Schweitzer Fachinformationen
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Locarno, vor drei Monaten
Mein Telefon klingelte, als ich in einer Pause zusammen mit Georg, der fürs Radio arbeitete und den ich seit Jahren kannte, an der Bar im Pressezentrum stand, bei Schinken-Käse-Toast und Mineralwasser.
Vom Display wurde angezeigt, dass Anne anrief. Ich steckte das Telefon zurück in die Tasche, es schien mir unsinnig abzunehmen, in der hektischen Bar, außerdem begann in zehn Minuten der nächste Film. Georg trank Bier, was ich angesichts der Hitze für gewagt hielt. Wir hatten gerade Five easy pieces aus der Nicholson-Retrospektive gesehen, siebziger Jahre, den wir natürlich kannten, aber uns noch mal gönnen wollten, sozusagen als Privatvergnügen. Nicholson in der Rolle dieses komplett Entwurzelten, der keine Bindungen eingehen konnte, weder beruflich noch privat, ein Verlorener, unzufrieden mit sich und der Welt, früher Konzertpianist, dann Arbeiter auf einem Ölfeld. Am Ende ist er zusammen mit seiner Freundin im Auto auf der Rückfahrt von einem ziemlich bitteren Besuch bei seinem Vater, zu dem er jahrelang keinen Kontakt hatte, weil sie sich von Anfang an nicht verstanden. Mitten im Nirgendwo stoppt er an einer Tankstelle, geht zur Toilette, seine Freundin bleibt im Wagen sitzen, schaut im Waschraum lange in den Spiegel, geht wieder nach draußen, spricht spontan mit einem Lkw-Fahrer, der zufällig zwischen ihm und seinem Wagen geparkt hat, passt auf, dass ihn seine Freundin nicht bemerkt, steigt auf der Beifahrerseite in den Lkw, nur mit den Sachen, die er am Leib trägt, und fährt davon, irgendwohin, während sich seine Freundin im Wagen an der Zapfsäule wundert, wo er nur so lange bleibt.
Wir fanden den Film immer noch grandios.
Weil ich mich für die nächste Vorstellung beeilen musste, verabredete ich mich mit Georg für später in meiner Stammbar bei Michele.
Anne rief ich am frühen Abend zurück. Ich fühlte mich nicht wohl, wahrscheinlich wegen der Hitze, es waren noch über dreißig Grad. Mein Hemd klebte am Rücken, ich schwitzte am ganzen Körper, sogar meine Brille war schmierig. Idiotischerweise versuchte ich, die Gläser mit dem Hemd sauber zu reiben. Außerdem hatte ich wieder schlecht geschlafen, wie schon die ganzen Tage. Es hatte ein Versehen in unserem Redaktionssekretariat gegeben, das ein Zimmer für mich buchen sollte, was die letzten Jahre auch problemlos geklappt hatte. Albergo La Quiete, wo ich mich immer sehr wohlfühlte. Als ich nachfragte, weil noch keine Reservierungsbestätigung bei mir eingegangen war, bemerkte die Sekretärin, dass ich vergessen worden war. Die Albergo längst ausgebucht, woran auch ein sofortiger Anruf von mir nichts änderte. Maria, die mich von den letzten Jahren kannte, bedauerte aufrichtig, aber es sei beim besten Willen nichts mehr zu machen. Stattdessen eine Notlösung, Fremdenzimmer im ersten Stock über einer Kneipe in der Altstadt, Bar Grill Ristorante, Lärm bis spät in die Nacht, das Zimmer ging zum Eingang raus. Sicht aus dem Fenster fünf Meter, dann die Wand des Hauses gegenüber.
In der Nacht zuvor hatten wieder welche vor dem Eingang stundenlang in voller Lautstärke gequatscht, bis ich es nicht mehr aushielt, die Läden aufriss und hinunterbrüllte:
»Do you know what time it is?«
»A quarter past three«, rief einer zurück, worauf sich die anderen halb totlachten.
Anne meldete sich.
Ich saß am Ufer des Sees auf einer Bank, Blick auf das ölige Wasser, kein Lüftchen, Zypressen wie Stein. An den Stegen die Boote, als wären sie festgeklebt, dafür schwirrten Mücken.
Anne erzählte von der letzten Baugruppenversammlung, wovon ich nichts wissen wollte, aber trotzdem zuhörte.
Der Projektsteuerer, sagte sie seltsam unaufgeregt, habe bekanntgegeben, dass sich die Baukosten wesentlich erhöhten, wegen gestiegener Rohstoffpreise oder so, sie wisse es nicht genau.
Ich wedelte mit den Händen, um die Mücken zu verscheuchen.
»Hat natürlich sofort ein Riesentohuwabohu gegeben«, sagte Anne, »kannst du dir ja vorstellen. Zweiunddreißig Parteien und alle rufen durcheinander. Der Typ zuckte bloß mit den Schultern und meinte, so sei es eben, Abstriche an anderer Stelle kämen nicht in Frage, und wenn uns das nicht passe, müssten wir einen anderen Dummen suchen. Du weißt ja, wie er ist.«
Ich murmelte irgendwas.
»Dann haben sich alle gegenseitig angeschrien, bis auf die, die sowieso nie was sagen. Ich fand's ziemlich peinlich. In meiner fünften Klasse geht's gesitteter zu, so viel ist sicher.«
»Und mit denen wohnen wir dann später zusammen«, sagte ich.
»Die mit der Erdgeschosswohnung sind in finanziellen Schwierigkeiten«, fuhr Anne fort, »wahrscheinlich müssen sie ausscheiden, die haben sich völlig verkalkuliert. Aber da mach ich mir keinen Kopf, die Leute schlagen sich doch um Kreuzberg, dazu noch unsere Nähe zum Tempelhofer Flugfeld, da finden wir sofort Ersatz. Eigentlich wollte ich dir sowieso was ganz anderes erzählen, aber sag doch vorher schnell, wie die Filme bisher waren.«
»Wir sind doch sowieso immer unterschiedlicher Meinung, was das betrifft.«
»Oh, sind wir heute mit dem falschen Fuß aufgestanden?«
Ich erzählte von dem Bar Grill Ristorante.
Anne lachte.
»Und dann diese Hitze«, sagte ich.
Ob ich Schnee erwartet hätte?
Allmählich bekam ich schlechte Laune.
»Nur die Ruhe«, sagte Anne. Gleich würde ich große Ohren machen. Sie sei gestern Abend wie immer beim Pilates gewesen, anschließend noch zusammen mit den anderen in eine Kneipe gegangen. Zufällig habe sie dort neben Berthold gesessen, der erst seit ein paar Wochen dabei sei, und mit dem sei sie eben ins Gespräch gekommen. Sie finde ihn sympathisch, wahrscheinlich gehe es ihm genauso, jedenfalls hätten sie sich von Anfang an prima verstanden.
Ich schaute auf den See. Kein Ahnung, was ein Mann beim Pilates wollte, aber bitte. Im Kreis mit anderen auf einer Turnmatte zu liegen und deutlich hörbar aus- und einzuatmen war nicht mein Fall, sowieso empfand ich Dinge wie Beckenbodenmuskulatur als etwas typisch Weibliches, ich wusste nicht, ob Männer überhaupt einen Beckenboden haben, aber natürlich war es jedem selbst überlassen, ob er das machte oder nicht.
»Das merkt man ja schnell, ob man mit jemandem auf einer Wellenlänge ist oder nicht«, sagte Anne. Wie sie darauf gekommen seien, wisse sie nicht mehr, aber irgendwann habe sie nebenbei gefragt, ohne sich viel dabei zu denken, aber wieso solle man sich dabei auch viel denken, obwohl ihr im Nachhinein schon bewusst geworden sei, dass es auch hätte missverstanden werden können, sie habe also Berthold gefragt, ob er eigentlich verheiratet sei. Schlagartig habe sich seine Miene verändert, ernst sei er geworden und habe nach kurzem Zögern gesagt, seine Frau werde vermisst, seit einem Dreivierteljahr.
Anne machte eine Pause und wartete, was ich sagen würde, aber ich hatte nichts zu sagen und schwieg mit vorgestülpter Unterlippe, was Anne an mir noch nie leiden konnte, aber sie sah es ja nicht.
»Und?«, fragte sie, weil ich nichts antwortete, »was sagst du? Das ist doch furchtbar!«
»Jaja«, sagte ich, »klar!«
»Wie, jaja«, erwiderte sie mit dieser plötzlich gereizten Stimme, die ich schon kannte.
»Dann erzähl eben«, sagte ich, »wie war das, die Umstände, Details, du wirst ja wohl nachgefragt haben.«
»Einfach weg. Von einer Sekunde auf die andere.«
Ich verdrehte die Augen.
»Sie wohnen«, sagte Anne, »in einem Altbau, zweiter Stock Vorderhaus, in Schöneberg. Unter dem Dach hat sich Maren, seine Frau, ein kleines Büro eingerichtet, sie ist Architektin. Es war an einem Freitagabend, Anfang November, nach dem Essen, da hat sie zu ihm gesagt, sie müsse nochmal hoch, eine Zeichnung fertig machen, sonst schleppe sie die das ganze Wochenende mit sich herum. Sie brauche nicht lange, zwei, drei Stunden. Berthold solle nicht vergessen nach Sandra zu sehen, der Tochter. Zwölf war die damals. Sie musste noch irgendwas für die Schule machen. Seine Frau verlässt also die Wohnung, nur mit Turnschuhen und Pullover bekleidet, und verschwindet spurlos, wie von der Erde verschluckt.«
»Und die Polizei?«
»Die haben auch nichts rausbekommen. Sicher ist, dass sie tatsächlich oben im Büro gewesen sein muss, nicht nur, weil das Licht brannte, sondern auch, weil man festgestellt hat, dass ihr Computer kurz nach acht eingeschaltet wurde.«
Ich musste gähnen, was nichts mit Annes Geschichte zu tun hatte, ich war bloß müde.
Natürlich verstand sie es falsch.
Sie habe geglaubt, sagte sie enttäuscht, das sei etwas für mich.
Als wir aufgelegt hatten, blieb ich auf meiner Bank sitzen. Mein Treffen mit Georg war in einer Stunde, es lohnte sich nicht, vorher noch mal ins Hotel zu gehen. Klar ging mir das Telefonat mit Anne durch den Kopf.
Es war ja nicht so, dass es mich nicht interessierte.
Im Gegenteil!
Selbstverständlich hatte die Geschichte etwas, auch wenn sie nicht neu war. Die Zigaretten, die einer noch schnell am Automaten um die Ecke holen wollte, der dann nicht mehr wiederkam, das gab es schon. Meistens Männer, glaubte ich, ohne es zu wissen, es war nur so ein Gefühl. Einmal eine Frau, fiel mir ein, in den USA, die ohne ein Wort zu sagen ihr Mittelstandsdasein mit Mann und zwei kleinen Kindern zurückgelassen hatte und zwanzig Jahre später zufällig bei einer Polizeikontrolle identifiziert wurde; die meiste Zeit war sie als Obdachlose durch das Land gezogen. Es gab dann wohl ein Treffen mit ihrer Familie, die aber nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Oder diese Deutsche, um die sechzig, die vor Jahren an Bord der Queen Mary 2 nach New York fuhr und unterwegs spurlos...
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