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Kapitel 1
Georg Danzer
»Meine Tochter war als Kind sehr anstrengend.« Mutter neigte sich den drei schwerhörigen Eminenzen zu, die mit uns am Tisch saßen. »Aber als sie ihren Uwe traf, da wurde sie dann doch vernünftig.«
»Mama!«, fauchte ich zwischen den Zähnen hindurch. Ich hasste es, wenn sie mich benutzte, um Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. Sie führte mich damit vor wie ein Kind, dabei war ich auf dem besten Weg, selbst eine alte Frau zu werden.
»Besser, ich bin still!« Sie hörte natürlich nicht auf. »Annes rechtes Auge rutscht schon nervös weg. Haben Sie auch ein Kind mit Silberblick? Schrecklich, und man kann gar nichts dagegen machen.«
Die Aufmerksamkeit der Damen am Tisch senkte sich in die Suppenteller.
»Mein verstorbener Mann konnte auch sein eines Auge derart verschieben, dass einem vor Schreck fast das Herz im Leib stehenblieb. Anne hat das von ihm.« Meine Mutter räusperte sich in meine Richtung. »Aber Anne, vielleicht möchtest du das ja alles lieber selbst erzählen.«
Und wie gerne! Aber nur, wenn ich auch meine Cellulite zeigen durfte und das Hexenhaar an meinem Kinn. »Nicht nötig«, schnaubte ich sie von der Seite an. Ich brauchte nicht zu ihr hinblicken, um zu wissen, dass sie ihren Mund jetzt zitronenhaft kräuselte, um ihre Entrüstung deutlich zu machen. In ihren Augen war nicht sie unmöglich, sondern ich. Kein Grund zur Panik, und alles im normalen Rahmen. Je unsicherer Mutter war, desto unmöglicher wurde ihr Benehmen, ich kannte das seit nun fünfzig Jahren.
»Ännchen«, hatte sie mich als Kind schon vor ihren Damenrunden postiert, »komm, spiel uns ein bisschen was auf der Flöte vor, aber bitte nicht zu laut.« Sollte das jetzt im Altersheim so weitergehen? Und schon hörte ich sie: »Nicht nur Anne, auch mein Mann hatte leider kein großes Talent in .«
»Mama!«, drohte ich ihr mit dem Suppenlöffel in der Hand. »Hör auf!« Schlagartig wurde es im Saal ruhig. Neunzig Damen und zwei Herren ließen verschämt das Besteck auf ihre Teller sinken. Wie gut, schienen sie zu denken, dass wir nicht so eine böse Tochter haben. Mutter sah darüber hinweg. Was scherte es sie, wenn ein Floh hustete.
»Aaah, sieh an, die Servietten, die sind aus Damast«, überging sie gekonnt die irritierte Stille im Speiseraum und betupfte sich die Mundwinkel graziös mit den Baumwolltüchern, die aufgelegt worden waren. »Wie bei uns daheim«, erklärte sie ihren Tischdamen, während einzelne Bestecke wieder zögerlich zu klappern begannen. »Fast wie bei uns daheim. Die Teppiche fehlen mir freilich. Das sind ja angeblich Stolperfallen. Haben Sie so etwas schon gehört?« Sie erwartete keine Antwort. »Na ja, mit meiner Gicht könnte ich die sowieso nicht mehr ausrollen.« Schon führte sie der Tischrunde, die eigentlich mit Essen beschäftigt war, ihre Hände vor. Das mit Granatsplittern besetzte Armband klackerte dabei fein an die goldene Uhr, die Vater ihr zur Silberhochzeit geschenkt hatte. Mutters Fingernägel waren in zartem Altrosa gehalten, der Lack glänzend, die Nagelhaut dezent an ihrem Platz. Ich vermied es, mir meine eigenen Hände anzusehen, die rau und müde in meinem Schoß lagen und mit denen ich gerade Fingeryoga machte. Ich drückte an die Reflexpunkte, die angeblich für den Blutdruck zuständig waren.
Es ging mir elend, und Mutter hatte es gut. Seit sie im Heim war, kümmerte sie sich um nichts, außer um die Befehle, die sie erteilte. Vorzugsweise in meine Richtung. Sofort meldeten sich in mir Schuldgefühle. Warum dachte ich so kühl? Okay, die Sache mit dem Silberblick war blöd gewesen, aber wenn ihr das half, das neue Lebensumfeld zu akzeptieren? Ich konnte schließlich wieder heim. Mutter hingegen musste hierbleiben. Und nicht nur das, sie hatte in den letzten Tagen schon dreimal die Tischgesellschaft gewechselt, weil ihr die meisten Damen angeblich geistig nicht gewachsen waren. »Ich brauche Ansprechpartnerinnen, Diskussionsrunden!«, hatte sie gezetert, und das Tischkarussell hatte sich erneut für sie gedreht. Ich war schon gespannt, wie lange sie an diesem Tisch aushalten würde.
Noch hatte sie das Recht, den Platz zu wechseln. Die Fürstin, wie ich sie heimlich nannte, befand sich nämlich in der Eingewöhnungsphase der Seniorenresidenz »Die Rose«, und ich versuchte, so gut es ging, sie bei der Eingewöhnung zu unterstützen. Es war in etwa so wie damals, als ich Ronny, meinen Sohn, die ersten Tage in den Kindergarten begleitet hatte. Nur dass der ein Traumkind gewesen war und ich seine »liebste Mami«. Für Mutter war ich nichts anderes als eine Art Pizzaservice. Sie rief an, ich hatte ihr das Bestellte zu bringen.
»Mir fehlt eine rosafarbene Bettwäsche. Bring mir die vorbei. Du weißt schon, die mit den Rauten in Lachs.«
»Ihr habt bei meinem Einzug den Blumenständer vergessen. Bitte bring mir den. Er steht im Fernsehzimmer.«
Das wusste ich, er stand da nämlich schon, seit ich sehen konnte.
»Meinst du nicht auch, dass ein paar Deckchen fehlen? Pack bitte die gehäkelten ein. Du weißt schon, die von Tante Lisbeth!«
Häkeldeckchen? Wo? Tante Lisbeth? Mit der hatte sie doch seit vierzig Jahren Krach! Egal. Kaum dass sie etwas geordert hatte, packte, brachte, rannte ich, aber Dank oder Trinkgeld gab es nicht. Keine spürbare Anerkennung oder Freude. Ronny hatte mir seinerzeit aufgeregt seine Kunststückchen auf den Klettergerüsten vorgeführt. Mutter kletterte auch herum. Allerdings auf meinen Nerven.
»Ich halte sie nicht aus«, heulte ich mich regelmäßig bei meiner Freundin Manu aus, die mir mit Herz und Hand half, die Klamotten der Fürstin umzuziehen. Fast täglich kam sie zu mir in mein verwaistes Elternhaus, um mich beim Umzug und der gleichzeitigen Entrümpelung zu unterstützen. »Für Mutter bin ich nichts anderes als billiges Personal!«
Wenn jemand mich verstand, dann war es Manu. Wir hatten uns in der Schule kennengelernt und waren schon seit Jahrzehnten ganz innig befreundet. Manu hatte mir vom ersten Augenblick an gefallen, als ich sie am Brötchenstand der Schule traf. Das war in der fünften Klasse der Realschule gewesen. Sie war damals schon so rund und kräftig gewesen, so fröhlich und positiv, und das fand ich auf der Stelle richtig gut, weil ich immer nur so ein halbes Hemd gewesen war. Leider nur bis zur Schwangerschaft. Mit Ronny hatte auch ich einiges an Kilos zugelegt. Mein Sohn war inzwischen sechsundzwanzig Jahre alt, meine überzähligen Kilos auch. Mehr Standing hatte ich dadurch leider nicht gewonnen. Manu dagegen war schon immer durchsetzungsstark gewesen. Die typische Klassensprecherin und dieser Typ Mädel zum Pferdestehlen. Nie ließ sie sich einschüchtern und wehrte sich dabei doch immer mit Humor und einem großen Herzen, das ihr breit und rot mitten auf der Zunge lag.
Ich war als Kind eher scheu gewesen und hatte mich den anderen angepasst. Wo man mich hinsetzte, blieb ich hocken. »Sei brav und warte«, sagte man mir, und ich tat es. Dann kam Manu und setzte sich einfach durch. Ich sah ihr zu, wie man das machte, und wurde fortan auch ein wenig mutiger. »Sie hetzt dich auf, merkst du das denn nicht?«, hatte Mutter oft gegen Manu gestänkert, weil ich nicht mehr ganz so angepasst war, wie es ihr gefiel. Ich merkte nichts, außer einer Freundinnenliebe, die fest und groß war und die mich nun schon fast vierzig Jahre lang glücklich machte. Wenn ich nicht weiterwusste, nahm sich Manu für mich Zeit, und ich konnte Manu aus mancher Klemme helfen, wenn in einer Situation eher Diplomatie als Durchsetzungsvermögen gefragt war. Wir waren wie Pat und Patachon, Plisch und Plum, Hanni und Nanni oder wie die berühmten Tandems alle hießen. Wo ich mich nicht traute, da ging Manu für mich in die Vollen, und was sie um den Verstand brachte, das regelte ich besonnen und mit Geduld. Wir sprachen oft darüber, was wir als junge Frauen vorgehabt hatten und was jetzt fehlte. Manu war in der Berufsschulklasse Schülersprecherin gewesen, und ich hatte eine AG Schulpolitik gegründet. Wir hatten uns damals bei Zigarettenrauch und Rotwein die Köpfe heißgeredet und waren uns in dem Bestreben einig gewesen, dass etwas passieren muss, damit etwas passiert.
Viel zu schnell war ich erst 30, 40, 45, 48, 49, 50 Jahre alt geworden, und der Thrill meines Lebens lag darin, dass ich mit Ronny Gespräche per Skype führte und seit Jahren im selben Job war. »Vielleicht darf man vom Leben einfach nicht so viel erwarten. Oder?« Auf eine Reaktion wartend sah ich zu Manu hin. Wie Witwe Bolte sah sie aus mit dem Tuch in ihrem Haar.
»Du hast ja alles auch gut gemeistert. Dein Sohn ist begabt, deine Mutter ist gut untergebracht, Uwe hat dich meines Wissens nie betrogen - das ist doch alles ganz vorzeigbar. Darauf kannst du stolz sein! Eine Familie, wie ihr es seid, ist heutzutage eine große Seltenheit.«
»Genau«, stimmte ich ihr zu, obwohl ich nicht zustimmen wollte.
»Befürchtest du etwa, dass Uwe eine andere Frau hat? Fühlst du dich vielleicht ungeliebt?«
»Nur von Uwe oder sprichst du von meiner ganzen Familie? Inklusive Ronny, der sich nur meldet, wenn ich ihm drohe, den Geldhahn zuzudrehen. Ach Manu«, ich atmete durch, »wenn Mutter wenigstens ein bisschen anerkennen würde, was ich hier mache. Aber sie ist so, ach . Ich bring sie noch um, wenn sie mich weiter so behandelt.«
»Gute Idee«, lachte Manu auf. »Aber stell dich drauf ein, dass sie dir während der Strangulation noch vorhält, dass andere Töchter viel besser töten können als du!« Unser Galgenhumor schien mir seit Wochen das einzige...
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