Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ein stürmischer Morgen auf Sylt. Am Strand vor Westerland wird die Leiche einer jungen Frau gefunden, die offensichtlich brutal ermordet wurde. Als Liv Lammers von der Mordkommission Flensburg davon hört, gefriert ihr das Blut in den Adern: Kurz zuvor hatte ihr 15-jähriger Neffe aus Sylt sie um Hilfe gebeten, weil er seine Freundin vermisst. Handelt es sich bei der Toten um Milena? Und wer hätte ihr etwas antun wollen? Liv, die vor Jahren mit ihrer Sylter Familie und ihrer alten Heimat gebrochen hat, wird mit dem Fall betraut. Zum ersten Mal seit langer Zeit fährt sie wieder auf die Insel - und ist schockiert darüber, wie sehr sie sich inzwischen verändert hat. Doch niemals hätte sie auch nur geahnt, welch grauenvolle Abgründe sich hinter der schillernden Urlaubsfassade auftun ...
Flensburg, Montag, 2. Mai 2016, 6.05 Uhr
Das T-Shirt klebte an ihrem Rücken. Livs Hände waren heiß und rot, und ihr Körper schien zu vibrieren. Ein Schweißtropfen löste sich unter dem Kopfhörer und rann ihren Hals hinunter, doch sie merkte es kaum. Wie in Trance ließ sie die Sticks über Snares und Toms tanzen. Mancher Schlagzeuger mochte ein elektronisches Schlagzeug für unsexy halten, aber für sie war es perfekt. Technisch waren Sound und Spielgefühl der E-Drums ohnehin ausgereift.
Bis fünf Uhr morgens war sie in der Polizeidirektion gewesen. Gestern am späten Nachmittag waren sie in eine Kneipe in der Neustadt gerufen worden: tätliche Auseinandersetzung mit Todesfolge. Der Täter war nach der Messerstecherei geflüchtet. In einem gestohlenen Auto lieferte er sich mit ihnen eine Verfolgungsjagd bis nach Handewitt. Liv war in dem Team, das ihn schließlich festnahm. Stundenlang hatten sie die Zeugen vernommen, und inzwischen konnte die Beweislage als gesichert gelten.
Jetzt schaltete Liv ihr Metronom ein und begann auf »Klick« zu spielen, was eine fast meditative Übung war. Präzision und Kontrolle waren nach dem Auspowern beim wilden Trommeln genau das Richtige. Nachdenklich strich sie mit den Sticks über die Felle.
Erst im Winter war sie zur Bezirkskriminalinspektion K1, wie die Mordkommission in Flensburg offiziell hieß, gekommen. Im letzten Jahr hatte sie das K1-Team bei einem Fall von häuslicher Gewalt unterstützt, und nach Abschluss des Falls war sie von der K1-Leiterin Hilke Hasselbrecht eingeladen worden, sich auf eine frei werdende Stelle zu bewerben. Liv hatte der Teamgeist im K1 gefallen, und sie mochte die resolute und unkonventionelle Leiterin. Hasselbrecht hatte sich von Anfang an hinter Liv gestellt, auch als einige Kommissare kritisierten, dass sie mit ihren neunundzwanzig Jahren zu jung sei; bei der Mordkommission seien Lebenserfahrung und Menschenkenntnis gefordert. Liv spornte die Kritik nur noch mehr an. Die Berufung in die Mordkommission war eine Chance, mit der sie nie gerechnet hatte, und sie würde sie nutzen. Sie würde beweisen, dass sie der Aufgabe gewachsen war.
Als Einstimmung auf den neuen Tag spielte sie ihr Lieblings-Reggae-Stück, danach schaltete sie die E-Drums aus. Erst jetzt nahm sie das Knurren ihres Magens und die Schwere ihrer Glieder wahr. Die Nacht saß ihr in den Knochen.
Liv nahm die Kopfhörer ab und rieb sich die Ohrmuscheln. Aus dem Obergeschoss drangen Stimmen und das Klappern von Tellern zu ihr. Eilig stieg sie die schmale Kellertreppe des Kapitänshauses, in dem sie zur Miete wohnten, hoch. Jetzt freute sie sich auf Sanna und Elise.
Sie war sehr früh, bereits mit sechzehn, Mutter geworden, und die ersten Jahre waren damals hart gewesen. Als Jugendliche, die Baby, Schule und Ausbildung unter einen Hut bekommen musste, waren Müdigkeit und Zeitdruck ihre ständigen Begleiter gewesen. Ihr Perfektionismus machte ihr das Leben ebenfalls nicht gerade leicht. Und dennoch hatte sie nie daran gezweifelt, dass sie alles schaffen würde. Denn sie war nicht allein. Sie hatte Sanna, ihre Tochter, und sie hatte ihre Großmutter Elise, die damals als Einzige zu ihr gehalten und sie unterstützt hatte. Mit den beiden an ihrer Seite erschien nichts unerreichbar. Ihre Familie war ihr Kraftzentrum.
Als Liv ins Wohnzimmer trat, deckte Sanna gerade den Frühstückstisch. Durch die breite Fensterfront wirkte der Raum mit der offenen Küche hell und freundlich. An den Wänden reihten sich Kinderzeichnungen an Konzertplakate, neben dem Sofa gesellte sich Elises Strickzeug zu Livs CD-Sammlung, Sannas Mangas und ihrer gemeinsamen Büchersammlung.
Sanna drehte sich um, entdeckte ihre Mutter und umarmte sie. Die Vierzehnjährige war nur noch einen Kopf kleiner als Liv. Sie hatten beide rötlich blonde Haare, Sommersprossen und ein energisches Kinn. Als Jugendliche hatte man Liv wegen ihrer schlanken hochgewachsenen Statur Giraffe genannt, aber inzwischen galt sie eher als elfenhaft. Sie bemühte sich, die Einflüsse von Sannas Erzeuger zu ignorieren. Als Sanna vor einigen Jahren nach ihrem Vater gefragt hatte, hatte Liv versprochen, ihr den Namen zu nennen, sobald sie sechzehn wurde. Daher würde Sanna in zwei Jahren selbst entscheiden können, ob sie Kontakt zu ihm aufnehmen wollte.
Sanna hatte pinkfarbene Haarsträhnchen, die Fingernägel waren marineblau. Sie hatte Wimperntusche aufgelegt, obgleich Schminken in ihrer Klassenstufe verboten und auch Liv dagegen war. Kein Diskussionspunkt für heute Morgen - so müde, wie Liv war, würde sie nur den falschen Ton treffen.
»Alles in Ordnung, Mam?«, fragte Sanna besorgt.
Statt einer Antwort drückte Liv ihre Tochter fest an sich. In diesem Augenblick kam Elise aus dem Hauswirtschaftsraum, eine Packung Hundeflocken in den Händen. Zorro, der kniehohe Mischling, den Sanna bei einem Campingurlaub am Strand aufgelesen hatte, tänzelte um die Füße der alten Dame. Elise war Mitte siebzig. Die grauen Haare trug sie flott gestuft, die gepflegte Kleidung wurde von einer Schürze geschützt, auf der »Flensburg ist wie Payback - ab acht Punkte gibt's ein Fahrrad« stand - ein Gewinn beim Bingo. Elise war das, was man eine Seele von Mensch nannte. Sie hatte nicht nur Liv in ihrer schwierigsten Zeit beigestanden, sondern sich auch um Sanna gekümmert, während Liv die Schule beendet und ihre Ausbildung angetreten hatte. Für Liv war Elise dadurch ein Mutterersatz und eine Freundin geworden, für Sanna war sie »Ticktack-Oma« und Zweitmutter zugleich.
»Ohaueha, war wohl eine heftige Nacht«, meinte Elise bei Livs Anblick.
»Sieht man mir das etwa an?«
Elise wies zum Tisch, auf dem die Tageszeitung lag. »Das nicht, aber die Schreiberlinge machen einen ganz schönen Stahoi .«
Die Schlagzeile sprang Liv schon von Weitem an: Messerstecherei in der Neustadt. In der beinahe genauso fett gedruckten Unterzeile hieß es: Polizei verhaftet Täter nach spektakulärer Verfolgungsjagd. Auch das Foto war dramatisch. Es zeigte, wie Livs Kollege Andreas die Waffe im Anschlag hielt und sie selbst beruhigend auf den Messerstecher einredete. Liv hatte keinen Fotografen gesehen. Ein Anwohner musste das Bild aus seiner Wohnung heraus geschossen haben, denn die Qualität war schlecht. Ihre Namen wurden im Text genannt, was vermutlich zu einigem Wirbel auf der Wache führen würde. Bei der Mordkommission wurde erwartet, dass man sich bedeckt hielt. Gespräche mit Journalisten überließ man dem Pressesprecher. An die Öffentlichkeit trat man höchstens nach der Pensionierung, um in einem Buch über die spektakulärsten Fälle zu berichten. Wer ausscherte, musste mit Unannehmlichkeiten rechnen; Spott war das Geringste, der Vertrauensverlust wog schwerer.
Gespannt sahen Elise und Sanna sie an.
»Lasst uns erst mal frühstücken. Ich will hören, was bei euch so los war«, lenkte Liv ab.
Als Sanna eine halbe Stunde später zur Schule wollte, klingelte im Flur das Telefon. Im Vorbeigehen nahm sie ab.
»Moinsen, Sanna Lammers«, meldete Sanna sich und lauschte ernst. Dann hielt sie den Hörer an ihre Brust, sodass die Sprechmuschel zugedeckt war, und wandte sich Liv zu. In ihrem Gesicht zeichneten sich Überraschung und Entrüstung ab.
»Da ist ein Jan. Er ruft von Sylt an und will seine Tante Liv sprechen.« Empört fragte Sanna: »Ich habe einen Cousin? Warum erfahre ich erst jetzt davon?!«
Liv war zu verblüfft, um etwas zu erwidern. Seit vierzehn Jahren hatte sie nichts von ihrer Familie auf Sylt gehört. Der Bruch war unvermeidbar und endgültig gewesen - jedenfalls hatte sie das damals gedacht. Mit einem Mal überrollten sie Erinnerungen und Gefühle - eine Slideshow im Schnelldurchlauf. Ihre Familie. Ihre Freunde. Sylt. Ihre Heimat und gleichzeitig verbotenes Land.
Elise sah vom Esstisch auf, ebenso überrumpelt. Auch für sie war der Bruch mit der Familie schwer gewesen. Sanna stürmte hinaus; heute Abend war wohl eine Erklärung fällig.
Liv lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Ihr Körper war starr vor Abwehr. Dann holte sie tief Luft und nahm den Hörer.
»Liv hier.«
»War das da eben meine Cousine? Wieso hat mir niemand gesagt, dass ich eine Cousine habe?« Die Stimme klang angenehm tief, der Tonfall ein wenig unsicher. Ein Jugendlicher, in Sannas Alter, und er klang genauso vorwurfsvoll.
»Das bin ich eben schon gefragt worden.«
»Wie heißt sie? Meine Cousine.«
»Sanna.«
»Krass.«
Was war daran krass?
»Hallo, Jan«, sagte Liv in dem Versuch, ein normales Gespräch zu beginnen. »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch ein Baby .«
Elise erhob sich und deckte den Tisch ab. Ihre Hände zitterten.
Der Junge stieß die Luft aus. War das ein Lachen? »Ich kann mich nicht daran erinnern.«
»Natürlich nicht.«
Stille. Wind rauschte am anderen Ende der Leitung - Jan schien irgendwo draußen zu sein. Unwillkürlich weitete sich Livs Herz. Der Nordseewind war anders als die schwachen Brisen an der Ostsee. Sie mochte Flensburg und diesen äußersten Zipfel Deutschlands. Die sanfte, hügelige Landschaft mit ihren vielfarbigen Knicken. Das türkis schimmernde Wasser der Förde im Sommer. Den Blick über die hellgelben Rapsfelder bis nach Dänemark. Aber die Nordsee gehörte zu den Dingen, die sie wirklich vermisste. Sie trug sie in ihren Genen, in ihrem Herzen.
Doch warum rief Jan an? Was war geschehen? Und warum jetzt?
»Ich habe Ihr . dein Bild in der Zeitung gesehen. Mutter hat so was gesagt wie: >Typisch meine Schwester, muss sich immer in den Vordergrund drängen.< Dann hat sie die Zeitung ungelesen in den Feuerkorb neben dem Kamin geworfen....
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.