Kai Focke: Die Königin der Gnome
Die Gitterstäbe waren das Ergebnis meisterlicher Handwerkskunst: Stabil und so dicht nebeneinandergesetzt, dass selbst ein schmales Mädchen nicht durch sie hindurchschlüpfen konnte. Der Schmied durfte mit seiner Leistung zufrieden sein - das schmale Mädchen hinter den Stäben war es nicht. Sie trug ein aus edlen Stoffen geschneidertes, fein besticktes Sommerkleid und perlenbesetzte Riemensandalen. In der Zelle am Eingang des alten Kupferbergwerks wirkte sie daher so deplatziert wie eine Ordensschwester im Freudenhaus. Zudem war dieser Ort eigentlich für Prinzessin Alladt bestimmt gewesen, der Tochter von König Lynhardt, dem Weisen. Duretta gehörte schon zweimal nicht hierher! Sie diente, seitdem sie im Alter von acht Jahren das Waisenhaus verlassen durfte und am Hofe des Königs aufgenommen wurde, der Prinzessin als Kammerzofe - und war zugleich deren beste Freundin.
Was hatte sie hierhergeführt? Noch vor ein paar Stunden vergnügte sie sich zusammen mit Alladt auf dem königlichen Gestüt, das außerhalb der Hauptstadt am Rand des Nebelwalds lag. Alladt trug das besagte Sommerkleid und die Riemensandalen, Geschenke, die sie am Tag zuvor zu ihrem dreizehnten Geburtstag bekommen hatte. Als sie Durettas sehnsüchtige Blicke bemerkte, überredete sie ihre Freundin zum Kleidertausch. Während die beiden Mädchen danach kichernd durch das Herrenhaus tollten, brachen nur einen Steinwurf entfernt fünf mit Säbeln bewaffnete Gestalten aus dem Unterholz des Nebelwalds hervor. Sie stürmten zum Hoftor und überwältigten quasi im Vorbeigehen die verdutzten Wachen. Kurz darauf durchsuchten sie das Gestüt, bis sie auf die beiden Mädchen stießen.
»Fesselt der Prinzessin die Hände!«, befahl einer der Männer - und zeigte auf Duretta. Er überragte seine Kumpane um fast einen Kopf und die Breite seiner Schultern hätten einem Ochsen zur Ehre gereicht. »Die Magd«, fügte er beiläufig hinzu, »werft ihr zum Gesinde und den Wachen in die Scheune.«
Als sie Duretta packten, setzte Alladt zum Protest an, doch ein Blick ihrer Freundin brachte sie zum Schweigen. Die Verwechslung war nicht verwunderlich: Beide besaßen die gleiche Statur, ihre dunkelblonden Haare hatten dieselbe Länge. Obendrein trug Alladt Durettas einfaches Wollkleid und Strohschuhe. Nachdem die vermeintliche Magd in die Scheune gesperrt war, zog sich die Bande mit ihrer Geisel ebenso geschwind in den Wald zurück, wie sie von dort gekommen war.
Mit bebenden Lippen und den Tränen nahe sah sich Duretta in der Zelle um. Das Nachtlager bestand aus Strohballen, ein Eimer diente der Notdurft und die Kerze auf dem Schemel sorgte für spärliches Licht. »Ich musste ja die Heldin spielen«, schluchzte sie und ihre Augen wurden feucht. »Wie komme ich hier wieder raus?«
»Gar nicht«, antwortete eine Fistelstimme aus dem Nichts.
Duretta stutzte. Sie führte oft Selbstgespräche, wenn sie allein war. Dass sie dann Antworten auf ihre Fragen bekam, war jedoch neu.
»Wer bist du?«, fragte sie unsicher. »Zeige dich!«
Langsam wurde zu ihren Füßen ein Wesen sichtbar. Wie ein Mensch besaß es zwei Arme, zwei Beine und einen Kopf, war von gedrungener Gestalt, jedoch gerade einmal so groß wie ein Haushuhn. Es trug einen purpurfarbenen Filzmantel, darunter feine Leinenkleider und Lederstiefel. Nase, Mund und Ohren waren deutlich größer, als sie es hätten sein sollen, ebenso die Augen, die aus einem tellerrunden Gesicht traurig zu Duretta emporblickten.
»Ich bin Nork, ehemaliger König der Stollengnome.«
Das Mädchen wischte die Tränen mit dem Ärmel ihres Kleids beiseite.
»Du bist wirklich ein Gnom«, stellte sie lächelnd fest.
Nork nickte. »Ein Stollengnom, um genau zu sein. Bestlin Bärenwürger, der fiese Räuberhauptmann, hat mich überlistet und mir die Königskrone weggenommen. Nun trägt er sie an einer Kette um den Hals und mein Volk muss ihm zu Diensten sein.«
»Aber ihr Gnome könnt euch unsichtbar machen. Warum nehmt ihr ihm die Krone nicht einfach wieder weg?«, fragte Duretta verwirrt.
»Weil er nun der König der Gnome ist. Wir müssen ihm gehorchen, dürfen ihm keinen Schaden zufügen und ihm daher auch nichts wegnehmen.« Nork seufzte. »Seit Bestlin hier ist, knechtet er uns. Mein Volk wird gezwungen, tagein tagaus Kupfererz abzubauen. Und abends muss ich ihn und seine Kumpane bei ihren Saufgelagen bedienen.«
»Sie betrinken sich jeden Abend?«, hakte Duretta nach.
Nork nickte.
Duretta überlegte kurz, dann schnippte sie mit den Fingern. »Ich weiß, wie wir die Räuber besiegen können. Hör zu!«
»Mach dir keine Hoffnung, Prinzessin! Die Ritter deines Vaters werden unser Versteck niemals finden«, tönte Bestlin Bärenwürger, als er der Gefangenen zur Abendstunde Brot, Käse und einen Krug in die Zelle stellte. »Bis König Lynhardt das Lösegeld zahlt, wirst du unser Gast sein.«
»In dem Krug ist ja Wasser. So bewirtet Ihr Eure Gäste?«, fragte Duretta spitz.
»Wir haben letzte Woche einem fahrenden Händler drei Fässer besten Weißwein abgenommen. Doch das ist nichts für ein kleines Mädchen.«
»Nicht? Das kleine Mädchen würde Euch und Eure Männer locker unter den Tisch trinken!«
Der Räuberhauptmann brach in schallendes Gelächter aus, so laut, dass man Angst haben musste, der gesamte Berg könnte einstürzen.
»Das will ich sehen«, sprach er und führte Duretta aus der Zelle. Vor dem Stolleneingang stand eine wohl frisch errichtete Blockhütte, zu der er die Gefangene bugsierte. Im Unterschied zum kühlen Stollen hatte sich hier draußen die sommerliche Wärme gut gehalten. Die Tür der Blockhütte war daher weit geöffnet und die Fensterläden nach außen geklappt, sodass ab und an ein leichter Luftzug die Kerzen im Innenraum zum Flackern brachte. Um einen großen Tisch herum saßen die übrigen vier Räuber: derbe Gestalten, mit sonnengegerbter Haut, verfilzten Haaren und abgewetzten Lederrüstungen. Einzig ihre Säbel und Dolche waren nicht nur gereinigt, sondern auf Hochglanz poliert. Einen Blick in die finsteren Gesichter ersparte sich Duretta. Ohnehin hätte die schwache Beleuchtung keine Details offenbart - und das war so auch besser. In der hinteren Ecke des Raums entdeckte sie Nork neben einem Weinfass. Mithilfe einer kleinen Leiter konnte der Gnom am Fass heraufklettern, den Wein in Tonkrüge schöpfen und servieren. Sie war erleichtert, ihren neuen Freund zu sehen, ließ sich dies aber nicht anmerken. Während sie mit gesenktem Blick auf einem freien Stuhl Platz nahm, erklärte Bestlin seinen johlenden Kumpanen von ihrer Herausforderung.
»Wir vertreiben uns die Zeit, indem wir reihum Geschichten erzählen oder Späße machen. Danach wird immer getrunken. Jetzt kannst du zeigen, wie lange du dich auf dem Stuhl halten kannst, Prinzessin.«
Da kam auch schon Nork herbei und reichte ihr einen bis zum Rand gefüllten Tonkrug. Die Räuber prosteten Duretta zu und setzten die Krüge an. Wie auf ein Kommando legten sie ihre Köpfe in den Nacken und tranken den Wein in wenigen Zügen. Als sie die Krüge wieder absetzten, wischte sich Duretta demonstrativ mit dem Ärmel ihres Kleids den Mund ab. Ihr Krug war bereits leer.
»Das kann nicht sein«, entfuhr es Bestlin. »Wirnher«, forderte er seinen Nebenmann auf. »Sieh nach, ob sie den Krug heimlich ausgeschüttet hat.«
Der Angesprochene, ein grobschlächtiger Kerl, dessen mickrige Nase und faustgroße Ohren im krassen Gegensatz zueinander standen, prüfte daraufhin ihr Kleid und suchte den Boden ab.
»Alles trocken«, stellte er näselnd fest. »Sie hat den Wein getrunken.«
Die Räuber blickten sich fragend an.
»Ihr hattet vorhin Geschichten erwähnt.« Mit einem unschuldigen Lächeln versuchte Duretta, vom Trinken abzulenken. »Sagt, warum nennt man Euch Bärenwürger?«
Bestlin räusperte sich vernehmlich. »Einst hat mich ein Unwetter überrascht, weshalb ich in einer Höhle Schutz suchen musste. Ich wusste nicht, dass dort ein Bär hauste. Noch bevor ich meine Waffen ziehen konnte, griff mich die Bestie an. Da blieb mir nichts anderes übrig, als sie mit bloßen Händen zu erwürgen.«
»Glaubt ihm kein Wort, Prinzessin«, mischte sich ein anderer Räuber ein. »So wahr ich Sebalt Einohr heiße, so unwahr ist diese Geschichte. Die Gardisten deines Vaters hatten Bestlin wochenlang durch den Nebelwald gejagt. Da er sich auf der Flucht nicht waschen konnte, haben bei seinem Geruch sogar die Bären angefangen zu würgen!«
Alle grölten und klopften sich auf die Schenkel. Sogar Bestlin stimmte mit ein und auch Duretta konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Nork füllte erneut die Krüge, die kurz darauf geleert wurden. Jetzt überraschte es niemanden mehr, dass die vermeintliche Prinzessin ihren Krug zuerst absetzte.
Die Zeit verging und es folgten weitere Anekdoten und Geschichten aus dem Räuberleben. Etwa zwei Stundengläser, nachdem das Trinkgelage begonnen hatte, glitten die ersten beiden Räuber betrunken von ihren Stühlen und schliefen auf dem Holzboden ein.
Auch die Nasen von Wirnher, Sebald und dem kräftigen Bestlin hatte der Alkohol inzwischen dunkelrot gefärbt. Als nach einer weiteren Runde jedoch...