«, befahl der Pastor. Auf dem Wege zum Katheder überlegte Martin schnell, was er wohl ausgefressen haben konnte: das Fischen im Schwarzen See, das Drehen an der Schleuse, die Fensterscheibe beim Müller, die Kletterpartie auf dem Kirchboden mit Ulrike? Musste der Pastor aber ausgerechnet heute davon anfangen?
Martin schlug die Augen auf und sah sich erneut von einem Gewässer umgeben. Diesmal war es kein stürzender Strom, ein stiller, tückischer Teich wartete darauf, ihn zu verschlingen. Genauso blickten ihn die Konfirmanden an.
Pastor Breithaupt ermahnte ihn nur. »Du bist von jetzt ab Erster, höre ich.« Hört er, ist gut, dachte Martin. Als wenn er es nicht längst gewusst hätte! »Das verpflichtet. Und nicht nur zu dem, was dir Herr Kantor über dein Amt als Kirchenjunge gesagt hat. Also die Lichter anzünden, die Nummern der Lieder anstecken, die Kirchentüren und die Friedhofspforten schließen - nein, es verpflichtet dich überhaupt zur Tugend. Was auch schon dein Name tun sollte. Wobei ich deinen Vornamen meine, nicht deinen Vatersnamen.« Lass bloß meinen Vater in Ruhe, drohte es in Martin. »Ich erwarte also von dir nicht allein, dass du heute dem Mühlbach fernbleibst, das ist selbstverständlich. Ich erwarte auch, dass du die anderen fernhältst. Wie du das machst, das ist deine Sache. Schaffst du es nicht in Güte, na, ich will da weiter nichts sagen. Oder doch nur so viel, dass dort, wo Worte versagen, eine Maulschelle oft Wunder tut. Schaffst du es überhaupt nicht, bist du ein schlapper Wicht. Dann wirst du mir aber alle melden, die meinem Verbot zuwidergehandelt haben.«
Kantor Kannegießer hüstelte rasch zweimal.
»Wie?«, fragte der Pastor und sah ihn an, wendete aber gleich wieder den Blick zu Martin. »Raus jetzt!«
So sehr Martin auch die Augen zusammenkniff, er sah doch, wie der stille Teich unruhig wurde, wie Bläschen aufstiegen und die Oberfläche kräuselten zu schadenfrohem Grinsen. Das hatte er nun davon, der Klookschieter, der durchaus Erster sein wollte, und war nicht mal Elf! Schon spritzte Kichern auf.
Da fuhr ein Donnerschlag aus des Pastors Mund darüber hin: »Euch werde ich das Grinsen schon austreiben. Eine Stunde habe ich euch noch, die werden wir nutzen! Friedrich Kienbaum, wie heißt die sechste Bitte?«
In der Tür noch hörte Martin die Antwort: »Du sollst nicht ehebrechen! Was ist das?«
Da hatte die Schadenfreude aus der Schulstube Martin eingeholt und legte sich auf sein Gesicht. Er blieb an der Tür stehen und lauschte, wie es herrlich auf Friedrich Kienbaums Backe klatschte. Martin taxierte, das war der Kleine Katechismus, der pfiff besser hin als die Hand. Nun schallte Pastor Breithaupts Stimme: »Und so was will an den Tisch des Herrn treten! So was will eingesegnet werden! Die sechste Bitte habe ich verlangt, nicht das sechste Gebot, du Riesenkamel! Elisabeth Fibelkorn, sag du es einmal!«
Die hat vorhin auch gelacht, dachte Martin unbarmherzig, die muss auch welche beziehen!
Da fasste ihn jemand am Arm. Kantor Kannegießer flüsterte: »Aber Martin, du horchst? Kennst du denn nicht das Sprichwort: Der Horcher an der Wand hört seine eigene Schand!?«
»Von mir reden sie nicht«, verteidigte sich der Junge. »Ich wollte bloß hören, ob sie welche kriegt.«
Und während Pastor Breithaupt so seine Not hatte, die Kummerowschen Konfirmandenschädel mit Ziepen und Knuffen an die noch geschlossene Pforte des ernsten Lebens heranzuschubsen, stürmten die anderen Dickschädel nach Hause, ballerten den Schulkram in irgendeine Ecke, rissen sich die Strümpfe herunter und flitzten durch die offenen Hoftore in den lachenden Frühling hinaus.
Kantor Kannegießer zog Martin mit über den Flur in seine Arbeitsstube. »So, nun setz dich mal hin! Wie heißt denn eigentlich die sechste Bitte?« - »Ich muss nach Hause.« Martin sah unruhig nach dem Fenster, durch das die Sonne verführerisch lockte. » >Und führe uns nicht in Versuchung!< Kann ich jetzt gehen?« Er meinte wirklich, auch Kantor Kannegießer sei verrückt und behielte ihn zum Nachsitzen da, weil er Erster geworden war.
»Gleich, Martin, gleich?« Der alte Lehrer sah auf den Jungenkopf vor dem Fenster, wie das weiche Licht durch die langen, hellblonden Haare schimmerte und einen ganz unwirklichen, sanften Glanz darum legte. »Und führe uns nicht in Versuchung - ja, sieh mal, mein Sohn, gerade dazu wollte ich dir noch etwas sagen.«
Der Kantor war aufgestanden und im Zimmer umhergegangen. Es war bestimmt alles Unsinn, was er sich vorgenommen hatte, veranlasst durch den Unsinn des Pastors, einen Jungen nicht nur zur Entsagung von einem alten Brauch zu verpflichten, sondern auch noch zur Angeberei. Wie nur sollte er das einrenken bei diesem Knaben, der deshalb so schwierig war, weil er so einfach war? Es mochte auch noch etwas anderes sein, was in Kantor Kannegießer bremste: Die Erinnerung an einen ähnlichen Jungen vor fünfzig Jahren, der, als er ein Mann geworden war, vor lauter erlernten Lebensregeln vergessen hatte, das Leben herauszufordern und die erkannten Ungerechtigkeiten seiner sogenannten Ordnung zu meistern, der erkennen musste, dass das, was er schließlich regelte, nur noch eine Existenz war.
Martin drehte das Gesicht von dem großen offenen Bücherschrank gegen das Fenster, lauschte und sagte: »Ich muss nun aber gehen.«
Er ist wohl doch in manchem anders, als ich gewesen bin, empfand Kantor Kannegießer, er ist beharrlicher; und es tat ihm nicht leid. Vor der Versuchung aber musste er ihn bewahren, sie lauerte heute in dreifacher Gestalt auf dieses Opfer. Entweder übertrat Martin des Pastors Verbot wie die anderen und log wie die anderen; oder er machte den Versuch, sie gewaltsam vom Heiden-Döpen im kalten Mühlbach abzuhalten, wofür er zwar in des Pastors Achtung steigen, aber von den Kameraden außer Senge noch Spott und Hohn ernten musste; oder er sah...
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