Kapitel 1

Vivi

»Ich habe tolle Neuigkeiten! Ach, was sage ich, es sind grandiose Neuigkeiten!«, überfiel mich meine Managerin Amy, kaum dass ich ihr Büro betreten hatte. Es war kaum größer als eine Abstellkammer, aber immer noch größer als der Verschlag unter der Treppe, in dem Harry Potter sein Dasein hatte fristen müssen, wie Amy stets zu betonen pflegte.

Sie strahlte mich breit grinsend an und ihr gesamter Körper schien vor Aufregung zu vibrieren. Ihre Fingernägel gruben sich tief in das abgewetzte schwarze Leder ihres Schreibtischstuhls, als müsste sie sich daran festklammern, um nicht wie ein Flummi vor mir auf und ab zu hüpfen.

»Okay, ich bin ganz Ohr. Falls es wieder um diese Telenovela geht .« Ich beendete den Satz nicht. Amy wusste auch so, was ich von dieser schnulzigen Serie hielt, für die ich letzte Woche eine Einladung zum Casting erhalten hatte.

Ungeduldig wedelte Amy mit ihrer Hand durch die Luft, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. »Nein, vergiss diesen billigen Schund. Ich habe etwas viel Besseres für dich. Du wirst mich dafür lieben und verehren!«

»Das tue ich doch jetzt schon.« Ich zwinkerte ihr zu, dabei war es nicht einmal gelogen. Amy war für mich Agentin, meine persönliche Cheerleaderin und Freundin in einem.

Sie griff nach einem Stapel gebundenem Papier, aus dem blaue Notizzettel herausragten. In einer beinahe feierlichen Geste überreichte sie mir das Buch und schien dabei den Atem anzuhalten.

Ich las den Filmtitel auf dem Deckblatt laut vor: »Roads?«

»Lies weiter. Wer ist der Regisseur?« Amys Tonlage rutschte zwei Oktaven in die Höhe und erinnerte mehr an ein Quietschen als an Worte.

»Christopher Woods.« In meinem Kopf ratterte es. »Doch nicht der Christopher Woods? Der gefeierte Regisseur mit den meisten Oscarnominierungen seit Menschengedenken?«

Amy konnte sich nicht mehr länger zusammenreißen und hüpfte aufgeregt auf der Stelle auf und ab. »Genau der!«

Mein Mund klappte sprachlos auf und zu. Von so einer Chance träumte ich schon, seitdem ich beschlossen hatte, das Schauspielern zu meinem Beruf zu machen. Das könnte mein Durchbruch sein!

»Und für welche Rolle soll ich vorsprechen?« Ich wollte mir nicht zu große Hoffnungen machen. Am Ende suchten sie nur jemanden für die Rolle der besten Freundin, die nur sporadisch auftauchte und die der Zuschauer schon wieder vergessen hatte, sobald die Haupthandlung Fahrt aufnahm.

»Die Hauptrolle.« Amy flüsterte die Worte, als könnte auch sie nicht glauben, dass sie mir wirklich ein Vorsprechen solchen Ausmaßes organisiert hatte.

Ich fiel ihr um den Hals und gemeinsam hüpften wir im Kreis. Amys blonde Locken kitzelten mich am Kinn, als sie sich wie lose Sprungfedern immer wieder von ihren Schlüsselbeinen ausgehend in die Höhe schraubten. Normalerweise war ich nicht der körperliche Typ, der Küsschen wie Bonbons verteilte und jeden zur Begrüßung in die Arme schloss, doch in diesem Augenblick strömte so viel Energie durch mich hindurch, dass ich dringend ein Ventil dafür benötigte. Als wir schließlich atemlos zum Stehen kamen, fuhr ich mit den Fingerspitzen ehrfürchtig über das Deckblatt des Manuskripts.

»Wo ist der Haken?«, fragte ich, noch immer fest davon überzeugt, dass das alles zu gut klang, um wahr zu sein.

»Das Casting ist bereits übermorgen und die Dreharbeiten starten schon in wenigen Wochen.« Amy ließ mich meine Fassungslosigkeit gar nicht erst in Worte fassen. »Es ist eine riesige Chance! Claire James, die eigentlich geplante Hauptdarstellerin, ist laut offizieller Angabe spontan ausgefallen. Mein Kontakt hat mir allerdings verraten, dass sie anscheinend ein besser bezahltes Angebot erhalten hat und Mr Woods dafür hat sitzen lassen.« Wieder ließ mich Amy nicht zu Wort kommen, sondern redete einfach weiter: »Ich weiß! Total verrückt, die Gute. Na ja, auf jeden Fall hat Mr Woods jetzt wohl erstmal die Nase voll von anmaßenden Hollywood-Sternchen und will die Hauptrollen mit Newcomern neubesetzen.« Sie strahlte mich an.

»Wow, ich sollte Claire James wohl eine Dankeskarte schicken«, brachte ich hervor.

»Du kannst ihr danken, wenn du deinen Oscar für die Rolle der Hauptdarstellerin in Roads entgegennimmst.« Amy grinste mich breit an. Ihre saphirblauen Augen funkelten voller Zuversicht.

Ich schüttelte aufgrund ihres übertriebenen Optimismus den Kopf und wandte mich dem aktuell wohl drängendsten Thema zu. Wenn ich schon übermorgen beim Casting glänzen sollte, musste ich so viel wie möglich über den Film herausfinden und in mich aufsaugen.

»Weißt du, worum es genau in dem Film geht?« Es brannte mir unter den Nägeln, mich sofort in die Geschichte zu vertiefen.

»Es wird dir gefallen, es ist eine Rolle mit Tiefgang. Es geht um Trauerbewältigung, aber auch um die persönliche Entwicklung der Protagonistin Maggie. Zu Beginn des Films stirbt ihre Großmutter, die sie über alles geliebt hat, an Krebs. Maggie versinkt daraufhin in tiefer Trauer. Bei der Testamentsvollstreckung erhält sie überraschenderweise einen Stapel Briefe von ihrer Großmutter. Diese hat vor ihrem Ableben einen Roadtrip durch Amerika für ihre Enkeltochter geplant, um sie von ihrer Trauer abzulenken. In den Briefen finden sich jeweils der nächste Ort und eine Anweisung, was sie dort zu tun hat. Ist das nicht eine total schöne Idee?« Amy legte sich ihre rechte Hand aufs Herz und seufzte.

Obwohl es für meinen Geschmack ein bisschen zu rührselig war, nickte ich bestätigend.

»Ich habe dir die entsprechenden Stellen fürs Vorsprechen markiert. Die erste Szene spielt nach der Testamentsvollstreckung, als Maggie den ersten Brief ihrer Großmutter liest. Das heißt, sie wollen sehen, wie du in ruhigen Szenen agierst und ob du die Gefühle von Maggie gut transportieren kannst.«

Ich blätterte bis zu dem ersten blauen Notizzettel, der zwischen den Seiten hervorlugte. Ich überflog die Passage und versuchte, in Maggies Haut zu schlüpfen. Versuchte, ihren Schmerz zu fühlen, aber auch die unverhoffte Freude darüber, einen Teil ihrer Großmutter in den Briefen wiedergefunden zu haben. Ein letztes Mal ihre Liebe und Wärme zwischen den Zeilen zu lesen.

»Okay, das bekomme ich hin. Was ist mit der zweiten Szene?« Ich überblätterte gut zwei Drittel der Seiten, bevor ich bei dem nächsten blauen Notizzettel angelangt war.

»Es ist eine Szene mit dem männlichen Hauptdarsteller.« Amy nestelte am Verschluss ihrer goldenen Armbanduhr herum.

Nachdem sie zuvor so weit ausgeholt hatte, erschien mir ihre jetzige Szenenbeschreibung verdächtig nichtssagend. Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, als ich die Zeilen überflog. Ich stolperte über die Regieanweisung »Maggie küsst Ben stürmisch«, und aus dem flauen Gefühl wurde ein Knoten.

»Wer ist Ben?«, fragte ich und meine Stimme zitterte leicht.

»Als Maggie zu ihrem Roadtrip aufbricht, gibt ihr Auto gleich im ersten Ort plötzlich den Geist auf. Als sie es in die Werkstatt bringen lässt, lernt sie dort Ben kennen. Er muss beruflich einen Wohnwagen quer durch die Staaten kutschieren und lässt vor der Abfahrt noch mal alles durchchecken. Als Maggie von dem Automechaniker erfährt, dass es Wochen dauern wird, bis das Ersatzteil kommt, bietet Ben ihr eine Mitfahrgelegenheit an. Na ja, und den Rest kannst du dir ja in etwa denken. Bevor du jetzt gleich durchdrehst, die Romanze macht nur einen winzig kleinen Teil der Geschichte aus.« Sie hielt mir Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand vor die Nase und ließ sie mit einem Abstand von wenigen Millimetern übereinander schweben. »Ich weiß, dass du dich mit solchen Szenen nicht wohlfühlst, aber lass das bitte nicht den Grund dafür sein, auf die Chance deines Lebens zu verzichten. Eine Oscarrolle klopft schließlich nicht jeden Tag an die Tür!« Amy sah mich eindringlich an.

Energisch rieb ich mir mit der zur Faust geballten linken Hand über die Brust, um die Enge, die sich dort ausgebreitet hatte, zu vertreiben. Ich wusste selbst, dass ich mir so eine Gelegenheit nicht entgehen lassen durfte.

»Aber mit solchen Szenen habe ich überhaupt keine Erfahrung. Wie soll ich glaubhaft rüberbringen, dass ich total auf diesen Ben stehe?« Ich zog die Stirn kraus und versuchte, sie nicht sehen zu lassen, dass mir alleine bei dem Gedanken an eine mögliche Sexszene der kalte Schweiß ausbrach. Mein Puls beschleunigte sich und mein Brustkorb zog sich wie ein Korsett um mein Herz zusammen.

»Ich habe vorhin Damien angerufen«, sagte Amy und bei ihren...