Schweitzer Fachinformationen
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Da drüben ist die Mühle!«
Anna beschattete die Augen mit der Hand und spähte über die träge fließenden Wasser der Rednitz. Ein Stück weit weg am anderen Flussufer stand eine Ansammlung von Bäumen und kleineren Fachwerkgebäuden, die sich um ein stattliches Sandsteinhaus gruppierten. Dies musste sie sein, die Rennmühle von Katzwang, seit alters her genutzt als Mehl- und Walkmühle für den Ort selber und seine Nachbardörfer. Mühlen waren die Fabriken der damaligen Zeit; nur hier konnte man sich eine andere als die menschliche oder tierische Antriebskraft nutzbar machen. Große Wasserräder trieben komplizierte, ganz aus Holz konstruierte Mahl- und Hammerwerke an, mit denen nicht nur Getreide zerkleinert, sondern auch Tuche gewalkt oder Metallprodukte wie Messer oder Nadeln geschliffen und poliert werden konnten.
Die Katzwanger Mühle besaß zwei Mühlräder; eines davon drehte sich schnell, als das kleine Grüppchen sich dem Fluss näherte, und man konnte das Klopfen des Walkhammers weit über den Wiesengrund hören. Die Rennmüller waren schon immer wohlhabende Leute gewesen. Ihnen gehörten neben der Mühle mit dem Wasserrecht noch Wiesen, Weiher, Obstgärten und Wälder, und wie fast alle Mitglieder ihres Berufsstandes betrieben sie als Nebenerwerb noch eine lukrative Schweinezucht.
Anna, ihr Vater und ihr älterer Bruder Michel überquerten den Fluss auf einem Holzsteg nahe beim Wehr. Michel war ein hoch aufgeschossener, dunkelhaariger Sechzehnjähriger mit dem ersten Flaum auf Oberlippe und Wangen. Er zog einen wackeligen Karren hinter sich her, der die gesamte Habe der Familie barg: Zwei irdene Töpfe, eine Eisenpfanne, Decken und Leintücher, drei rupfene Säcke, ein paar Lederstiefel und eine Kiste mit sonstigem Hausrat. Obenauf war ein Stall aus Korbgeflecht gebunden, in dem zwei magere Hühner aufgeregt gackerten. Hinter dem Jungen lief sein Vater, ein hagerer, ältlicher Mann mit schütterem grauem Haar, gelblicher Gesichtsfarbe und eingefallenen Zügen. Dass er nicht gesund war, konnte jeder sehen. Sein Gang war unsicher, und er blieb oft stehen, um zu verschnaufen. Die vierzehnjährige Anna, ein schlankes, dunkelhaariges Kind, folgte den beiden über das Brücklein. Sie trug ein Bündel auf dem Rücken, das all ihre Schätze enthielt: einen schwarzen Sonntagsgoller, eine zweite Schürze, ein Zopfband, eine billige Ansteckfibel, die einmal ihrer Mutter gehört hatte, und einen Satz alter Haarnadeln aus Messingdraht.
Zögernd betraten die drei Neuankömmlinge den Mühlenhof. Unter der großen Linde, die einer gemütlichen Bank Schatten spendete, hielten sie inne. Es war Mittag, und der Duft von Kraut und gebratenen Zwiebeln ließ ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Seit Wochen hatten sie nichts anderes mehr gegessen als trocken Brot und Grünzeug.
Die Tür des Hauptgebäudes öffnete sich, und ein vierschrötiger Mann mittleren Alters trat in den Hof. Das konnte nur der Rennmüller sein. Anna hatte noch nie eine Achtung gebietendere Erscheinung gesehen: Der selbstbewusst vorgeschobene Bauch, das mit zinnernen Knöpfen besetzte Leibchen, das blütenreine Hemd aus feinem Leinen - alles wies Endres Preißler als reichen Mann aus. Nach seinem Großvater und Vater war er der dritte Preißler auf der Rennmühle, die er nun schon seit über zehn Jahren bewirtschaftete. Dabei war ihm seine Frau Maria in den ersten Jahren eine große Stütze gewesen, ein kräftiges, gesundes Weib, das anpacken konnte wie ein Mann. Dann hatte der liebe Gott sie mit Krankheit geschlagen - heute war sie trübsinnig und mager, sprach nicht mehr, aß kaum und brütete meist dumpf vor sich hin. Weder gutes Zureden noch Prügel, ja nicht einmal der aus der Stadt zugezogene teure Arzt hatten geholfen. Stattdessen hatte der Müller notgedrungen zu seinem ersten noch einen zweiten Knecht anstellen müssen, und der war ihm vor einem Monat auf und davon gegangen. Da kam es gerade recht, dass der junge Michel Schwab um Arbeit nachgefragt hatte. Der Bub war für sein Alter groß, und er machte einen willigen Eindruck. Außerdem brachte er seinen Vater mit, der zwar nicht recht gesund, aber bereit war, nur für Speis und Trank Hilfsarbeiten zu verrichten. Und die Kleine konnte der dicken Lisbeth, die immer mehr mit der Pflege der kranken Müllerin zu tun hatte, in Haus und Küche helfen.
Der Müller baute sich vor den drei ärmlich gekleideten, schüchternen Gestalten auf, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte das Grüppchen mit zusammengekniffenen Augen.
»Seid ihr endlich da? Zeit wird's!«, brummte er. Mit seiner fleischigen Hand deutete er auf den armseligen Karren und grunzte. »Ist das alles, was ihr dabei habt?«
Plötzlich wurde sein Blick von einer Bewegung bei der Linde abgelenkt. Er kniff die Augen zusammen, um sicherzugehen, dass er sich mit dem, was er da gesehen hatte, nicht täuschte. Nein, Teufel noch eins, das war ein leibhaftiger Wolfshund, der sich da unter der Bank duckte und ihn aufmerksam fixierte. Preißler fluchte.
»Gehört das Vieh da zu euch? Himmelherrgott, ihr traut euch was! Damit eins klar ist, der Hund kommt mir nicht auf den Hof.«
Anna nahm all ihren Mut zusammen und trat einen Schritt vor. »Ich bitt recht schön, Herr, Grimm gehört mir. Ich hab sie als verlassnes Junges im Wald gefunden, vor drei Jahren, und mit Ziegenmilch aufgezogen. Sie ist bräver als der brävste Hund, ich schwör's bei der heiligen Muttergottes.«
Der Müller glaubte, nicht recht gehört zu haben. Er riss die Augen weit auf und deutete mit spitzem Zeigefinger auf das Mädchen. »Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass das gar kein Wolfshund ist, sondern ein echter Wolf?«
Annas Stimme zitterte. »Doch«, flüsterte sie fast unhörbar. Dann straffte sich ihr Rücken. Sie hing mit jeder Faser ihres Herzens an der Wölfin und war bereit, um das Tier zu kämpfen. »Aber, Herr, schaut doch, wie zahm sie ist! Grimm, komm her, komm!«
Das Tier kroch unter der Bank vor, trabte schwanzwedelnd zu ihr hin und setzte sich erwartungsvoll auf die Hinterpfoten. Jetzt war es unverkennbar: Graues Fell, kleine Ohren, der schnürende Gang, die gelblichen Augen! Anna streichelte die Wölfin über den Kopf und sah den Müller flehentlich an. »Grimm fängt mehr Ratten und Mäuse als zwei Katzen zusammen. Und sie ist die beste Wach- und Hütehündin, die Ihr je gesehen habt, Herr. Sie kann's Euch beweisen.«
Und bevor der Müller abwehren konnte, hatte sie schon das Kommando gegeben und in die Hände geklatscht. »Bring die Petzen, Grimm, los, bring!«
Auf der anderen Seite des Wegs grasten einige Schafe friedlich auf einer blühenden Wiese. Der Wolf lief tatsächlich hinüber, kreiste die erschrockenen Tiere ein und trieb sie unter Kläffen und Zwicken eng zusammen. Innerhalb kürzester Zeit drängten sich die Schafe aufgeregt blökend im Hof, und der Wolf sprang hechelnd an seiner Besitzerin hoch.
»Braveliebegute.« Anna lachte übers ganze Gesicht.
Der Müller hatte die Vierzehnjährige die ganze Zeit über beobachtet. Sie war schlank, ein bisschen zu mager für seinen Geschmack. Aber unter ihrem gegürteten Kittel zeichneten sich schon frauliche Formen ab, kleine spitze Brüste und runde Hüften. Sie hatte langes, glattes, in der Mitte gescheiteltes Haar von der Farbe dunkler Kastanien, und ihre Züge waren ebenmäßig, mit einer hübschen Stupsnase über erdbeerroten Lippen, die beim Lachen zwei Reihen makellos blitzender Zähne freigaben. Als Anna den Blick des Müllers spürte und zu ihm aufsah, bemerkte er zum ersten Mal ihre Augen und zuckte überrascht zurück: Ein Auge des Mädchens war leuchtend blau, das andere hingegen braun - eine Laune der Natur, die ihrem Gesicht einen eigenartigen Reiz verlieh.
Die meisten Leute, denen Anna bisher begegnet war, hielten ihre verschiedenfarbigen Augen für ein unglückbringendes Zeichen. Das Mädchen hatte deshalb ein freudloses Dasein als Außenseiterin geführt, vor allem seit dem Tod der Mutter, den irgendwelche böse Zungen ihrem Blick anlasteten. Die Nachbarn mieden sie seitdem und kreuzten heimlich die Finger hinter dem Rücken, wenn sie ihr doch über den Weg liefen. Manche raunten gar von Teufelswerk und Hexerei. Doch der Müller war nicht abergläubisch. Zumindest nicht so sehr, als dass sich beim Anblick des Mädchens nicht ein gewisser, seit Marias Siechtum stets unterbeschäftigter Körperteil geregt hätte, was all seine Bedenken hinwegfegte. Zum Kuckuck! Blau oder braun, braun oder blau - das hier war ein Happen, den er sich nicht entgehen lassen würde. Die Sache mit dem Wolf konnte man zunächst einmal abwarten - schließlich gab's Mäuse und Ratten grad genug in der Mühle.
»Alsdann.« Preißler wies mit dem Kinn in Richtung eines Schuppens am Flussufer. »Ihr zwei Männer könnt euch drüben im Stadel einrichten. Lisbeth!«
Eine alte Magd in Schürze und Kopftuch erschien in der Haustür.
»Führ die da ins Haus und zeig ihr ihren Schlafplatz in der Kammer unterm Dach. Sie wird dir von heut an in der Küche helfen.«
»Hast Hunger?«
Anna nickte heftig. Die Magd schöpfte Kraut aus einem großen Kessel, der über dem Feuer hing, und schnitt einen Kanten Brot ab. »Da. Setz dich und iss.«
Das Mädchen ließ sich auf einem dreibeinigen Schemel am Tisch nieder und schlang gierig. Die alte Lisbeth werkelte derweil in der Küche herum.
»Bist ja ganz mager«, versetzte sie, »ihr habt wohl in letzter Zeit nicht viel zum Beißen gehabt, wie?«
Anna wischte mit dem letzten Stückchen Brot die Schüssel aus. »Mein Vater war lang und oft krank, und der Michel und ich haben den Hof nicht allein geschafft. Die letzte Ernte hat's uns verhagelt, und dann ist auch...
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