Schweitzer Fachinformationen
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Auf der Strecke
Der Smalltalker
Wortbewegungsmittel
Im Zug nach Regensburg bekam ich einmal eine haarsträubende Geschichte aufgetischt, und das frei Haus: Die Großtante des Erzählers, die übrigens aus Weimar stammt beziehungsweise eigentlich aus Süßenborn, einer winzigen Gemeinde in der Region mit einem Gewerbegebiet an der B 7, einer Kirche aus dem 12. Jahrhundert, einem eigenen Ortsteilbürgermeister und dem weltweit ersten Fundort des Steppenmammuts .
Diese Großtante jedenfalls soll angeblich eine Affäre mit niemand Geringerem als Helmut Kohl gehabt haben! Ich war skeptisch, aber natürlich zugleich neugierig und deshalb ganz Ohr, um keine Einzelheit zu verpassen. Erst am Ende des darauffolgenden quälend ausführlichen Berichts stellte sich heraus, dass der Helmuth Kohl in dieser Geschichte offenbar mit zwei H geschrieben wurde, einem vorne und einem hinten, und darüber hinaus Garten- und Landschaftsgestalter aus Lörrach war.
Smalltalk gilt über Ländergrenzen hinaus als die hohe Kunst gepflegter Oberflächlichkeit. Denn nicht jeder besitzt das Geschick, die Geduld seines Gesprächspartners mit Nebensächlichkeiten auf die Probe zu stellen, während gleichzeitig der Anschein erweckt wird, die angesprochenen Themen seien von herausragender Bedeutung. Nicht wenige Smalltalker (Chitchaterus superficialis) haben es zur regelrechten Meisterschaft gebracht, und die lässt sich allein durch jahrelanges Training erklären.
Wie eine Klette heftet sich der Smalltalker an arglose Passagiere. Als Meister des nie enden wollenden Redeflusses kennt er weder Punkt noch Komma oder Atempausen. Kaum in seine Fänge geraten, ist man dem bedauernswerten Schicksal ausgeliefert, ihm über den Großteil der Reise hinweg zuhören zu müssen - oder genauer gesagt, ihm dabei zuzuhören, wie er sich selbst reden hört. Seine Sätze gleichen einer kunterbunten Artistentruppe aus Worthülsen, die atemlos durch die Luft wirbeln, ohne je in geordneter Formation zu landen.
Schon bevor der Zug überhaupt losfährt, wirft der Smalltalker auf der Suche nach einem nichtsahnenden Gesprächspartner die Leinen aus. Sein Blick wandert durch die Sitzreihen: Vielleicht trägt jemand eine auffällige Jacke oder liest ein interessantes Buch? Dann geht er zum Plauderangriff über. »Entschuldigung, störe ich vielleicht?«, fragt er mit gespielt unschuldiger Miene, während er sich im Sitz nebenan niederlässt und natürlich genau weiß, dass er stört.
»Sorry, aber ich muss Sie einfach fragen: Was lesen Sie denn da Spannendes?«
Anschließend nimmt er den Fahrgast in die Mangel und bohrt mit Fragen nach Herkunft und Beruf. Feedback des Zuhörers ist dabei weder erforderlich noch gewünscht, denn der Smalltalker nutzt sein geheucheltes Interesse lediglich als Sprungbrett, um von sich selbst zu berichten.
Jede Geste aufseiten seines Publikums missversteht er als Einladung für eine weitere Anekdote aus seinem schier unerschöpflichen Erfahrungsschatz. Wie ein Schneepflug arbeitet er sich durch alle erdenklichen Themen, die ihm in den Sinn kommen, und breitet sein gesamtes aufregendes Leben aus wie ein versierter Flohmarkthändler den Trödel. Neben Klatsch und Tratsch, Familie, Nachbarn und Job lässt er auch Politik, Religion und Sex nicht unerwähnt. Seine Weisheiten sind so beliebig wie ein Instagram-Like, oft angelesen oder aus zweiter Hand.
Dabei neigt er gerne zu Allgemeinplätzen. Floskeln wie: »Das ist ja auch immer so eine Sache .« oder: »Meine Herren, neulich die Grünen in Bremen wieder .« lassen den Tiefgang seiner Ausführungen erahnen.
Von seiner Sammelleidenschaft für Kühlschrankmagnete aus sozialistischen Ländern bis hin zu den Tücken seiner Verdauung, die ihn alle halbe Stunde zur Toilette rufen (deren Erfolgsbericht er Ihnen selbstverständlich nicht vorenthalten wird) - der Smalltalker kennt keine Grenzen, wenn es darum geht, Privates mit Wildfremden zu teilen.
Er macht viel Wind über die Cousine, die sich vor Kurzem ein nagelneues Auto gekauft hat, das offenbar rot ist und vier Räder besitzt, und trägt bierernst seine auf schlechter Erfahrung beruhende Erkenntnis vor, dass man in Kenia den Rotwein nicht trinken könne. Neulich zwang er mir sogar die Lebensgeschichte von Britta auf - Britta machte dies, Britta machte das, Britta, Britta, Britta! Sie fragen: Wer in Gottes Namen ist diese Britta? Woher zum Teufel soll ich das wissen?
Der Smalltalker tritt in den verschiedensten Gestalten auf: als junger Backpacker, der von seinen Abenteuern in Französisch-Polynesien schwärmt; als passionierter Hobbykoch, der sein Rezept für selbst gemachte Ziegenfrischkäsemousse mit Kürbispesto erläutert; oder als ältere Dame, die von ihrer letzten Städtereise berichtet (ein winziger Ort in Südtirol, in dem es nur eine einzige Ampel gibt), von ihren Hobbys (Flamingofiguren) und anderweitigen Interessen (Haare von Prominenten sammeln). Alle eint der Wunsch, ihre Geschichten zum Besten zu geben und obendrein ihre und unsere Zeit während der langen Fahrt totzuschlagen.
Die Großtante aus Süßenborn ging am Ende übrigens sogar den heiligen Bund der Ehe mit dem Garten- und Landschaftsgestalter Helmuth Kohl aus Lörrach ein, weil der die Fingerfertigkeit beherrschte, ihren Schrebergarten in kürzester Zeit in blühende Landschaften zu verwandeln.
Der Musikfreund
Nachhalleluja!
Im Doppelstockwaggon von Magdeburg nach Dresden flackert milchiges Sonnenlicht durch die unscharf vorbeiziehenden Baumkronen hinter dem Fenster. Zwei Sitze von mir entfernt hat ein junger Mann Platz genommen, einen abgewetzten Lederranzen neben sich. In »What's Love Got to Do with It, Got to Do With It?« auf seinem Display versunken, wippen seine verstrubbelten Haare im Takt, während sich ein entrücktes Lächeln von einem Ohr zum anderen zieht. Seine ungebremste Begeisterung für Tina Turners kraftvolle Stimme will er unter keinen Umständen eigennützig für sich behalten, weshalb er auf Kopfhörer verzichtet.
Wenn absolute Stille Musik in Ihren Ohren ist, sollten Sie den Musikfreund (Melomanus decibellus obturator) um jeden Preis meiden. Der selbst ernannte Tonkünstler fühlt sich nämlich dazu berufen, seine handverlesenen musikalischen Preziosen dem gesamten Abteil aufs Ohr zu drücken. Ob Rap, Reggae oder Punk - als ausgemachter Kenner vielfältiger Genres kennt er keine Schranken und präsentiert seine Klanglandschaft mit der Inbrunst des geborenen Entertainers. Sein künstlerisches Selbstbewusstsein misst sich in Dezibel.
In der harmloseren Variante verschanzt er sich zwar hinter seinem Headset, summt Melodien und Texte dabei jedoch deutlich hörbar mit - eine Geräuschkulisse, die für viele Passagiere bereits an der Grenze des Erträglichen kratzt.
Im weitaus schlimmeren Fall erhebt der Musikfreund seine Leidenschaft hingegen zum öffentlichen Ärgernis, sobald er das Smartphone mit seiner Bluetooth-Box koppelt. Unbarmherzig hämmern dann die auf Maximum geregelten Lieblingssongs in die Hörkanäle aller Anwesenden, denen die Flucht vor seinem akustischen Bombardement verwehrt bleibt.
Die Reaktionen sind so gemischt wie seine Musikauswahl: Während die Fensterscheiben fröhlich im Takt der Bässe vibrieren, pressen einige konsterniert die Lippen zusammen. Manche trommeln rhythmisch auf den Klapptischen, was ihre heimliche Begeisterung für den aufgelegten Beat nahelegt. Andere wiederum verhalten sich, als litten sie unter akutem Hörsturz, und zeigen nicht die geringste Regung.
Speziell ausgewiesene Ruhezonen, in denen das Abspielen von Musik auf mobilen Geräten nach den Angaben der Deutschen Bahn zwar »nicht erwünscht«, aber auch nicht untersagt ist, werden für den leidenschaftlichen Musikfreund als Einladung zur Auflehnung gegen das Establishment im Allgemeinen und im Zugabteil im Speziellen verstanden. Die Lärmschutzgesetzgebung ist für ihn eine überflüssige Barriere auf dem steinigen Weg zur uneingeschränkten Selbstentfaltung. Die Empörung der anderen Fahrgäste, die vergeblich auf eine ruhige Fahrt hoffen, nimmt er gelassen in Kauf.
»Kann es, verehrtes Hohes Gericht, ein Verbrechen sein, guten Geschmack sein Eigen zu nennen?« Für den geborenen Connaisseur läge das eigentliche Verbrechen doch zweifellos eher darin, der Schienenwelt seinen ausgezeichneten Geschmack vorzuenthalten. Mit theatralischer Geste wirft er im Gerichtssaal die Hände in die Luft: »Wenn dem so ist, Herr Richter, bekenne ich mich schuldig im Sinne der Anklage!«
Belanglose Unterhaltungen werden in den Ohren des Musikfreunds ohnehin überbewertet. Das Repertoire seiner in stundenlanger Kleinarbeit erstellten Playlistperlen reicht von Thrash Metal und Grindcore über Rock und Pop, von R&B und Hip-Hop über Techno und...
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