Schweitzer Fachinformationen
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Die entstellte Leiche eines Sylter Pastors im Keller eines ausgebrannten Hauses. Eine Wasserleiche am Strand. Ein alter Mann, vergiftet mit einem Drogencocktail. Kaum meinen Liv Lammers und ihre Kollegen von der Flensburger Kriminalpolizei, eine heiße Spur zu haben, geschieht ein neuer Mord und rückt alles in ein völlig neues Licht. Unter der glänzenden Oberfläche tun sich Abgründe auf - auch bei der Polizei. Denn ein Unbekannter platziert "Beweise", um Livs Ermittlungen in die falsche Richtung zu lenken ...
Westerland, 14. Oktober, 0:38 Uhr
Der Junge schrie. Liv vermutete, dass er ungefähr zehn Jahre alt war. Sein Alter richtig einzuschätzen fiel ihr schwer, weil der Junge behindert oder - besser ausgedrückt - ein Mensch mit Lernschwierigkeiten war. Seine etwa drei Jahre ältere Schwester wollte ihn festhalten, aber immer wieder machte sich der Kleine los. Sein Brüllen war erschreckend und zugleich herzerweichend. Erst seine Mutter konnte ihn durch eine liebevolle Umarmung bändigen.
Im Pfarrhaus, das direkt hinter dem Dünengürtel lag, hatte noch Licht gebrannt, als Liv, Hennes und eine ältere Sozialarbeiterin vor dem Haus vorgefahren waren. Die Pfarrersfrau hatte sofort geöffnet. Carla Casabione war eine rundliche Frau mit blonden Locken, die unter ihrem flauschigen Bademantel offensichtlich nackt war. Mit ihren glitzernden Fingernägeln und dem vielen Schmuck wirkte sie, als wäre sie gerade von einer Party gekommen. So wenig entsprach sie dem Bild einer Pfarrfrau, dass Liv sich noch einmal ihre Identität bestätigen ließ.
Es sei nicht ungewöhnlich, dass ihr Mann spätabends noch unterwegs sei, hatte Carla Casabione bei dem einleitenden Gespräch gesagt. Unbekümmert hatte sie mit der Sozialarbeiterin geplaudert, die sie aus der Gemeinde kannte. Erst langsam war Casabione offenbar klar geworden, dass der Besuch der Kommissare nichts Gutes zu bedeuten hatte. Und dann waren die schlaftrunkenen Kinder aus dem Obergeschoss gekommen. Im Gegensatz zu seiner Mutter hatte der behinderte Junge sofort gespürt, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. Prompt hatte er zu schreien begonnen.
»Können wir uns vielleicht setzen?«, fragte Liv, als das Kind sich einigermaßen beruhigt hatte.
»Setzen? Natürlich.« Carla Casabione nahm ihren Sohn an die Hand und ging voraus ins Wohnzimmer. Es war ein durchgestylter Raum. Abstrakte Gemälde und Fotos hingen neben einem schlichten, geschnitzten Holzkreuz an den Wänden. Neben dem Daybed standen eine Schale mit Salzmandeln, ein Longdrinkglas und eine DVD-Hülle, ein schnurloses Telefon lag auf der Sofalehne. Die Pfarrfrau schaltete den Fernseher aus, der ein Standbild gezeigt hatte. Auf der DVD-Hülle prangte die rote Altersfreigabe: Ab achtzehn. »Entschuldigen Sie das Chaos, aber abends habe ich am ehesten die Ruhe, und bei Serien kann ich am besten abschalten.«
»Keine Sorge, das stört uns nicht«, versicherte Liv ihr.
Sie nahmen Platz. Die Kinder drängten sich auf dem Sofa an die Mutter. Es waren gemütliche Sessel, aber Liv war so aufgeregt, dass sie sich nur auf die Kante setzte.
»Hark muss jeden Moment kommen. Sie wollen bestimmt mit ihm sprechen. Er ist oft lange unterwegs. Und gerade jetzt, wo er ständig mit diesem Nachlass beschäftigt ist. Das ist ja so viel Arbeit!«, plapperte Carla Casabione los, aber ihre schreckgeweiteten Augen verrieten, dass sie das Unvermeidliche nur hinauszögern wollte. »Ich habe schon versucht, Hark anzurufen, aber .«
Liv beugte sich nervös vor. Sie hatte noch nicht oft Todesnachrichten überbringen müssen. Die Ratschläge aus den Polizeihandbüchern fielen ihr ein. In Weihmanns Kriminalistik hieß es, sie sollte bereit sein, mit offenem Herzen und verletzbarer Seele für die Angehörigen in dieser Situation da zu sein. Liv dachte an ihre Erlebnisse mit Angehörigen von Todesopfern. Ihre eigenen Erfahrungen mit dem Tod. Die abgrundtiefe Verzweiflung. Die Hilflosigkeit. Aber auch die Kraft, die in der Trauer liegen konnte. Trotz dieser Erfahrungen fiel es ihr schwer, jetzt die richtigen Worte zu finden. Musik - ja, damit hätte sie ihre Gefühle ausdrücken können. Sie kannte etliche Lieder, die diesen Zustand beschrieben, und zwar mindestens ebenso gut wie Stairway to Heaven, Verdamp lang her oder Paint it Black. Aber bloße Worte? Das war wesentlich schwerer.
Sie hatte die Geschichte des Toten noch nicht erfahren, wusste nicht, ob seine Ehe gut, ob sein Familienleben harmonisch gewesen war. Plötzlich erinnerte sie sich, dass es in den Handbüchern hieß, Kinder sollten bei dem Gespräch zunächst nicht zugegen sein. Sie konnte sich aber nicht durchringen, die Hinterbliebenen zu trennen.
»Wir müssen Ihnen eine schlimme Nachricht überbringen«, sagte Hennes jetzt. »Wir haben Ihren Mann tot aufgefunden. Er ist Opfer eines Verbrechens geworden.«
Ein wenig war Liv erleichtert, dass ihr erfahrener Kollege ihr zuvorgekommen war. Er hatte professionell gesprochen: sachlich, ohne Umschweife und ohne falsche Hoffnungen zu wecken. Gleichzeitig kamen ihr die Worte so kalt vor. Liv spürte, wie ihr Hals eng wurde. »Wir möchten Ihnen unser herzliches Beileid aussprechen. Das muss ein schrecklicher Verlust für Sie sein«, setzte sie hinzu.
Die Frau begann zu zittern. »Hark? Aber er ist doch gerade .« Ihre Kinder schlangen die Arme um sie und drängten sich ganz dicht an die Mutter, ehe sie weitersprechen konnte. Ersticktes Schluchzen war aus dem Menschenknäuel zu hören. Hilflos sah Liv Hennes an, und sein ruhiger Blick gab ihr etwas Sicherheit zurück. Es war gut, wenn die Hinterbliebenen ihre Gefühle zeigten. Sorgen musste man sich machen, wenn sie wie versteinert wirkten oder allein sein wollten, dann konnte ein Suizid drohen.
Die Sozialarbeiterin sprach leise auf Carla und ihre Kinder ein. Es ging um den Himmel, um Trost im Gebet. Schließlich sammelte sich Carla Casabione etwas.
»Können Sie uns sagen, was Hark zugestoßen ist?«, brachte Carla schniefend heraus. Ihre verschmierte Wimperntusche wirkte beinahe wie ein Gothic-Look.
Bevor die Polizisten etwas erwidern konnten, erhob sich die Sozialarbeiterin und bot an, einen Kakao zu kochen. Dann bat sie die Kinder, ihr zu helfen. Die beiden konnten sich nur schwer von der Mutter losreißen. Aber schließlich folgten sie der Sozialarbeiterin in die Küche. Als sie allein waren, fasste Hennes oberflächlich zusammen, was geschehen war, sagte aber auch, dass man die Obduktion und die Ergebnisse der Spurensicherung abwarten müsse.
»Sie haben Ihren Ehemann sicher sehr geliebt. Erzählen Sie uns etwas über ihn«, bat Liv.
Carla schnäuzte sich. »Jeder hat ihn geliebt! Oder wollen Sie etwa wissen, ob er Feinde hatte?«, fragte sie aufgewühlt.
»Vor allem wollen wir uns ein Bild von ihm machen. Was für ein Mensch war er?«
Zu ihrem Erstaunen huschte ein versonnenes Lächeln über das Gesicht der Witwe. »Hark ist . Er war Geistlicher und Freigeist. Seelsorger und Marathonmann. Fürsorglicher Vater und selbst noch Kind. Das Evangelium war bei ihm wirklich eine frohe Botschaft. Er hat viele Spuren in den Herzen der Menschen hinterlassen.« Sie holte einen Stapel Fotos aus der Schublade und berichtete von den guten Taten ihres Mannes. Kirchenfeste, Hochzeiten und Taufen waren zu sehen - und Hark Casabione immer mittendrin. Ein wenig klang Carla jetzt selbst wie eine Geistliche, außer, als sie unvermittelt in die Küche hinüberrief: »Piet? Paule? Findet ihr alles? Braucht ihr Hilfe?«
Aber da kam schon Piet herein, die Zungenspitze zwischen den Zähnen, ein Tablett mit Tassen balancierend. Seine Schwester Paule folgte mit der Kanne Kakao, die offenbar so heiß war, dass sie sie mit einem Geschirrtuch umfasst halten musste. Das Mädchen schenkte ein, und die Sozialarbeiterin setzte sich mit den Kindern etwas abseits an den Esstisch.
»Es gab also niemanden, der Ihrem Gatten etwas Böses wollte?«, hakte Hennes nun nach.
Carla Casabione hob die Schultern. »Wegen der Flüchtlingsarbeit unserer Gemeinde haben wir mal einen Drohbrief erhalten, wie so viele Pfarrer, aber das ist lange her.«
»Wissen Sie, wen Ihr Mann heute Abend getroffen hat?«
»Nein. Hark hat . hatte so viele Termine, damit hat er mich nicht behelligt. Gerade durch die Verwaltung des Nachlasses von Herrn Zurssen.«
»Benutzte er einen Terminkalender?«
»Er hatte alles auf seinem Handy. Haben Sie das denn nicht gefunden? Hark hatte so viele Pläne, was man mit dem Erbe von Herrn Zurssen machen kann . so viel Gutes .« Ihre Stimme brach, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Schon kamen ihre Kinder und umarmten sie erneut, ebenfalls weinend.
Liv rieb die Handflächen über die Knie; sie waren schweißnass. Sie verstand gut, dass keiner der Kollegen diese Aufgabe gerne übernahm. Durch die emotionale Anspannung fühlte sie sich ausgelaugt wie nach einem Surftrip bei Sturm. Verstohlen sah sie auf die Uhr. Halb zwei. Seit beinahe zwanzig Stunden war sie auf den Beinen. Sie nippte an dem Kakao und verbrannte sich prompt die Zunge; er war stark und mit Honig gesüßt. Anschließend fiel ihr das Fahrrad ein, das sie gefunden hatten. Sie zeigte der Witwe einige Bilder davon, und Carla Casabione identifizierte es als das Rad ihres Mannes.
Hennes tastete nach seiner Tabakpackung. »Wir werden uns morgen ausführlich unterhalten«, sagte er, als er aufstand.
»Wie wird es weitergehen? Haben Sie jemanden, der Ihnen zur Seite steht? Sollen wir jemanden anrufen?«, wollte Liv wissen.
Carla Casabione drückte ihre Kinder an sich. »Unsere Familien leben im Süden. Wir kommen schon zurecht. Trotz allem sind wir in Gottes Hand.« Die Sozialarbeiterin bot an, über Nacht zu bleiben. Dankend nahm die Witwe das Angebot an, auch wenn sie nur mit halbem Ohr zuzuhören schien. Ihre Aufmerksamkeit galt eher den Fotos, die sie weiter in der Hand hielt. Immer wieder blätterte Carla Casabione die Fotos durch. Der Anblick schien sie zu trösten.
Unwillkürlich folgte Liv ihrem Blick. Das oberste Foto zeigte eine Tombola; der Pfarrer stand zwischen mehreren Frauen und den Gewinnen. Liv schnappte nach Luft. Mit mühsam beherrschter Erregung stieß Liv ihren Kollegen...
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