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Seit dem Münchner Abkommen im September 1938 steht Europa vor der Drohung eines neuen Weltkriegs. Simone Weil, Philosophin, Gewerkschaftlerin, Aktivistin, sieht sich unter äußerstem Druck: Was kann sie, die radikale Pazifistin, tun, wenn Hitlers Deutschland tatsächlich den Krieg beginnt? In dieser Extremsituation schreibt sie einen ihrer berühmtesten Texte, eine souveräne Darstellung des homerischen Epos, zugleich die minutiöse Analyse dessen, was die kriegerische Gewalt macht aus den Menschen und der Welt. Simone Weil weiß, »dass man die Gewalt niemals bewundern soll, die Feinde nicht hassen und die Unglücklichen nicht verachten«, und erkennt gerade daraus die menschliche Pflicht zum Widerstand. Wolfgang Matz stellt in seinem Essay sodann eine der großen Reflexionen über Krieg und Frieden zur Diskussion: Was leistet Simone Weils Machttheorie gegenüber den heutigen Konflikten? Wo sind die Grenzen ihres pessimistischen Begriffs der Gewalt? Wie aktuell ist ihre Idee einer universalen Moral? Simone Weils Kritik des Pazifismus und ihre dennoch illusionslose Analyse der Realität des Krieges ist die konzentrierte Bilanz des politischen und moralischen Zwiespalts, der im 21. Jahrhundert von Neuem aufbricht.
Der wahre Held, das wahre Thema, die Mitte der Ilias ist die Gewalt. Die Gewalt, die von Menschen ausgeübt wird, die Gewalt, welche die Menschen unterwirft, die Gewalt, vor der das Fleisch der Menschen zurückschreckt. Die menschliche Seele erscheint hier unaufhörlich verändert durch ihr Verhältnis zur Gewalt, wird fortgerissen, geblendet durch die Gewalt, die sie zu beherrschen glaubt, wird gebeugt unter der bezwingenden Gewalt, welche sie erleidet. Wer erträumt hatte, die Gewalt sei, dank des Fortschritts, nunmehr Teil der Vergangenheit, erblickte in diesem Gedicht vielleicht ein bloßes Dokument; wer aber zu erkennen vermag, dass die Gewalt, heute wie einst, die Mitte ist von jeder menschlichen Geschichte, der findet in ihr den schönsten, den reinsten Spiegel.
Die Gewalt ist das, was aus jedem, der ihr unterworfen ist, ein Ding macht. Geht ihre Anwendung ins Extrem, so macht sie aus dem Menschen im wortwörtlichen Sinn ein Ding, denn sie macht aus ihm eine Leiche. Da war jemand, und einen Augenblick später ist da niemand. Dieses Bild stellt uns die Ilias unermüdlich vor Augen:
. die Pferde
Ließen die leeren Wagen scheppern auf den Straßen des Kriegs.
Trauernd um ihre untadligen Lenker. Am Boden
Lagen sie, kostbarer den Geiern als ihren Frauen.*
Der Held ist ein Ding, hinterm Wagen durch den Staub geschleift:
. rundum das Haar
Schwarz ausgebreitet, und sein Kopf ganz im Staube
Lag, anmutig einst; nun Zeus seinen Feinden
Gewährte, ihn auf heimischer Erde zu schänden.
Die Bitternis eines solchen Bildes kosten wir rein, es mildert sie keine stärkende Erfindung, keine tröstliche Unsterblichkeit, kein schaler Heiligenschein von Ruhm oder Vaterland.
Seine Seele schwebte hinaus aus den Gliedern, ging in den Hades,
Weinend über ihr Schicksal, verlassend Mannkraft und Jugend.
Ergreifender noch, durch den so schmerzlichen Kontrast, ist das plötzliche, gleich wieder verlöschende Bild einer anderen Welt, die ferne, zerbrechliche und rührende Welt von Frieden, Familie, die Welt, wo jeder Mensch für die ihm Nächsten das ist, was am meisten zählt:
Sie rief ihre Dienerinnen mit schönem Haar durch die Wohnstatt,
Ans Feuer den großen Dreifuß zu stellen, damit es
Für Hektor gebe ein warmes Bad bei der Rückkehr vom Kampf.
Die Ahnungslose! Sie wusste es nicht, fern von den warmen Bädern
Hatte Achills Arm ihn unterworfen, mit Hilfe der grünäugigen Athene.
Natürlich, er war fern von den warmen Bädern, der Unglückliche. Er war nicht der einzige. Fast die ganze Ilias spielt fern von den warmen Bädern. Fast das ganze menschliche Leben spielte immer fern von den warmen Bädern.
Die Gewalt, die tötet, ist eine summarische, grobe Form der Gewalt. Um wie vieles verschiedenartiger im Vorgehen, um wie vieles überraschender in den Wirkungen ist die andere Gewalt, jene, die nicht tötet; das heißt, die noch nicht tötet. Sie wird ganz sicher töten, oder vielleicht töten, oder schwebt auch nur über dem Menschen, den sie im nächsten Augenblick töten kann; in jedem Fall macht sie den Menschen zu Stein. Aus der Macht, einen Menschen in ein Ding zu verwandeln, indem man ihn sterben lässt, entspringt eine andere Macht, noch viel wunderbarer, nämlich die, ein Ding zu machen aus einem Menschen, der weiterlebt. Er ist lebendig, hat eine Seele; er ist trotzdem ein Ding. Hochseltsames Wesen, ein Ding mit einer Seele; seltsamer Zustand für die Seele. Wer kann sagen, was es sie in jedem Augenblick kostet sich anzupassen, zu winden und zu verbiegen? Sie ist nicht geschaffen, in einem Ding zu wohnen; wird sie gezwungen, gibt es nichts in ihr, was frei wäre vom Erleiden der Gewalt.
Ein waffenloser, nackter Mensch, auf den sich eine Waffe richtet, wird zur Leiche, bevor sie ihn trifft. Einen Augenblick noch überlegt er, handelt, hofft:
Er dachte nach, reglos. Der andre kommt näher, ganz verschreckt,
Voll Angst, seine Knie zu berühren. Er wollte in seinem Herzen
Entkommen dem bösen Tod, dem schwarzen Schicksal .
Und mit dem Arm umschlang er flehend die Knie,
Mit dem andern hielt er die spitze Lanze und ließ sie nicht los .
Doch bald hat er verstanden, dass die Waffe sich nicht abwenden wird, und obwohl er noch atmet, ist er nur noch Materie, er denkt noch und kann nicht mehr denken:
So sprach des Priamos glänzender Sohn
In flehenden Worten; er vernahm die unerbittliche Stimme;
......................
Er sprach; dem anderen zittern Knie und Herz;
Er lässt los den Speer und stürzt rückwärts, erhebt die Hände,
Die beiden Hände. Achill zieht sein scharfes Schwert,
Trifft ihn am Schlüsselbein, nah am Hals; und ganz und gar
Dringt ein das zweischneidige Schwert. Er, auf dem Gesicht, am Boden,
Liegt da, und das schwarze Blut strömt und befeuchtet den Boden.
Wenn außerhalb von jedem Kampf ein schwacher, unbewaffneter Fremder einen Krieger anfleht, so ist er nicht schon deshalb zum Tod verurteilt; doch es reicht ein Augenblick von Ungeduld auf Seiten des Kriegers, und ihm ist das Leben geraubt. Das genügt, und schon verliert sein Fleisch die wichtigste Eigenschaft von lebendigem Fleisch. Ein Stück lebendiges Fleisch zeigt sein Leben vor allem durch das Zusammenzucken; ein Froschschenkel zuckt unter dem elektrischen Schlag; der nahe Anblick oder die Berührung mit etwas Grauenvollem oder Schrecklichem bewirkt das Zusammenzucken jedes beliebigen Bündels aus Fleisch, Nerven und Muskeln. Doch wer so fleht, erbebt nicht, zittert nicht; es ist ihm nicht mehr erlaubt; seine Lippen berühren jetzt den Gegenstand, der für ihn am schwersten beladen ist mit Grauen:
Man sah nicht eintreten den großen Priamos. Er blieb stehen,
Umschlang die Knie von Achill, küsste seine Hände,
Die schrecklichen, männermordenden, die ihm so viele Söhne massakriert.
Das Schauspiel eines Mannes, hineingestürzt in ein solches Maß von Unglück, macht uns erstarren wie der Anblick einer Leiche:
So wie das harte Unglück einen ergreift, der in seinem Land
Getötet hat, und der ankommt an der Wohnstatt eines anderen,
Eines Reichen; ein Schauder erfasst, die ihn sehen;
So schauderte Achill, als er den göttlichen Priamos sah.
Auch die andern schauderten, als sie einander erblickten.
Doch das ist nur ein Augenblick, und vergessen ist bald sogar die Gegenwart des Unglücklichen:
Er sprach. Der andre, seines Vaters gedenkend, wollte weinen;
Er nahm an der Hand den Alten und stieß ihn ein wenig zurück.
Beide erinnerten sich, der eine an den männermordenden Hektor,
Und er verging in Tränen, zu Füßen des Achill, am Boden;
Aber Achill beweinte den Vater, und für Augenblicke auch
Patroklos; beider Schluchzen erfüllte die Wohnstatt.
Nicht aus Unempfindlichkeit stößt Achill mit einer Geste den an seine Knie gepressten Alten zu Boden; die Worte des Priamos, der seinen alten Vater erwähnt, haben ihn zu Tränen bewegt. Nur ist er ganz einfach so frei in seinem Verhalten, in seinen Bewegungen, als sei es kein Flehender, sondern ein lebloser Gegenstand, was dort seine Knie berührt. Die menschlichen Wesen um uns herum haben allein durch ihre Gegenwart eine Macht, die nur sie besitzen, nämlich dass sie jede der Bewegungen, die unser Körper andeutet, aufhalten, unterdrücken, verändern können; ein Vorübergehender lenkt unseren Schritt auf der Straße nicht in gleicher Weise ab wie ein Wegweiser; wir stehen nicht auf, wir gehen nicht, wir setzen uns nicht auf die gleiche Weise, wenn wir in unserem Zimmer allein sind oder in Anwesenheit eines Besuchers. Doch dieser undefinierbare Einfluss menschlicher Gegenwart wird nicht ausgeübt von Menschen, denen ein Augenblick von Ungeduld das Leben rauben kann, bevor noch ein Gedanke die Zeit hatte, sie zum Tod zu verurteilen. Vor ihnen bewegen sich die anderen, als wären sie nicht da; und sie selbst, ihrerseits, in der unmittelbaren Gefahr, jeden Augenblick ins Nichts gestürzt zu werden, imitieren dieses Nichts. Gestoßen, stürzen sie, gestürzt, bleiben sie liegen, so lange, bis der Zufall im Geist von irgendwem den Gedanken weckt, ihnen aufzuhelfen. Doch endlich wieder aufgerichtet, freundlicher Worte gewürdigt, gestatten sie sich nicht, diese...
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