Schweitzer Fachinformationen
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Der Rettungswagen raste mit hohem Tempo durch die Straßen in Richtung Krankenhaus. Das Martinshorn schallte in den engen Straßen der Fußgängerzone und das Blaulicht spiegelte sich gespenstisch in den Fensterscheiben der Geschäfte. Die wenigen Passanten, die an diesem späten Sonntagnachmittag in dicke Winterkleidung eingehüllt, durch die Straßen schlenderten, sprangen zur Seite oder wendeten sich von den kunstvollen Dekorationen in den Schaufenstern ab. Betroffen und neugierig schauten sie dem Rettungswagen hinterher. Manche dachten vielleicht:
"Hoffentlich ist es niemand aus unserer Familie oder aus unserem Freundeskreis."
Doch sobald das Blaulicht und das Martinshorn nicht mehr die Lethargie der Stadtmenschen störte, war der Schrecken vergessen und man widmete sich wieder den Auslagen der Geschäfte oder führte das unsanft unterbrochene Gespräch mit seiner Begleiterin oder seinem Begleiter fort.
Obschon erst am folgenden Sonntag der erste Adventssonntag wäre, war es bereits bitterkalt Viele Menschen hegten daher die Hoffnung, dass es dieses Jahr endlich einmal wieder eine weiße Weihnacht geben würde. Bereits jetzt verbreiteten die glitzernden Sterne der vor einigen Tagen angebrachten Weihnachtsbeleuchtung eine vorweihnachtliche Stimmung. Auch die Geschäftswelt hatte sich wieder einmal früh auf Weihnachten eingestellt und die Schaufenster entsprechend prachtvoll dekoriert.
Dies alles konnte die Patientin im Rettungswagen nicht wahrnehmen. Wie gerne hätte sie sich in Weihnachtsstimmung versetzen lassen. Aber das Schicksal schien andere Pläne mit ihr zu haben. Für sie ging es zunächst um Leben und Tod. Vor dem geöffneten Rolltor der Notfallambulanz endete die waghalsige Fahrt dieses Notfalleinsatzes. Die Rettungssanitäter und der Notarzt sprangen aus dem Wagen und öffneten die hintere Flügeltür. Mit sicheren Handgriffen zogen sie die Trage heraus. Ein Krankenhausarzt, gefolgt von einer Krankenschwester und zwei Pflegern, übernahm die Patientin.
"Rachel-Seraphina Schmitz, 84 Jahre, vermutlich Gehirnschlag", war der knappe Kommentar des Notarztes vom Rettungswagen.
"Ungewöhnlicher Name", kommentierte der Krankenhausarzt und beugte sich über die Patientin.
"Na ja, ungewöhnlich? Ich weiß nicht so recht. Schmitz ist doch rheinischer Adel und nicht ungewöhnlich", konnte sich der Rettungssanitäter, der neben dem Krankenhausarzt stand, nicht verkneifen leise zu bemerken.
"Natürlich die Vornamen . Rachel, Seraphina", entgegnete der Krankenhausarzt dem altklugen Sanitäter mit einem tadelnden Seitenblick.
Die beiden Krankenpfleger übernahmen den weiteren Transport und brachten Rachel-Seraphina Schmitz im Laufschritt schnell ins warme Krankenhaus, denn in ihren weißen Kitteln hatten sie nicht viel der Kälte entgegenzusetzen.
*
Wo bin ich, dachte Oma Schmitz. Sie hatte das Gefühl, sich in einem Berg weißer Federn zu befinden. Tatsächlich lag sie nur in einem normalen, weißen Krankenhausbett, und war zugedeckt mit einer weichen Bettdecke. Sie versuchte umherzuschauen - nichts. Sie konnte nichts erkennen. Es umgab sie eine gleichförmig, starke Helligkeit. Weit entfernt vernahm sie Gemurmel. Die Verursacher dieser menschlichen Laute konnte sie ebenfalls nicht ausmachen.
Sie besann sich auf ihren Körper und probierte ihre Gliedmaßen zu bewegen. Nichts geschah. Jetzt das andere Bein, die rechte Hand, die linke Hand und zuletzt den Kopf. Nichts konnte sie bewegen.
Sie lag in Federn gepackt im gleißenden Licht und konnte sich nicht rühren.
Dann will ich mal jemanden rufen, der mir erklären kann, was mit mir los ist, dachte sie ärgerlich. So sehr sie sich auch bemühte, ihre Lippen, ihre Zunge und ihre Stimmbänder gehorchten ihr nicht mehr. Was war bloß mit ihr geschehen?
Na ja, hab` ein wenig Geduld - das wird schon wieder. Vielleicht träume ich nur und wenn ich aufwache, ist alles vergessen und wieder in Ordnung. So leicht lässt sich eine Rachel-Seraphina nicht unterkriegen, dachte sie.
Als ihre Eltern ihr die Namen Rachel und Seraphina gegeben hatten, geschah das nicht unbedacht. Ihr Vater war ein äußerst gläubiger Mensch. Während der Schwangerschaft ihrer Mutter hatten ihre Eltern nie über einen möglichen Namen gesprochen. Sie wollten zuerst abwarten, ob ihr erstes Kind ein Junge oder ein Mädchen war.
"Ist sie nicht ein Engel!", rief ihr Vater nach der Geburt voller Stolz.
"Sie soll auch den Namen eines Engel erhalten", entschied er spontan.
Ihre Mutter wagte nicht zu widersprechen, obschon sie nicht so stark mit dem Glauben verbunden war und sich eher einen weltlichen Namen für ihre Tochter gewünscht hätte.
"Rachel, soll sie heißen. Das ist der Name eines Engels der dritten Hierarchie. Also ein Engel der letzten Ordnung, der den Menschen am Nächsten steht. Gewissermaßen ein Schutzengel", beschloss ihr Vater, wobei auf seinem Gesicht ein verklärtes Lächeln lag.
Ihrer Mutter war bewusst, dass dies für ihren Mann ein Kompromiss ihr gegenüber war, denn der Engelsname Rachel kam einem weltlichen Namen sehr nahe.
"Rachel ist einer der großen Engel des Humors und des Selbstvertrauens. Schau nur wie sie lacht. Später wird sie bestimmt Humor und Selbstvertrauen haben. Der Engel Rachel sorgt dafür, dass wir Mäßigung und Leichtigkeit haben, mit der wir alle negativen Ereignisse in unserem Leben ertragen können und uns davon nicht einschüchtern lassen", erklärte er seiner Frau.
Ihr Vater sollte Recht behalten. Die Eigenschaften des Engels Rachel spiegelten sich im Laufe des Lebens in Gemüt und Charakter seiner Tochter wieder.
Rachel hatte kurz nach dem Krieg einmal zu ihrem Vater gesagt, als dieser verwundet aus der Gefangenschaft heimgekommen war: "Es gibt Dinge im Leben, die einfach unaufgefordert kommen und nicht angenehm für uns sind. Wir sollten sie annehmen, so wie sie sind, denn wir können sicher sein, das alles seinen Sinn hat."
Aus diesen beiden Sätzen erkannte ihr Vater ihre große Stärke, negative Ereignisse so zu ertragen, dass sie sie nicht zerbrechen würden. Wenn er bisher noch Zweifel gehabt hätte, den richtigen Namen gewählt zu haben, jetzt war er überzeugt, dass er für seine Tochter mit Rachel keinen besseren Namen hätte wählen können.
Der Name Rachel allein war ihrem Vater aber nicht genug. Nur ein Name als ein großzügiges Entgegenkommen gegenüber seiner Frau reichte ihm nicht aus. Es sollte noch ein zweiter Name her, und der musste es in sich haben.
"Seraphina soll ihr zweiter Vorname sein. Ein Engel der ersten Engelshierarchie. Ein sechsflügeliger Engel an Gottes Thron. Die Wahl dieses Namens soll der Dank an Gott für die Geburt einer gesunden Tochter sein."
So wurde es entschieden von ihrem Vater. Eine Widerrede oder der Versuch, vielleicht einen weiteren Kompromiss herbeizuführen, war ausgeschlossen.
"Frau Schmitz lächeln Sie bitte einmal", drang eine männliche Stimme, wahrscheinlich die eines Arztes, an das Ohr von Oma Rachel-Seraphina Schmitz und riss sie aus ihren Gedanken.
Keine Zelle meines Körpers kann ich bewegen und jetzt soll ich auch noch lachen. Das kann auch nur ein Mann verlangen, der überhaupt kein Einfühlungsvermögen hat, dachte sie. Ich werde dem etwas husten. Keine Mine werde ich verziehen.
"Typisches Symptom eines Gehirnschlags. Kein beidseitiges Lächeln", sagte die männliche Stimme.
Weder ein beidseitiges noch ein einseitiges Lächeln werde ich dir zeigen, entschied Oma Schmitz, obschon ihr keine der beiden Varianten möglich war.
". Koma . Gehirnstammschädigung ."
Als diese Worte an ihre Ohren drangen, war ihre bis dahin unerschütterliche Leichtigkeit mit einem Male dahin.
Es schien, als ob doch etwas Schlimmeres mit mir geschehen sei. Vielleicht schlägt bald mein letztes Stündlein, dachte sie mit einem innerlichen, zufriedenen Grinsen. Habe ich doch ein langes, erfülltes Leben gehabt. Eine Tochter geboren, die ich liebe und die mich liebt. Mit Jan und Lea habe ich zwei reizende kleine Enkelkinder. Was will ich mehr? Nein, beklagen kann ich mich nicht. Und schließlich geht es irgendwann mit Jedem einmal zu Ende.
Mit diesen Gedanken war sie wieder dem Engel Rachel sehr ähnlich, der die Leichtigkeit besitzt, schwere Schicksalsschläge im Leben mit Würde zu ertragen - und sei es sogar der eigene Tod.
In den nächsten Stunden war sie geistig abwesend. Sie nahm nicht mehr wahr, was die Ärzte mit ihr anstellten und was um sie herum vor sich ging. Nicht einmal ihren Gedanken ging sie nach. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden, so wie es war. Sie war zufrieden und wartete - auf das Ende.
"Oma wieso liegst du hier im Bett?", tönte die piepsige...
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