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Ich hatte eine glückliche Kindheit. In den ersten neun Jahren meines Lebens fühlte ich mich in meiner Familie beschützt und geliebt, in der Schule von allen akzeptiert. Doch dann musste ich sehr schnell erwachsen werden, denn es senkte sich die dunkle Zeit des Nationalsozialismus über Deutschland. Politisch Andersdenkende wurden verfolgt, in Konzentrationslager gesperrt, jüdische Menschen wurden als Sündenböcke für Wirtschaftsmisere und Armut gebrandmarkt. Unsere Familie war gezwungen, Deutschland zu verlassen. Als Erster ging mein Vater, schon bald, nachdem die Nazi-Partei unter Führung von Adolf Hitler im Jahre 1933 an die Macht gekommen war. 1936 folgte ihm meine Mutter mit uns zwei Töchtern, meiner älteren Schwester Margot und mir. Ziel unserer Emigration war Südafrika. Dort lebten schon Verwandte von uns, die zu Beginn des Jahrhunderts ausgewandert waren. Von da an bestimmten nicht nur die Ereignisse in Deutschland, sondern auch das Geschehen im südlichen Afrika mein Leben. Später wurde ich Journalistin, Wirtschaftsjournalistin sogar, was für eine Frau in der damaligen Zeit sehr ungewöhnlich war. Ich schrieb für südafrikanische Zeitungen und berichtete viele Jahre von dort auch für deutschsprachige und englische Zeitungen. Doch der Reihe nach.
Geboren wurde ich 1924 in eine jüdische Familie in Fürth bei Nürnberg in Franken. Aufgewachsen bin ich jedoch »auf dem Dorf« in der Nähe von Fürth. Mein Vater war selbst auf dem Land groß geworden, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Aschaffenburg, und das Dorfleben sagte ihm mehr zu als das Leben in der Stadt. Als er ins Schulalter kam, schickten ihn seine Eltern nach Fürth in die Israelitische Realschule.
Fürth hatte damals, im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl, eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden in Deutschland. Man nannte die Stadt deshalb auch das »fränkische Jerusalem«. Es gab dort alles, was es für das Leben einer jüdischen Gemeinde braucht: eine Jeschiwa, also eine Hochschule, an der sich die Schüler dem Studium der heiligen Schriften des Judentums widmen; eine Mikwe, ein Tauchbad, in dem sich vor allem Frauen rituell reinigen können; und natürlich mehrere Synagogen, die man im Jiddischen Schul, also Schule, nennt. Der Rabbiner ist kein Geistlicher wie in den christlichen Religionen, sondern ein Lehrer. In Fürth gab es sieben Synagogen, die um einen »Schulhof« standen. Sie wurden alle in der Pogromnacht im November 1938 angezündet und niedergebrannt.
Meine Mutter wurde in Fürth geboren und wuchs auch dort auf. Ihr Vater, mein Großvater Max Cohen, war Buchbinder und kümmerte sich vor allem um die Schriften der jüdischen Gemeinde. Da hatte er viel zu tun, denn das jüdische Volk nennt sich auch das »Volk des Buches«, weil die heiligen Schriften im Judentum und der jüdischen Kultur eine so wichtige Rolle spielen. Max Cohen stammte aus Aurich in Ostfriesland und war nach der Gesellenprüfung auf Wanderschaft in Fürth hängen geblieben, hatte meine Großmutter kennengelernt und sich dort niedergelassen.
Meine Mutter erzählte uns immer gern, wie sie unseren Vater von der elterlichen Wohnung aus während der Unterrichtspausen auf dem Schulhof sehen konnte. Eines Tages stießen die beiden zufällig an der Straßenecke aufeinander. Mein Vater hatte eine Orange in der Hand. Die schenkte er spontan und sehr charmant geistesgegenwärtig meiner Mutter, die sie verdutzt entgegennahm. Als sie damit nach Hause kam, fragte meine Großmutter woher sie denn diese seltsame Frucht hätte, und als es ihr meine Mutter erzählte, forderte meine Großmutter: »Du musst sie sofort zurückbringen, das schickt sich doch nicht für ein junges Mädchen.« Aber es kam doch, wie es kommen musste: Die beiden verliebten sich, und so blieb auch mein Vater im Fränkischen. Aber da er auf dem Land groß geworden war, wollte er auch in Franken lieber auf dem Land als in der Stadt wohnen.
Wir lebten also auf dem Dorf, und zwar in einer neu entstandenen Siedlung. Dort wohnten die Familien der sogenannten Pendler, die jeden Tag zur Arbeit nach Fürth oder Nürnberg hineinfuhren. Auch mein Vater war ein solcher Pendler, er arbeitete in Nürnberg in einer Firma für Spielwaren, eine sehr typische Industrie in dieser Stadt. Ich ging in die Dorfschule und fühlte mich wohl dort. Nie hatte ich das Gefühl, ausgegrenzt zu werden oder »anders« zu sein. Ich hatte viele Freundinnen und mein Heft ging reihum, zum Abschreiben. Das machte mir unheimlich Spaß; ich hatte sehr früh Lesen gelernt in der Buchbinderwerkstatt meines Großvaters in Fürth. Dort saß ich oft unter den Tischen, auf denen die Mädchen arbeiteten. Eines löste die Seiten aus dem neu zu bindenden Buch, ein anderes nahm sie ihr ab und nähte sie zusammen. Es verging immer einige Zeit, bis die Seiten von der einen Hand zur anderen gingen, und die versuchte ich zu nutzen. Wenn ich mich beeilte, gelang es mir, eine Seite ganz zu lesen.
Mit meinen Schulkameradinnen machte ich oft Ausflüge auf unseren Fahrrädern oder wir spielten zusammen im angrenzenden Wald. Ich wurde zu Schlachtfesten auf den Bauernhöfen meiner Schulfreundinnen eingeladen, bei denen ich natürlich nichts vom Geschlachteten essen konnte, weil bei uns zu Hause koscher gegessen wurde, also so, wie es die jüdische Religion vorschreibt. Darüber und dass ich sonntags nicht wie die anderen in die Dorfkirche zum Gottesdienst oder zur Messe ging, machte sich niemand Gedanken. Beneidet wurde ich von meinen Klassenkameraden nur, weil ich, der jüdischen Religion mit ihren vielen Feiertagen entsprechend, öfter schulfrei hatte als die anderen.
Doch dann wurde schlagartig alles anders, von einem Tag zum anderen. Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler Reichskanzler. Meine Eltern flüsterten miteinander, meine Mutter hatte rote Augen, aber sie versicherte mir, alles sei in Ordnung, ich solle mir keine Sorgen machen und mich beeilen, sonst käme ich noch zu spät zur Schule. Auf dem Weg dorthin ging ich immer am Vereinsheim des Sportvereins vorbei. Am 1. Februar sah ich dort zum ersten Mal eine Fahne mit dem Hakenkreuz, und als ich vorbeilief, schrie mir jemand irgendetwas hinterher.
Doch das war nicht so schlimm, ärger war es dann in der Schule. Ich ging auf meinen Platz und merkte zuerst gar nicht, dass etwas nicht stimmte. Noch dachte ich, ich sei vielleicht nicht zu spät, sondern zu früh gekommen, doch dann fing Herr Reuter, unser Lehrer, an zu sprechen, und ich wusste, von nun an würde alles anders sein. Ich hatte keine Banknachbarin mehr, und die anderen Kinder saßen alle zusammengedrückt weit entfernt von mir. Auch in der Pause blieb ich allein, die Mädchen standen tuschelnd in einer Ecke, und die Jungen gingen mit ihren Händen in den Hosentaschen umher und pfiffen vor sich hin. Es war alles etwas merkwürdig. Ich hätte heulen mögen, aber das ging schließlich auch nicht. Ich hatte doch eigentlich nichts, worüber ich hätte heulen können, oder? Als nächste Stunde kam Deutsch, und ich freute mich darauf, denn es war meine Lieblingsstunde, und ich hatte den Erlkönig auswendig gelernt. Reuter, der Lehrer, nahm meistens mich dran. Doch diesmal sah er meine Hand nicht, er sah mich überhaupt nicht, auch als ich einfach nur austreten wollte und deswegen meine Hand hob.
Auf dem Weg nach Hause weinte ich dann doch etwas. Mein Hund Prinz kam mir entgegen, und wir gingen zusammen in den Wald. Ich hatte mein Poesiealbum dabei, setzte mich unter einen Baum und sah mir die Widmungen darin an. Die letzte war ein Gedicht mit der Unterschrift: »Von Deiner immer treuen Schulbankkameradin Bettie.« An diesem Tag aber hatte Bettie nicht in meiner Bank gesessen und die anderen auch nicht. Ich blätterte durch das Album, da waren sie alle, meine liebsten Freundinnen. Ich warf das Buch weit weg, und Prinz bellte dazu.
Es veränderte sich viel in diesen Tagen, quasi von einem Tag auf den anderen. Herr Reuter, der Lehrer, wohnte mit seiner Familie direkt nebenan, wir waren Nachbarn. Aber nun grüßte er meinen Vater nicht mehr, und was am nächsten Wochenende geschah, war wohl am schlimmsten.
Meine Schwester Margot war schön, bildschön, befand ich als ihre jüngere Schwester. Außerdem sah sie immer so aus, als hätte sie gerade gebadet und sich ein ganz neues Kleid angezogen, ganz gleich, was sie trug. Bei mir war das anders. Mein neues Kleid war schon wenige Minuten nach dem Anziehen nie mehr ganz taufrisch. Der Schmutz kam von irgendwoher, ich musste wohl so eine Art Magnet dafür sein, davon war ich überzeugt. Noch dazu hatte ich nicht die kleine, feine Nase meiner Schwester und kein glattes Haar. Meins war lockig, dick und stand mir stets zu Berge. Wenn wir zusammen unterwegs waren, drehten sich die Leute nach uns um. War ich jedoch allein, kümmerte sich nie jemand um mich. Dass meine Schwester hübsch war, hatten die Jungen im Dorf auch schnell gemerkt. Sie ging in Fürth in die Israelitische Realschule und wohnte dort bei meinen Großeltern in der Theaterstraße, ganz in der Nähe der Schule. Am Wochenende kam meine Schwester immer ins Dorf zurück. Anfangs wartete ich auf sie, doch später war das nicht mehr nötig, die Jungen waren immer da, trugen ihr den Koffer und schwatzten mit ihr bis zum Gartentor. Also holte ich sie auch an diesem Wochenende nicht ab. Das tut mir heute noch leid, obwohl ich wahrscheinlich auch nicht viel hätte ausrichten können. Die Jungen kamen - ob es dieselben waren wie sonst, weiß ich nicht -,...
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