Schweitzer Fachinformationen
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Im Winter 1992 fuhr ich im Auftrag eines großen deutschen Verlages nach Sylt, um der dort lebenden 76-jährigen Gertrud Wagner beim Aufzeichnen ihrer Erinnerungen zu helfen. Es war ein Projekt, an dem schon mehrere Autoren gescheitert waren, denn fast niemand fand ihren Ton oder war bereit, ihre Geschichte zu glauben, in der sie die eigentliche Gründerin des »Neuen Bayreuth« war und ihr Mann Wieland eine eher untergeordnete Rolle spielte. Auch mir war diese Geschichte zu einfach. Ich wollte es genauer wissen. Darum verbrachte ich viel Zeit in ihrem auf der Tenne eines Bauernhauses gelagerten Archiv, das ich erst einmal provisorisch sortieren musste, eine riesige Sammlung von Briefen, Fotos, Bühnenbildskizzen, Tagebüchern und sonstigen Dokumenten, die bis heute noch nicht annähernd ausgewertet ist.
In diesem Konvolut stieß ich immer wieder auf Briefe und Postkarten einer gewissen Friedelind, ihrer späteren Schwägerin. Sie stammten größtenteils aus den frühen dreißiger Jahren und waren oft mit »Heil Hitler« unterschrieben. Gertrud und Friedelind Wagner waren begeisterte Mitglieder nationalsozialistischer Jugendorganisationen, in denen sie eine Art zweiter Heimat fanden und die Tatsache, dass sie »nur« Mädchen waren, kompensieren konnten. Friedelind hat sich später vom Nationalsozialismus radikal distanziert.
Obwohl diese Briefe von einer engen Freundschaft zeugten - die beiden Mädchen gingen zeitweilig auf dasselbe Gymnasium -, wurde Gertrud Wagners Stimme kalt, wenn ich sie nach Friedelind fragte. Von mehreren kleineren und größeren Skandalen, in die sie verwickelt gewesen sei, war die Rede. Ansonsten: kein Kommentar. Es schien ein tiefes Zerwürfnis gegeben zu haben, dessen Ursachen mir aber damals nicht klar wurden.
Friedelind Wagner war 1991 mit 73 Jahren gestorben. Meine Erinnerung an die Nachrufe in den Zeitungen war also noch frisch. »Enfant terrible«, »schwarzes Schaf«, »Außenseiterin«, »Emigrantin« - das waren Begriffe, die immer wieder vorkamen und mich neugierig machten. Ich fragte Gertrud Wagner deshalb nach Friedelinds Buch, »Nacht über Bayreuth«, der großen Abrechnung mit ihrer Mutter und den Festspielen im Nationalsozialismus, das ich in Köln, wo ich wohne, nirgends auftreiben konnte, weder in einer Bibliothek noch antiquarisch. Nein, das Buch besitze sie nicht, sagte Gertrud Wagner. Sie habe es aus ihrer Bibliothek verbannt. Im Übrigen sei darin »alles gelogen«. Es sei »eine trübe Quelle«. So hieß es später auch in der Biographie, die Renate Schostack über sie schrieb.1
Vor kurzem fand ich in der Bayerischen Staatsbibliothek einen aus dem Jahr 1947 stammenden Brief Gertrud Wagners an Wielands ehemaligen Musiklehrer Kurt Overhoff, in dem sie das Buch ganz anders beurteilt: »Haben Sie ihr Buch gelesen? Wieland und Nickel2 bestätigen Vieles daraus aus ihrer Kindheit als Wahrheit!!! - Im Gegensatz zu Tante Winnie.«3
1993 - Gertrud Wagner und ich hatten nach schweren Meinungsverschiedenheiten beschlossen, unsere gemeinsame Arbeit nicht fortzusetzen - fand ich »Nacht über Bayreuth« dann zufällig doch noch, und zwar im Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt, die damals noch »Deutsche Bibliothek« hieß. Es war ein abgewetztes Exemplar aus dem Jahr 1945, die bei Hallwag/Bern erschienene deutsche Übersetzung des englischen Buchs »Heritage of Fire«. Ich entlieh das Buch und verschlang es. Las über die greise Großmutter Cosima, die skurrilen Tanten Daniela und Eva, die alles dominierende Mutter Winifred, den freundlichen, aber wenig durchsetzungsfähigen Vater Siegfried, über Haus Wahnfried als Abenteuerspielplatz, das erste Erscheinen des »Führers«, die Festspiele in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, die hochdramatische Mutter-Tochter-Beziehung und den Entschluss Friedelinds, Deutschland zu verlassen. Manche Nebenfiguren kamen mir blass oder auch stark überzeichnet, manche Dialoge etwas zu lang vor. Aber es gab Szenen von fast filmischer Präsenz und Plastizität, besonders Friedelinds Besuche in der Reichskanzlei oder die privaten Auftritte Hitlers am Rand der Festspiele.
Das Buch war für mich ein wichtiges Zeitdokument, und da es fast nirgends mehr greifbar war, begann ich, über die Möglichkeit eines Reprints nachzudenken. Ein junger Verleger und Autor - Volker Dittrich in Köln - war von dieser Idee sofort angetan und nahm mit Hallwag/Bern Kontakt wegen der Rechte auf. Die Antwort kam schnell. Nein, keine Einwände. Das Buch sei seit langem vergriffen und eine Neuauflage nicht geplant. Von Nachfahren oder Erben war nicht die Rede. Und da es immer hieß, Friedelind sei unverheiratet und kinderlos gewesen, recherchierten wir in dieser Richtung auch nicht weiter.
Was wir nicht wussten: sie hatte doch einen Erben, einen ehemaligen Schüler ihrer englischen Meisterklassen, Neill Thornborrow, der heute eine Konzert- und Theateragentur in Düsseldorf betreibt. Als sie Ende der siebziger Jahre von England nach Deutschland zurückging, kam er mit. Er war Pianist und arbeitete am Stadttheater Regensburg als Korrepetitor. Friedelind Wagner machte ihn zu ihrem Universalerben und übergab ihm ihr großes Archiv, in dem sich Briefschaften aus mehr als sechs Jahrzehnten befanden. Da er bislang nie damit an die Öffentlichkeit getreten war und auch nichts daraus publiziert hatte, konnten wir von diesen Hintergründen nichts ahnen. Erst im Jahr 2008, als ein heftiger Streit um die Nachfolge Wolfgang Wagners entbrannte, war sein Namen öfter im Zusammenhang mit den Festspielen zu lesen, da er als potentieller Kandidat oder Mit-Kandidat gehandelt wurde. Der Berliner »Tagesspiegel« bezeichnete ihn als »weder blutsverwandt(en) noch adoptiert(en)« Erben Friedelind Wagners,4 der »Spiegel« hingegen als ihren »Sohn«.5 Friedelinds Nichte Nike Wagner weist auf eine starke Familienähnlichkeit hin: »ein zartes, aber ausgeprägtes Wagnerprofil, wie mit dem Silberstift nachgezogen.«6
Noch bevor das Reprint von »Nacht über Bayreuth« auf dem Markt war - es war lediglich im »Börsenblatt des deutschen Buchhandels« angekündigt - bekam Volker Dittrich Post von der Hamburger Anwaltskanzlei Servatius, die Friedelind Wagners Interessen schon in den sechziger Jahren vertreten hatte.7 Sie vertrat inzwischen auch ihren Erben, Neill Thornborrow also, und gab sich als Friedelinds »Testamentsvollstreckerin« zu erkennen. Volker Dittrich wurde aufgefordert, »die Veröffentlichung der Neuauflage . mit sofortiger Wirkung zu unterlassen«, andernfalls habe er mit gerichtlichen Maßnahmen zu rechnen, die dann auch ergriffen wurden.8 Der Gegenanwalt wies das Gericht auf § 2216 BGB hin, nach dem es zu den gesetzlichen Pflichten eines Testamentsvollstreckers gehöre, die angemessene Nutzung des ihm anvertrauten Nachlasses zu gewährleisten. Das tue er aber nicht, wenn er verhindere oder zu verhindern versuche, dass »ein von der Erblasserin im Exil geschaffenes und lange Zeit in Vergessenheit geratenes Werk einem deutschsprachigen Publikum zugänglich« gemacht werde.9
Nach langem Hin und Her und viel Streit über Einzelheiten durfte das Buch 1994 schließlich doch erscheinen und ist seitdem wieder im Handel erhältlich, auch in Fremdsprachen. Es wurde in der Presse viel diskutiert und all die alten Klischees oder Etiketten - »enfant terrible«, »schwarzes Schaf« etc. - kamen dabei wieder auf den Tisch. Eine seriöse Auseinandersetzung fand nicht statt.
Seit Mitte der neunziger Jahre erschienen viele familienbiographische Bücher über die Wagners, die zum Teil von der Familie selbst, zum Teil von »externen« Autoren stammten: Gottfried Wagners »Wer nicht mit dem Wolf heult«,10 Wolfgang Wagners »Lebens-Akte«,11 Nike Wagners »Wagner Theater«,12 Renate Schostacks »Hinter Wahnfrieds Mauern«,13 Brigitte Hamanns »Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth«,14 Oliver Hilmes' »Cosimas Kinder«15 und Jonathan Carrs »Der Wagner-Clan«.16 In allen diesen Büchern kommt Friedelind vor, aber immer nur als Nebenfigur, manchmal mit Sympathie, manchmal mit Aggressivität beschrieben und fast zur bösartigen Karikatur überzeichnet.
Als ich 2011, zwanzig Jahre nach ihrem Tod, feststellen musste, dass es immer noch keine Biographie über sie gab und dass alte Bayreuther, die man nach ihr fragte, immer noch schweigsam oder gar feindselig reagierten, beschloss ich, Neill Thornborrow noch einmal anzusprechen.
Seine Antwort war klar und ablehnend. Kein Zugang zu seinem Archiv. Jedenfalls nicht für mich. Den Zugang habe schon eine Kollegin, Eva Rieger, die er voll unterstütze. Diese Reaktion erschreckte mich nicht, denn ich wusste ja, dass die Quellenlage schwierig sein...
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