Schweitzer Fachinformationen
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Oberhehenfeld, Schörfling am Attersee
Der weiße Peugeot Partner hatte die Einfahrt verlassen und war in die Straße nach Schörfling eingefahren. Laute Musik aus dem Autoradio war zu hören. Ein Oldie, »Mister Postman«. Die geschlossenen Seitenwände des Lieferwagens wiesen keinerlei Beschriftung auf. In die andere Richtung wäre das Fahrzeug nicht weit gekommen, da es auf einem Forstweg holprig und bergwärts weiterging, wo die Marktwaldstraße in Geinberg mündete. Das wusste Rudi bereits von vorherigen Auskundschaftungen. Die Luft war rein. Von seinem Versteck aus hatte er ausmachen können, dass der Fahrer jener Gesuchte war, wegen dem er auf den weitverzweigten Straßennetzen von Sicking unterwegs war. Er hatte ihn gefunden, den Verdächtigen, den Bewohner eines veraltet wirkenden Hauses hier am Rande des Waldes. Der hagere Mann trug an diesem Morgen eine grüne Schildkappe mit einem Werbeschriftzug, den Rudolf auf die Schnelle nicht hatte ablesen können, als das Fahrzeug an ihm vorbeigefahren war. Die hellbraune Ballonmütze, die er vor zwei Tagen auf dem Kopf des Fremden wiedererkannt hatte, befand sich wahrscheinlich im Haus.
Rudi schob sein erst kürzlich neu erstandenes und kostspieliges Mountainbike aus dem Schatten der Bäume und Sträucher. Die Nachbarhäuser waren weit genug entfernt, um sich dem Gebäude nähern zu können, ohne aufzufallen oder verdächtig zu wirken. Ein kleiner Teil des Grundstücks war von der schmalen Straße aus einsichtig. Von Gras durchwachsener Schotter führte zu einer seitlich angebauten Garage. Es kam dem jungen Mann nicht in den Sinn, dass dies der zweite Einbruch in seinem bald 21-jährigen Leben werden sollte. Der erste vor einem Jahr hatte unauslöschliche Folgen hinterlassen. Zum Glück war er mit einer Verwarnung der hiesigen Polizei davongekommen. Heute wollte er einem verdächtigen Dieb auf die Schliche kommen, weshalb ihm nicht bewusst war, dass sein Vorhaben trotzdem illegal und kriminell sein könnte.
Hier hinten, kurz vor dem Ende der asphaltierten Straße, sagten sich Fuchs und Hase gute Nacht. Von den Einheimischen am Attersee wurde diese weitläufige Ansammlung von Häusern umgangssprachlich Sicking genannt, statt des auf jeder Landkarte eingetragenen Dorfnamens Oberhehenfeld. Selbst die Bewohner erhielten als Beweis einer lebendigen und sesshaften Verortung die Bezeichnung »die Sickinger«.
Seit einigen Jahren entstanden hier viele neue Wohnhäuser durch Neu- und Umbauten sowie einige Betriebsansiedlungen. Für die Zugezogenen war der Terminus »Sickinger« nicht mehr zutreffend, da die wahren, alten, teils verstorbenen Bewohner dieses Landstreifens seit Jahrzehnten von vielen Seebewohnern des nördlichen Attersees als komisch, seltsam und verschroben bezeichnet wurden. Zumindest behauptete das zeitlebens sein Großvater, der vor unvorstellbar langer Zeit als Zugezogener eine Sickingerin geheiratet hatte und stets über den durch die Umfahrungsstraße abgenabelten Ortsteil von Schörfling spottete, obwohl er dort viele Jahre gewohnt hatte.
Doch das war Rudi egal, er kannte in Sicking lediglich ein paar lebende Verwandte, die genauso waren wie die Schörflinger, Seewalchner oder Auracher. Jede Region hatte ihre Eigenheiten und ein Dorf schimpfte auf das andere. So hatten sich in alten Zeiten die Spitznamen der Ortschaften gebildet. Rudi hatte davon in einem Buch gelesen und fand es witzig, dass zum Beispiel die Schörflinger »Rindsüppler« genannt wurden, da sie auf Reisen immer eine Suppe mitnahmen, um nicht unterwegs Geld für Essen ausgeben zu müssen. Die Nußdorfer waren die »Pudelkreuziger«, die Steinbacher die »Schimmelhänger« und die Weyregger die »Schlägflicker«. Für Rudi galten die über 30-Jährigen als alt, angepasst und langweilig - und nicht irgendwelche Ortsansässigen.
Er vergewisserte sich, dass die Straße frei war, und fuhr mit dem Rad rasch in die Einfahrt, die links und rechts von hohen verwilderten Sträuchern gesäumt war. Sein Gefährt versteckte er hinter zwei violett und weiß blühenden Hibiskusstauden; eine der wenigen Gewächse, die er benennen konnte, da seine Mutter vor einigen Jahren in ihrem Garten solche hatte pflanzen lassen, was sein Interesse an der Botanik aber auch nicht hatte wecken können. Sehr zu ihrem Leidwesen, da sie ihren Sohn in Zukunft gerne als Gärtner oder promovierten Botaniker gesehen hätte.
Vorsichtig, als wären auf dem Boden Fallen versteckt, bewegte er sich mit dem dunkelgrauen Rucksack am Rücken auf das Haus zu und versuchte herauszufinden, wie er am besten in das Gebäude von Leopold Riegelhofer eindringen konnte. In das alte Anwesen des Postlers. Des Mannes, der im Besitz einer Kopfbedeckung war, die Rudi als sein Eigentum betrachtete. Die er bestellt und mit seinem hart erarbeiteten Lohn bezahlt hatte und die er sich nach Kammerl ins Elternhaus hatte senden lassen, wo sie nie angekommen war.
Rudolf Alexander Lehner, wie er laut Geburtsurkunde und Taufschein hieß, hatte im Dezember des Vorjahres als ausgelernter Tischler einen Job in einem bekannten Möbelhaus in Vöcklabruck angenommen. Die geregelten Arbeitszeiten bescherten ihm mehr Freizeit als vorher in der Tischlerei, wo er die Lehre abgeschlossen und bis zu dem Jobwechsel gearbeitet hatte.
Mit seiner ersten Freundin, Natascha, hatte er im Vorjahr Furchtbares erlebt und war für eine neue Liebschaft deswegen noch nicht bereit. Die Angst eines erneuten Versagens saß tief in seinem Inneren. Um die jugendliche Energie und Kraft sinnvoll zu bündeln, hatte er das Mountainbikefahren für sich entdeckt. Durch die neu erweckte sportliche Begeisterung und tägliche Ausübung konnte er überflüssige Kilos abspecken und seine Kondition sowie körperliche Verfassung enorm steigern.
Vor zwei Tagen war Rudi an einem freien Nachmittag mit dem neuen Bike nach Dienstschluss losgefahren. Zu den nahe gelegenen Flüssen Vöckla und Ager, die sich unweit seiner Arbeitsstelle in malerischer, naturbelassener Kulisse vereinigten. Angelegte Rad- und Wanderwege führten zum kilometerweit entfernten Lambach. Beide Gewässer waren an manchen Stellen beliebte Gebiete für Fliegenfischer. Oftmals sah Rudolf bei seinen Ausfahrten Hobbyfischer jedes Alters. Mehrmals auch eine stets fröhlich wirkende Fliegenfischerin, mit der er hin und wieder ein paar Worte wechselte. Er meinte, sie als Kundin des Möbelhauses wiederzuerkennen.
An besagtem Nachmittag entdeckte er einen dürren, großgewachsenen Kerl, der mit Angelgerät bewaffnet des Weges kam. Ungewöhnlich war die Kopfbedeckung, die er trug: eine hellbraune Ballonmütze mit den eingestickten Initialen RAL. Genau so eine, wie Rudi sie bei einem Onlineshop bestellt und nie erhalten hatte. Er lag seither mit der Firma im Clinch. Es hieß seit drei Wochen, dass die Sendung zugestellt worden sei - eine Trackingnummer zur Nachverfolgung hatte das kleine Päckchen allerdings nicht gehabt. Und plötzlich entdeckte er das begehrte Stück auf dem Haupt eines Hobbyfischers. Dem es überhaupt nicht stand, im Gegenteil, er sah damit dämlich aus. Der Mann kam ihm bekannt vor. Unauffällig war er ihm gefolgt, um mit dem Smartphone Fotos zu schießen.
Kaum zurück auf dem Radweg, begegnete ihm die Fischerin. Er zeigte ihr das Bild, mit dem Hinweis, dass er gerne fotografiere und zufällig einen Angler auf einem Foto entdeckt habe, der ihm bekannt vorkäme. Nichts ahnend gab sie ihm Auskunft, da sich die meisten Fischer hier gegenseitig kannten. Der abgelichtete Angler sei Briefträger am Attersee. Sie fügte hinzu, dass er immerzu freundlich, doch trotzdem etwas komisch sei und dass er in Seewalchen oder in Schörfling wohne. Zumindest meinte sie sich zu erinnern, dass er dies einmal erwähnt habe.
Viele männliche Briefträger, die im Norden des Sees wohnten, gab es sicherlich nicht mehr. Er sah vermehrt Frauen mit den gelb-grünen Elektroautos fahren. So hatte Rudi mithilfe einiger Bekannten rasch herausgefunden, wo er seinen Verdächtigen finden konnte und dass dieser in einem alten Haus in Sicking wohnte.
»Ein komischer Typ, der lebt dahinten ganz allein . Nicht einmal eine Frau hat er . Na ja, vielleicht mag er keine .«
So gaben seine Verwandten in Oberhehenfeld Auskunft über ihn. Höchstwahrscheinlich fanden die Sickinger ihn komisch, da er keiner von ihnen war.
Wenn Rudolf Alexander Lehner die gestickten Buchstaben RAL auf der Mütze tauschte und sich das A wegdachte, ergaben sie die Initialen des Namens Leopold Riegelhofer. Das vorhandene A in der Mitte hatte ihn verraten. Selbst wenn Riegelhofer einen zweiten Vornamen besaß, wäre die Bestellung der gleich ausgearbeiteten Mütze absolut unwahrscheinlich. Das konnte kein Zufall sein.
Es gab sicherlich verschiedenste Möglichkeiten, wie der Kerl zu der Kopfbedeckung gekommen sein konnte. Der verdächtige Briefträger war, soviel Rudi wusste, nicht für den Ortsteil Kammerl zuständig, wo er mit seinen Eltern wohnte. Ihre Zustellerin war eine lustige und nette Frau, die ihm jünger vorkam, als sie tatsächlich war. Sein Vater lobte sie in den höchsten Tönen, bezeichnete sie als »unsere Postperle« und meinte, sie verschwende bei der Post ihr Talent. Jeder Arbeitnehmer würde sich ihrer glücklich schätzen.
Auf das fehlende Packstück angesprochen, gab sie an, dass sie in der betreffenden Woche Urlaub gehabt habe und verschiedene Springer für ihr Gebiet eingeteilt gewesen seien. Dass nicht getrackte Sendungen verloren gingen, geschehe leider immer wieder.
Rudi versuchte erst gar nicht, den Haupteingang zu nehmen, da jeder normale Mensch beim Verlassen des Hauses die Tür verschloss. Hintereingänge und Fensterflügel boten...
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