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Dieses Buch erzählt Familiengeschichte und es erzählt politische Geschichte. Beides ist im Fall der Familie von Gagern nicht zu trennen. Zwischen zwei Revolutionen (1789/1848) und über zwei Generationen hinweg waren Angehörige der aus dem niederen Reichsadel stammenden Sippe an fast allen bedeutenden Ereignissen und Weichenstellungen der deutschen Politik beteiligt - beginnend mit dem Ende des Alten Reiches über die "Befreiungskriege" gegen Napoleon, den Wiener Kongress und die national-liberale Oppositionsbewegung des Vormärz bis hin zur Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. In dieses erste frei gewählte deutsche Parlament zogen mit Heinrich und Max von Gagern gleich zwei Mitglieder der Familie als Abgeordnete ein; Heinrich von Gagern gehörte als Präsident der Paulskirchenversammlung und Reichsministerpräsident zu den bekanntesten und einflussreichsten Persönlichkeiten des Revolutionsjahres 1848/49, dessen 175. Jubiläum 2023 begangen wird.
Das Scheitern der Nationalversammlung beim Versuch, einen einheitlichen deutschen Staat mit freiheitlich-demokratischer Verfassung zu schaffen, markierte nicht nur einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte, sondern auch in der Gagernschen Familienhistorie. Danach gelang es keinem Angehörigen der Familie mehr, eine ähnlich herausragende öffentliche Rolle zu spielen wie zuvor Hans Christoph von Gagern und seinen drei "politischen Söhnen" Friedrich, Heinrich und Max.
Auf diese vier Vertreter der Familie möchte ich mich denn auch in diesem Buch konzentrieren. Als ideale Lesende habe ich Menschen vor Augen, die sich für Politik und Geschichte interessieren, dazu aber nicht unbedingt eine akademische Abhandlung durcharbeiten möchten. Deshalb habe ich die Form der Familienerzählung gewählt, die nicht nur das politische Denken und Handeln der Protagonisten beleuchtet, sondern auch ihre wechselseitigen persönlichen Beziehungen. Ergänzt wird die Erzählung durch analytische Passagen, in denen einzelne Ereignisse oder Entwicklungen genauer erläutert werden, die zum Verständnis und zur Einordnung wichtig sind.
Die Bedeutung der Familie von Gagern insbesondere in den Jahren 1848/49 belegt Paul Bürdes Lithografie der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Darauf sind gleich drei Mitglieder der Familie zu identifizieren: Heinrich von Gagern als Parlamentspräsident in der Bildmitte, sein Bruder Max unter den Abgeordneten vor der Besuchergalerie und Hans Christoph von Gagern als Zuschauer auf dieser Galerie (beide im linken Bildbereich).
Quelle: bpk/Deutsches Historisches Museum/Sebastian Ahlers
Besonderes Augenmerk möchte ich auf zwei Fragenkomplexe legen: Der erste betrifft das politische Zusammenwirken der Familienmitglieder, Heinrich von Gagern nannte es die "Farbe der Familie". In dem 1856 von ihm veröffentlichten Buch "Das Leben des Generals Friedrich von Gagern" stellte er sich und seine Brüder in eine direkte Traditionslinie zum Vater, indem er erklärte, Hans Christoph von Gagern habe "an dem Lose des zerstörten Vaterlandes" gearbeitet und diese Aufgabe an die Söhne übertragen; an anderer Stelle bezeichnete er die "parlamentarische Entwicklung" als gemeinsames Ziel beider Gagern-Generationen. Diese Selbstbeschreibung möchte ich jedoch nicht einfach übernehmen, sondern einer kritischen Prüfung unterziehen. Gab es so etwas wie ein gemeinsames politisches Projekt der Brüder? Und wenn ja: Haben die Söhne versucht, das politische Werk ihres Vaters zu vollenden? Oder haben sie sich im Gegenteil von dessen Vorbild gelöst und sind eigene Wege gegangen?
Der zweite Fragenkomplex bezieht sich auf das Verhältnis der Familie von Gagern zur Demokratie und ihre Rolle in der deutschen Demokratiegeschichte. Wobei ich neben der nationalen auch die regionale und die europäische Ebene in den Blick nehmen möchte. Denn die Geschichte der Familie ist nicht nur eng verbunden mit dem Versuch, einen deutschen Nationalstaat zu schaffen, sondern auch mit der Entstehung des Herzogtums Nassau und der Entwicklung des Großherzogtums Hessen - beides staatliche Vorläufer des heutigen Bundeslandes Hessen. Hinzu kommt Hans Christoph von Gagerns Rolle in der internationalen Diplomatie sowie die Beteiligung von Vater und Söhnen an den Geschicken der Niederlande im frühen 19. Jahrhundert.
Mit meinem demokratiehistorischen Ansatz greife ich eine aktuelle Tendenz in Geschichts- und Politikwissenschaft auf, die Entwicklung der modernen Demokratie neu in den Blick zu nehmen und zu bewerten.2 Parallel dazu bemühen sich seit einigen Jahren Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und politischer Bildung um eine Neuausrichtung der deutschen Erinnerungskultur mit dem Ziel, die bislang dominierende Orientierung an der Diktaturgeschichte (NS-Zeit, DDR) durch die Vergegenwärtigung demokratischer Traditionen zu ergänzen. "In den Fokus rückt nunmehr auch das, was vorbildhaft ist - ohne dass dadurch vergessen wird, was sich nicht wiederholen darf."3
2021 hat der Bundestag die Stiftung "Orte der deutschen Demokratiegeschichte" ins Leben gerufen, verbunden mit dem Ziel, insbesondere die Paulskirche - und damit die Erinnerung an die Nationalversammlung von 1848/49 - stärker im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einem Gastbeitrag für die Wochenzeitung "Die Zeit" die Frage aufgeworfen: "Gibt es nicht auch Ereignisse und Vorbilder in unserer Demokratiegeschichte, die uns inspirieren, die Ansporn geben und Mut machen können? [.] Errungenschaften, die unsere Demokratie bis heute prägen und stark machen; Heldinnen und Helden, auf die wir stolz sein können?"4 War Heinrich von Gagern als Präsident der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche ein solches Vorbild? Welches Demokratieverständnis hatten er, sein Vater Hans Christoph und seine Brüder Max und Friedrich? Und welchen Beitrag haben sie in ihrer Zeit zur Demokratisierung der politischen Verhältnisse geleistet? Oder waren sie im Gegenteil "Verräter" und "Totengräber der deutschen Revolution von 1848", wie der taz-Journalist Klaus-Peter Klingelschmitt 1998 in seiner Streitschrift "Der Anti-Gagern" behauptet hat?5 Diesen - keineswegs einfach zu beantwortenden Fragen - möchte ich im Verlauf dieses Buches nachgehen, um sie im Schlusskapitel noch einmal zusammenfassend zu diskutieren.
Stützen konnte ich mich bei meinen Recherchen auf die Vorarbeit einiger - weniger - Historiker, die sich bereits in verschiedener Weise mit den Biografien einzelner Mitglieder der Familie von Gagern befasst haben. Allerdings ist es frappierend, wie gering das Interesse der deutschen Geschichtswissenschaft an dieser Familie insgesamt war und ist. Den aktuellen Stand der Forschung markiert die Habilitationsschrift von Frank Möller "Heinrich von Gagern. Eine Biographie" aus dem Jahr 2004. Davor gab es lediglich Mitte bis Ende der 1950er eine kurze Gagern-Konjunktur, verbunden mit dem Namen Paul Wentzcke: 1957 veröffentlichte Wentzcke den schmalen Band "Heinrich von Gagern. Vorkämpfer für deutsche Einheit und Volksvertretung"; zwei Jahre später brachte er gemeinsam mit Wolfgang Klötzer eine Quellenedition mit Briefen und Reden Heinrich von Gagerns heraus ("Deutscher Liberalismus im Vormärz").6 Unabhängig davon legte Hellmuth Rößler 1957 unter dem Titel "Zwischen Revolution und Reaktion" eine umfangreiche Lebensbeschreibung Hans Christoph von Gagerns vor. Der persönlichen Bekanntschaft des "Geschichtsschreibers der Päpste" Ludwig von Pastor mit Max von Gagern schließlich verdankt sich das "Leben des Freiherrn Max von Gagern" aus dem Jahr 1912, eine Biografie, die trotz ihres Alters immer noch sehr wertvoll ist, vor allem wegen der zahlreichen Zitate, die Pastor dem "begnadeten Erzähler" Max von Gagern in persönlichen Gesprächen abgelauscht hat, und die nirgendwo anders festgehalten sind.
Wobei an Originalquellen ansonsten kein Mangel herrscht. Vor allem Hans Christoph von Gagern war ein überaus fleißiger Schreiber, wie nicht zuletzt seine fünf Bände umfassenden Memoiren "Mein Anteil an der Politik" oder seine in sieben Bänden veröffentlichten "Resultate der Sittengeschichte" belegen. Um das Selbstverständnis seiner Söhne nachvollziehen zu können, ist das bereits erwähnte "Leben des Generals Friedrich von Gagern" eine wichtige Quelle. Die Reden Heinrich von Gagerns in der Paulskirche (sowie die einzige seines Bruders Max) sind im "Stenographischen Bericht über die Verhandlungen der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main" dokumentiert. Bedeutendste Fundgrube für eine Analyse der Gagern-Geschichte ist zweifellos das Familienarchiv, das im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt verwahrt wird. Angesichts eines Bestands, der eine Regalfläche von 24 laufenden Metern umfasst...
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