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Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit grüßte Alexander Ivens zurück. Dieser Gruß war der erste Fehler des Tages - oder die erste glückliche Fügung, je nachdem, wie man es betrachtete. Die zweite Wendung des Tages, die ebenfalls je nach Standpunkt als Missgeschick oder Glücksfall angesehen werden konnte, folgte am frühen Nachmittag in Form eines unerwarteten Anrufes.
Doch bis dahin waren es noch knapp sieben Stunden. Jetzt zeigte die Uhr kurz nach neun, und Ivens war spät dran. Obwohl heute sein erster dienstfreier Tag seit Wochen war, stand ein wichtiger Termin auf der Agenda - zumindest hatte sein knurrender Magen entschieden, dass dieser Termin unaufschiebbar war. Er hatte einen Tisch in seinem Lieblingscafé reserviert, und von seinen zahlreichen vorherigen Besuchen dort wusste er, dass ein exzellentes Frühstücksbüfett auf ihn wartete.
Gerade hatte er die Wohnungstür hinter sich zugezogen und die ersten Stufen im Treppenhaus genommen, als ihm eine junge Frau über den Weg lief und ihm ein überschwängliches »Guten Morgen« entgegenschleuderte.
Normalerweise vermied Ivens jedes unnötige Wort in den frühen Morgenstunden, und an jedem anderen Tag wäre der Gruß unbeachtet verhallt wie das Dröhnen der ständig an seiner Innenstadtwohnung vorbeifahrenden Busse. Dabei war Ivens keineswegs ein unhöflicher Mensch. Es lag schlicht an der Uhrzeit - Ivens war ein absoluter Morgenmuffel. Heute jedoch hatte er ausgesprochen gute Laune, und daher grüßte er zurück.
Prompt nahm die junge Dame seine Freundlichkeit als Anlass zu einem kurzen Small Talk.
»Das müssen Sie sehen. Es ist einfach unglaublich!«
Ivens hob die Augenbrauen. »Was ist unglaublich?«
»Ach, kommen Sie! Raten Sie einfach, was er gemacht hat.«
»Was wer gemacht hat?« Ivens begann, an dem Verstand der Frau zu zweifeln. Kurz überlegte er, wo er die etwas pummelige Blondine mit den rosa gefärbten Haarsträhnen und den waghalsig hohen Stöckelschuhen einordnen sollte. Wohnte sie hier? Er konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal im Haus gesehen zu haben. Vermutlich eine Freundin des Studenten von oben, spekulierte Ivens.
»Sie haben wohl nicht auf dem Schirm, was heute abgeht, oder?«, durchbrach sie seine Gedankengänge. »Mensch, heute ist CD! Komohoto übertrifft einfach alles, was bisher dagewesen ist.«
Augenblicklich wich Ivens' gute Laune, als hätte ihm jemand eine schallende Ohrfeige verpasst. Wortlos drehte er sich um und nahm die Treppenstufen zurück in seine Wohnung. Dort kramte er eilig seine alte Sonnenbrille aus dem Schlafzimmerschrank.
Als Ivens auf die Straße trat, tobte in der Innenstadt bereits der Mob. Die Touristen tummelten sich wie Ameisen um einen saftigen Leckerbissen, zahllose menschliche Körper, dicht aneinandergedrängt, so weit das Auge reichte. Unzählige Minidrohnen, ausgestattet mit winzigen hochauflösenden Kameras, erfüllten die Luft mit einem lautstarken Brummen. Mehrere Fernsehsender hatten Gerüste aufgebaut, die meterhoch aufragten wie Flutlichtmasten. Oben auf den Plattformen sammelten riesige Objektive unablässig die Farben, Formen und Bewegungen der Szenerie und schickten sie hinaus in die ganze Welt. Weiter unten angebrachte Richtmikrofone selektierten aus dem Stimmengewirr der Massen die spontanen Meinungsäußerungen, um daraus das allgemeine Stimmungsbild wiedergeben zu können.
Ivens war sich sicher, wie dieses Meinungsbild ausfallen würde - nämlich so wie immer: ein Jahrhundertwerk; ein Fest für die Sinne; unbändige Kreativität im gekonnten Spiel zwischen Moderne und Geschichte.
Zum Glück filterten die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille das Schlimmste dieser »unbändigen Kreativität« heraus.
Ivens drängte sich durch die Menschentrauben, die die Fassaden der mittelalterlichen Giebelgebäude und Kirchen der Innenstadt bestaunten. Doch weit kam er nicht. Gerade als er neben dem Rathaus eine schmale, fast menschenleere Gasse erspäht hatte, die aufgrund der eng stehenden Mauern nicht als Aussichtspunkt für die Touristen geeignet war, spürte er eine Hand auf seiner Schulter.
»Hauptkommissar Ivens. So ein Zufall. Kommen Sie - Sie können natürlich mit auf den Ehrenbalkon.«
Ivens sackte förmlich in sich zusammen. Auch das noch, dachte er. Wenn die Frau im Treppenhaus ihn doch nur nicht aufgehalten hätte. Jetzt stand der Totengräber seines gemütlichen Frühstücks ausgerechnet in Gestalt von Oscar Emmerich vor ihm.
Emmerich war stellvertretender Oberbürgermeister der Stadt und Vorsitzender des Polizeiausschusses, was ihn quasi zu seinem ranghöchsten Vorgesetzten innerhalb der Stadtmauern machte. Wie immer unterstrich Emmerich an diesem Morgen seinen hohen Amtsstatus durch einen vorbildlich sitzenden Anzug in Kombination mit einem blütenreinen weißen Hemd. Nur die Krawatte sprang mit einem kräftigen Farbmuster mehr ins Auge als gewohnt.
Ivens verspürte nicht die geringste Lust, Emmerichs spontaner Einladung zu folgen. Die Aussicht, in wenigen Minuten neben lauter Anzugträgern auf dem Ehrenbalkon des Rathauses zu stehen und Konversation betreiben zu müssen, ließ ihn schaudern. Verzweifelt startete er einen letzten Versuch, seine Vormittagspläne zu retten.
»Vielen Dank für die Einladung. Aber ich habe noch nicht gefrühstückt und wollte gerade .«
»Nur keine falsche Bescheidenheit«, unterbrach Emmerich und zog ihn in Richtung Rathaus. »Und nehmen Sie um Himmels willen diese alberne Sonnenbrille ab. Sie verpassen ja das Beste!«
Ivens seufzte und fügte sich seinem Schicksal. Statt die enge Gasse in Richtung seines Stammcafés zu nehmen, trottete er hinter Oscar Emmerich direkt in das Rathaus hinein. Auf dem Weg die Treppen hinauf zum Sitzungssaal, an den sich der große Balkon des Rathauses mit Panoramablick auf das Herz der Innenstadt anschloss, steckte er resigniert die Sonnenbrille in seine Jackentasche.
Sie hatten den Balkon soeben erreicht, als der Oberbürgermeister zur Eröffnungsrede der Feierlichkeiten ansetzte. Gleichzeitig mit seinen ersten Worten wichen die Gäste auf dem Balkon ein paar Schritte zurück, um dem Stadtoberhaupt seine gewohnte exponierte Stellung zukommen zu lassen. Durch diese Aktion befanden sich Ivens und Emmerich plötzlich in der vordersten Reihe direkt hinter dem Bürgermeister mit freiem Blick auf den Prinzipalmarkt, der das Zentrum der Stadt markierte. Das Tonsignal des Headsets, das der Bürgermeister trug, wurde von den überall in der Innenstadt postierten Funklautsprechern aufgefangen und in jeden Winkel und jede Gasse getragen.
»Es ist einfach fantastisch«, begann der Bürgermeister seine Rede.
Mein Gott! Fassungslos schüttelte Ivens den Kopf. Es war weit schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Vom warmen Naturton des altehrwürdigen Baumberger Sandsteins, aus dem die eng aneinandergereihten Giebelhäuser des Prinzipalmarktes mit den großen Bogengängen erbaut waren, war nichts mehr zu sehen. Stattdessen erreichte ein Kaleidoskop von Farben seine ungeschützten Augen, brannte sich durch die Pupillen auf seine Netzhaut und verursachte dort wahre Explosionen von Sinnesreizen in den Sehnerven.
»Dies ist wohl einer der bedeutendsten Colour-Days, die wir je hatten«, fuhr der Bürgermeister fort.
Ivens' Augen begannen zu schmerzen: Neongelb neben Giftgrün; ein knalliges Türkis, durchmischt mit leuchtendem Hellblau; helles Violett in allen erdenklichen Schattierungen; das Ganze dominiert von einem allgegenwärtigen schreienden Pink, so weit er sehen konnte. Es war, als habe jemand einen gigantischen funkelnden Regenbogen in Millionen Einzelteile zersplittert, einmal grob durchgemischt und dann mit einem wilden Sturmschrei sämtliche Straßen und Häuser der Innenstadt damit beworfen.
»Alle fünf Jahre feiern wir dieses Farbenfest, und lassen Sie mich eins sagen .« Dem Bürgermeister stockten vor Begeisterung die Worte. »Noch nie durfte unsere Stadt so etwas Wunderbares und Grandioses erleben.«
Ivens überkam ein leichter Brechreiz. Seine Hand glitt unwillkürlich in seine Jackentasche, wo die schützende Sonnenbrille ihr erzwungenes Schattendasein fristete. Er hatte in dem Moment geahnt, was auf ihn zukommen würde, als die Frau im Hausflur ihr »einfach unglaublich« und den Namen »Komohoto« zum Besten gab.
Akio Komohoto. Dieser junge japanische Künstler war bekannt für seine Farbexplosionen - oder besser für seine Farbverirrungen, wie Ivens fand. Er hatte schon einige Arbeiten von ihm gesehen. Aber diese hier übertraf alles. Der Kerl hatte nicht nur einzelne freie Fassadenflächen der Stadt für seine Kunst missbraucht, wie es bei den bisherigen Colour-Days üblich war. Stattdessen hatte er den gesamten zentralen Straßenzug der Innenstadt, jedes Gebäude über eine Strecke von mehr als einem halben Kilometer samt Giebeln und Bogengängen und selbst das zwischenliegende Kopfsteinpflaster mit seinen Farbexzessen überzogen. Der Prinzipalmarkt sah aus wie nach einem indischen Holi-Farbenfest - nur dass nicht Menschen, sondern wehrlose Bauwerke Opfer der ungezügelten Farbbeutelschlacht geworden waren.
Ivens beugte sich ein Stück vor, um einen Blick hinunter auf Sankt Lamberti erhaschen zu können. Sofort bereute er es. Die spätgotische Kirche, die den Prinzipalmarkt zur nördlichen Seite abschloss, war nicht wiederzuerkennen. Komohoto hatte dem Sakralbau breite Farbringe verpasst, die denen eines Leuchtturms ähnelten. Allerdings erinnerten die Farben eher an eine Stapelpyramide für Kleinkinder. Aber auch dieser Vergleich war noch geschönt. Die Farben, allesamt...
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