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»Damals, in Palästina .« So begann mein Vater seine Geschichte, wenn wir sonntagnachmittags um den Couchtisch zusammensaßen und vom Obstteller Datteln und Feigen naschten. Dann erzählte er, wie er als Dreijähriger mit seinen Freunden ein Stück die Straße hinunter gespielt hatte. Sieben Kinder waren sie gewesen, als plötzlich ein Jeep angefahren kam. Aus dem Fenster ragte der Lauf eines Maschinengewehrs, es ratterte, alle sanken getroffen zu Boden. Ein Nachbar rannte aus seinem Haus, sah nach, ob irgendeines der Kinder überlebt hatte. Nur mein Vater atmete noch. Doch er hatte mehrere Bauchschüsse abbekommen, seine Gedärme traten aus der schützenden Bauchhöhle und quollen auf den Staub der Straße. Der Nachbar packte ihn, presste die bloßen Hände auf die Wunden und rannte zur nächsten Rettungsstation.
Mein Vater war an diesem Tag nicht das einzige Opfer. Überall herrschte Chaos. Als seine Eltern ihn suchten, befand er sich nicht mehr auf der Station, und alle dachten, er sei gestorben.
Drei Monate später las sein ältester Bruder in den Anzeigen der Überlebenden den Vornamen meines Vaters, Naim, und sein Alter. Es war ein ungewöhnlicher Name, so dass mein Onkel Hoffnung schöpfte. Schnellstmöglich machte er sich auf den Weg in die Nachbarstadt - und fand ihn tatsächlich in einem Waisenhaus.
Manchmal zeigte unser Papa uns die Narben an seinem Bauch oder deutete auf die fehlende Fingerkuppe: »Die wurde mir auch weggeschossen.« Für mich war es irgendwie selbstverständlich, dass Eltern Schussverletzungen hatten. Und so locker, wie mein Papa davon erzählte, hörte sich das Ganze für mich wie eine Lucky-Luke-Geschichte an. Welche Schmerzen dahintersteckten, durch welche Einsamkeit er als schwerverletztes Kleinkind gegangen war, ja, was Krieg wirklich bedeutet, das begriff ich damals nicht.
Mein Vater besuchte die internationale Schule in Jericho. Als er vierzehn war, hatte er einen Lehrer aus Stuttgart im Werkunterricht. Bei ihm lernte er das Polstern und stellte sich so geschickt an, dass der Lehrer vorschlug, er solle doch nach Deutschland kommen, bei ihm wohnen und eine Lehre machen. Dann könnte er später an der Schule arbeiten und anderen das Handwerk beibringen. Nachdem der Lehrer zurück nach Deutschland gegangen war, machte mein Vater sich tatsächlich auf den Weg. Zwei Wochen brauchte er mit Bussen, dem Schiff und Zügen, arbeitete in Häfen, um etwas Geld für die Weiterreise zu verdienen, und traf eines Abends in Stuttgart ein. Ein Jahr sollte die Lehrzeit dauern. Doch der Lehrer und auch sein Chef in der Firma, in der er bald eine Anstellung fand, baten ihn zu bleiben, da sie seine Fähigkeiten so schätzten. Was mein Vater denn auch tat.
Einmal reiste er nach Berlin. Zufällig war es der Tag, an dem John F. Kennedy seine berühmte Rede hielt, die mit den Worten »Ich bin ein Berliner« endete. Mein Vater stand in der Menge und war fasziniert. Die damals noch geteilte Stadt, die nach wie vor Spuren des Krieges aufwies, fühlte sich für ihn wie eine zweite Heimat an. Und so fasste er den Entschluss, eines Tages dorthin zu ziehen.
All die Jahre fuhr er im Sommer für zwei Wochen nach Jordanien, um seine Familie zu besuchen. Eines Tages lernte er flüchtig ein Mädchen kennen und erkundigte sich nach ihr. Sie hieß Najieh. Ihre Mutter fragte sie, ob sie sich vorstellen könne, den jungen Mann kennenzulernen. Najieh war sehr angetan von ihm und stimmte sogleich zu. Zwischen meinen Eltern war es Liebe auf den ersten Blick. Als der Urlaub meines Vaters zu Ende ging, gaben sie sich das Eheversprechen und feierten Verlobung. Meine Mutter hat das Kleid, das sie damals trug, noch heute.
Im Jahr darauf folgte sie meinem Vater nach Berlin, wo er zwischenzeitlich hingezogen war und eine neue Stelle gefunden hatte.
So richtig Zeit, sich aneinander zu gewöhnen und das gemeinsame Leben zu planen, hatten meine Eltern nicht, denn schon im nächsten Februar brachte meine Mutter Zwillinge zur Welt. In ihrer Heimat hatte sie das Abitur gemacht, doch kurz nach ihrem neunzehnten Geburtstag war ihr Vater plötzlich verstorben, und als Älteste hatte sie eine Menge Verantwortung für ihre acht jüngeren Geschwister übernommen. In Berlin vermisste sie ihre eigene Mutter und die Geschwister, die in Jordanien geblieben waren, und die Aussicht, eine eigene Familie in der neuen Heimat zu gründen, machte sie glücklich. Auch bringen Kinder die Menschen miteinander in Kontakt, und so konnte sie sich leichter in der großen, fremden Stadt einleben.
Im Hochsommer, sechseinhalb Jahre nach den Zwillingen, wurde ich geboren. Dreiundzwanzig Stunden lag meine Mutter in den Wehen. Mein Vater musste damals vor dem Kreißsaal warten. Als die Hebamme mich in seine Arme legte, griff ich seinen linken Zeigefinger und hielt ihn fest umklammert. »In dem Moment hast du mein Herz gestohlen«, erzählt er heute noch.
Ich erlebte Jahre voller Geborgenheit. Wir wohnten in Lichtenrade, einer grünen, kinderfreundlichen Gegend ganz im Süden Berlins. Menschen mit arabischen Wurzeln gab es außer uns dort nur wenige. Und so lebten wir in einer kleinen Blase, in der meine Eltern ihre Traditionen und Werte bewahrten. Zugleich schätzten sie ihre neue Heimat und hießen all unsere Freundinnen und Freunde immer willkommen.
Meine Mutter ist eine echte Vollblutmama und liebte es schon immer, ihre Familie zu umsorgen. Ständig brutzelte und köchelte etwas auf dem Herd. Das gemeinsame Essen hatte einen großen Stellenwert bei uns zu Hause. Ein einziges Gericht schweigend essen und erst dann aufstehen dürfen, wenn alle fertig sind? Das gab es bei uns nicht. Der Tisch bog sich förmlich unter all den vielen verschiedenen Speisen, die meine Mutter auftischte. Während des Essens wurde erzählt, gelacht, sich ausgetauscht. Überhaupt war ständig etwas los. Freunde und Bekannte meiner Eltern kamen vorbei, aßen mit uns, und wenn es spät wurde, zogen meine Eltern die Couch aus, so dass unser Besuch bleiben konnte. Gastfreundschaft wurde großgeschrieben. »Geh niemals schlafen, bevor du nicht sicher sein kannst, dass dein Nachbar neben, hinter und vor dir auch nicht hungrig ist«, pflegte mein Vater zu sagen.
Wie sehr sich unser Zusammenleben von dem anderer Familien in der Umgebung unterschied, war mir anfangs nicht bewusst. Mein Vater sprach Deutsch mit uns, meine Mutter Arabisch. Ich verstand beide Sprachen, hatte mir aber angewöhnt, nur Arabisch zu sprechen, weil ich die meiste Zeit des Tages mit meiner Mama verbrachte. Als ich in den Kindergarten kam, musste ich erst mal eine Hürde überwinden und Deutsch reden. Da ich alles andere als schüchtern war, plapperte ich bald drauflos. Das machte mir so viel Spaß, dass ich ständig Leute auf der Straße ansprach, bevorzugt ältere Menschen, denn ich merkte schnell, dass sie mehr Geduld und auch Zeit hatten. Vielleicht konnten sie auch einfach nicht so schnell vor mir Reißaus nehmen.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon meine erste große Liebe kennengelernt: ein rotes Dreirad. Meine Eltern hatten mich mit in die Stadt genommen und waren unvorsichtigerweise an der Spielzeugabteilung vorbeigekommen. Da stand es mit seinem glänzenden Lack und der Schiebestange und zog mich magisch an. Ich kletterte auf den harten Sattel - und war nicht mehr runterzukriegen. Meine Mutter und mein Vater setzten ihre vereinten Überredungskünste ein, aber für mich war klar: Dieses Dreirad gehörte zu mir.
Ich war damals ziemlich willensstark, und als meine Argumente nicht weiterhalfen, griff ich zu härteren Waffen und begann zu schreien. Wie die meisten Eltern in solch einer Situation fingen auch meine an zu schwitzen. Hinzu kam wahrscheinlich noch, dass sie als »Ausländer« auf keinen Fall auffallen wollten. Also gaben sie bald nach - und schoben mich über den Ku'damm. Ich war selig. Seit dem Tag waren mein Dreirad und ich unzertrennlich. Es schlief sogar abends neben meinem Bett.
Mein Vater war ein konfliktscheuer Mensch. Dass ich lange Zeit nicht nein sagen konnte, habe ich definitiv von ihm. Gemessen an den schrecklichen Ereignissen in seiner Kindheit und den vielen Verlusten, die er durchlebt hatte, wundert das nicht. Spannungen hatte es in seinem Leben genug gegeben, er sehnte sich nach Frieden und Harmonie. Wir Kinder nutzten das niemals aus. Wir verinnerlichten die Werte, die unsere Eltern uns vorlebten, lernten, dankbar für das zu sein, was wir hatten, und genossen es ansonsten, uns frei entwickeln zu können. Für meine Mutter war das sicher nicht immer leicht, besonders in meinem Fall, denn ich brachte sie in so manche peinliche Situation.
Im Kindergarten gab es eine Schminkecke, die ich liebte! Kein Tag verging, an dem ich nicht da saß, meinen kleinen Afro mit bunten Zopfgummis zu bändigen versuchte, die ohnehin dunklen Augenbrauen nachzog, mir die Lippen knallig anmalte und überhaupt recht einfallsreich mit den Gesichtsfarben hantierte. Über die Stunden hinweg verwischte dann das Ganze. Wenn meine Mutter mich abholte, sah ich zum Fürchten aus. Irgendwann fragte sie die Erzieher, ob sie mir das Schminken nicht vielleicht verbieten könnten. Sie ginge nämlich meist danach einkaufen und würde immer wieder von Leuten angesprochen werden, ob ich krank sei oder was, um Himmels willen, mit dem armen Kind passiert sei.
Hinzu kam mein etwas eigenwilliger Kleidungsstil. Meine ältere Schwester Sherin konnte schon sticken, das fand ich toll. Also lebte ich meine kreative Ader an meinen Hosen, Röcken und T-Shirts aus, bohrte die Nadel durch den Stoff und zauberte Muster, die nur mir...
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