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Mai 1944
Zwei Flugzeuge donnerten über Arnheim hinweg, ließen die bleigefassten Fensterscheiben im Ballettsaal des Konservatoriums beben. Die Mädchen tanzten weiter, als wäre nichts geschehen. Sie waren es gewohnt, dass die Kriegsmaschinen die Musik des Grammofons übertönten.
»Un, deux, trois«, rezitierte Madame Marova gelassen, »un, deux, trois, allongé .« In einem langen fließenden Kleid und abgenutzten Ballettschuhen, die noch von vor dem Krieg stammten, ging sie die Reihe der Mädchen entlang, die an der Stange übten. Mal korrigierte sie sanft eine Armhaltung, dann wieder die Neigung des Kopfes. »Die Hand nach außen, Frida. Femke, die Füße! Die Füße!«
Die Mädchen gaben sich allesamt Mühe, Madame Marova zufriedenzustellen. Sie war streng, aber liebevoll und eine Koryphäe am Arnheimer Konservatorium, wenngleich ihre Arbeitsbedingungen von Monat zu Monat schlechter wurden. Seit vier Jahren befand sich Holland unter deutscher Besatzung. Die Bevölkerung lebte in Angst, jeder kannte Mitbürger, die von den Deutschen wegen irgendwelcher angeblichen Vergehen erschossen worden waren. Viele Ballettschülerinnen trauten sich kaum noch aus dem Haus und kamen nicht mehr zum Unterricht. Außerdem war das Essen knapp, die Mädchen, die noch kamen, waren alle dünn, einige regelrecht abgemagert.
Madame Marova war am Ende der Reihe angelangt. »Sehr schön, Edda«, lobte sie und ließ ihren Blick einen Moment wohlwollend auf der Fünfzehnjährigen ruhen, die vollkommen in ihre Bewegungen vertieft war.
Audrey zuckte zusammen. An den Namen Edda hatte sie sich noch immer nicht gewöhnen können, auch wenn sie seit Beginn der deutschen Besatzung so genannt wurde, zumindest in der Schule und am Konservatorium. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, als sie bei Kriegsausbruch nach Holland gekommen waren, um bei den Großeltern zu wohnen.
»Audrey ist durch und durch britisch«, hatte Ella gesagt und Audrey von oben bis unten mit zusammengekniffenen Augen angesehen. »Dein Vater bestand ja damals leider auf einem englischen Namen. Aber wir können das Risiko nicht eingehen, dich in diesen Zeiten so zu rufen. Die Deutschen hassen alles Britische. Womöglich würden sie dich als Halbbritin noch wegholen.«
Seitdem hatte Audrey schreckliche Szenen im Kopf, die sie nachts im Schlaf verfolgten; mehrfach hatte sie zugesehen, wie die Deutschen Mütter und Kinder, ja ganze jüdische Familien aus ihren Häusern in Lastwagen gezerrt und zum Bahnhof gefahren hatten, um sie nach Deutschland zu verschleppen. Es wurde nicht öffentlich darüber gesprochen, aber jedem war klar, dass diese Familien niemals wiederkehren würden. Deshalb war es ihr nur recht gewesen, ihren Namen gegen einen holländischen auszutauschen, und seitdem hieß Audrey in der Öffentlichkeit Edda.
»Du hast in den letzten Monaten große Fortschritte gemacht«, raunte Madame ihr nun kaum hörbar zu, womöglich, um die anderen Mädchen nicht neidisch zu machen. Ballett war in diesen Zeiten das Einzige, das sie für eine Stunde aus dem tristen Alltag entführte.
»Ich glaube, aus dir könnte eine richtige Primaballerina werden!«
Audrey errötete vor Freude über das Lob und legte, nach neuerlichen Anweisungen der Lehrerin, wie die anderen Mädchen das Bein anmutig auf die Stange. Sie presste die Lippen zusammen, als ihr Blick auf ihre mehrfach gestopfte weiße Strumpfhose fiel. Das war kein Grund, sich zu schämen, auch den anderen Mädchen mangelte es an allem, viele trugen Tutus mit kleinen Löchern, einige hatten notdürftig geflickte Schuhe an, und doch wünschte Audrey sich, es sei anders.
»Un, deux, trois, demi-plié .«
Audrey schloss die Augen und gab sich den Klängen des Grammofons hin. Sie tauchte ab in eine schillernde Welt, sah sich als Primaballerina in schneeweißem Tutu mit fedrigen Volants, makellosen Spitzenschuhen und weißen Blüten in den braunen Haaren auf der Bühne stehen und die Odette im Schwanensee tanzen. Das war ihre Flucht aus dem kriegsbestimmten Alltag, ihr Traum, dem sie nachhing, wenn sie sich mal wieder von ihrem knurrenden Magen ablenken wollte oder von der Angst um ihre beiden älteren Brüder. Alex versteckte sich irgendwo im Untergrund, und Ian war vor den Augen der schockierten Familie zur Zwangsarbeit nach Deutschland abtransportiert worden.
Ein leichter Schwindel erfasste Audrey, als sie sich wieder aufrichtete, um in die nächste Position zu wechseln, doch hinter ihren geschlossenen Lidern sah sie sich noch immer als gefeierte Ballerina, die tosenden Applaus genoss.
»Was ist mit dir, Edda?«, drang die besorgte Stimme Madame Marovas an ihr Ohr. »Ist dir nicht gut?«
Audrey öffnete die Augen und versuchte, den Schwindel wegzublinzeln. »Nein, es geht schon.« Sie hatte Angst, Madame Marova würde sie vom Training ausschließen, wenn sie zugab, wie schwach auf den Beinen sie sich fühlte.
»Schluss für heute!« Die Ballettlehrerin klatschte in die Hände. »Nicht, dass du uns noch umkippst, Edda. So wie Vicky letzte Woche. Dieser verdammte Krieg bringt uns alle an unsere Grenzen. Habt ihr noch genügend Lebensmittel zu Hause, Edda?«
Audrey blickte sie nur stumm an, woraufhin Madame sich unwirsch an die Stirn fasste. »Was für eine alberne Frage, entschuldige, Kind. Wer wird in diesen Zeiten schon noch satt.«
Der Maiabend war angenehm mild. Die Abendsonne übergoss Arnheim mit weichem Licht, ließ die gepflegten Wege des Parks, den Audrey auf ihrem Heimweg durchquerte, mit all den Blumenbeeten und Brunnen aufleuchten. Die Stadt hätte idyllisch gewirkt, wären nicht überall deutsche Soldaten gewesen, die müßig herumstanden und alles und jeden beobachteten.
Bald hatte Audrey das alte Gutshaus der Großeltern erreicht, in dem sie und ihre Mutter Unterschlupf gefunden hatten. Es war einst ein stattliches Gebäude gewesen, doch seit Längerem waren einige Reparaturen fällig - zwei Fenster hatten einen Sprung, und der letzte Frühlingssturm hatte mehrere Dachziegel herabgeweht. In dieser vom Krieg, dem Hunger und der ständigen Angst vor den Besatzern beherrschten Zeit hatte allerdings niemand Muße oder die Möglichkeit, sich um solche Arbeiten zu kümmern.
Audrey knurrte der Magen, ein vertrautes hohles Gefühl. Zu Mittag hatte es nur eine dünne Suppe gegeben, und sie hoffte, dass es zum Abendessen etwas anderes als dieses scheußliche Brot aus Erbsenmehl geben würde.
»Da bist du ja, Kind«, begrüßte Großvater sie, der vor der Haustür Unkraut auszupfte. »Komm rein, wir warten schon mit dem Essen auf dich.«
»Erbsenmehlbrot?«, fragte Audrey mit gerümpfter Nase.
Ihr Großvater lachte. »Nun stell dich nicht so an. Das ist eine Delikatesse. Ganze Nationen würden uns Holländer beneiden, wenn sie von unserem köstlichen Brot aus Erbsenmehl wüssten.«
»Ganz bestimmt«, murmelte Audrey ironisch.
»Aber es gibt einen Rest von Großmutters selbst gemachter Himbeermarmelade dazu«, versprach Großvater und begleitete sie ins Haus.
»Na, wenigstens etwas.«
Ella und ihre Großmutter saßen bereits in der Küche am Tisch.
»Wie war es im Ballett?«, erkundigte sich ihre Mutter, während sie das Brot verteilte. Jedem stand nur eine bescheidene Scheibe zu.
»Schön. Wie immer.« Einen Moment tauchten vor Audreys Augen wieder Szenen einer großartigen Ballettaufführung auf, mit ihr als Primaballerina, wie sie sich anmutig und voller Grazie den Bewegungen hingab. »Vicky kommt nicht mehr. Madame sagt, sie sei so unterernährt, dass es zu gefährlich für sie wäre zu tanzen.«
Ella antwortete nicht, ließ aber ihren Blick über Audreys knochige Gestalt schweifen. Rasch band diese sich ihre Serviette vor die Brust, um ihren Körper zu verbergen, und kaute beinahe trotzig auf einem Stück Brotrinde herum. Undenkbar, dass Mutter ihr das Tanzen verbieten würde. Ohne das Ballett, von dem sie unaufhörlich träumte, wäre sie nur noch ein halber Mensch. Die Fantasie vom Ballett half ihr abends in den Schlaf, selbst wenn sie hungrig war, und Träume vom Tanzen lenkten sie tagsüber ab, wenn sie an ihre Brüder denken musste, die wer weiß wo waren.
Großvater, der Ellas Blick ebenfalls bemerkt hatte, sprang für seine Enkelin in die Bresche. »Na, na, so weit wird es sicher nicht kommen, dass unsere Audrey nicht mehr tanzen kann. Es ist fast Sommer, und Großmutters Garten gibt schon noch ein bisschen was Essbares her, nicht wahr?«
Wie zur Bekräftigung schob Großmutter ihr das Marmeladenglas herüber. »Iss, mein Kind.«
»Ich habe nur Angst vor dem kommenden Winter«, murmelte Großvater und schaute gedankenverloren in die Ferne. »Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Der Winter wird hart.«
»Wenn wir nur mal wieder Nachricht von den Jungs bekommen würden«, seufzte Ella.
Audrey hielt den Kopf gesenkt, um den Schmerz in den Augen ihrer Mutter nicht sehen zu müssen. Es schnitt ihr jedes Mal ins Herz, wenn von ihren Brüdern...
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