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Samstag, früher Vormittag Buchberg bei Seewalchen
Das Mädchen saß auf einem weißen weichen Teppich mit langen Fransen. Diese Stelle im Wintergarten war seit Kurzem zu ihrem Lieblingsplatz geworden. Sie versank in ihrer Fantasiewelt. Umgeben von einer für ihr Alter zu großen Anzahl an Spielsachen. Im Moment war sie mit den Kleidern ihrer Puppen beschäftigt, von deren sie mehr als genug hatte. Am liebsten waren ihr die neuen, teilweise fast kitschigen Plastikpuppen, denen sie beim Spielen immer wieder verschiedene Namen gab. Die selbst gemachte gesichtslose Unisex-Puppe ihrer Großmutter, Montessori-Kindergärtnerin, blieb meist unberührt im Vorhaus in einem alten, zur Dekoration aufgestellten Puppenwagen zurück. Nur bei Enkelbesuchen wurde ihr dieses pädagogisch wertvolle Spielgerät, mit inzwischen bestickten Augen, dafür ohne Nase und Mund, von den Eltern als Spielzeug aufgezwungen.
Ihre Mutter war zu einer Nachbarin gelaufen, um sich etwas für die Küche zu besorgen. Es war nie ein Problem, das kleine Mädchen für kurze Zeit alleine zu lassen. Meist blieb es, wo es sich befand, und war mit seinen beinahe vier Jahren sehr vernünftig.
Ganz leise summte Claudia eine Melodie und strich das rosa Kleid ihrer Puppe glatt, nachdem sie es über den Plastikkopf und Körper gezogen hatte. Etwas von draußen lenkte Claudias Aufmerksamkeit ab. War es ein Vogel? Oder eine Katze? Gar eine Katze, die einen Vogel jagte? Sie sah durch die gläserne, nur angelehnte Terrassentür. Die Neugier lockte sie in den Garten, in dem sich der Frühnebel, der oft bis zum späten Vormittag über dem See lag, langsam lichtete. Die Puppe in der Hand erhob sie sich, bewegte sich zur Tür und drückte sie nach außen auf.
Ohne sich umzudrehen, ging die Kleine hinaus. Trat mit ihren schwarzen Kinderschuhen auf das noch feuchte Gras. Sie hörte Vogelgeschrei, konnte es aber, da sie zu jung war, nicht richtig zuordnen. Sie lief über die Wiese auf die Lärmquelle zu. Die Puppe glitt ihr aus den Fingern und blieb einsam im Grünen liegen. Das Grundstück zog sich sanft abfallend zum See hin. Claudia näherte sich dem Ufer und sah durch die letzten abziehenden Nebelschwaden schwarze Krähen aufgeregt am und im flach ausufernden Wasser hin und her hüpfen.
Das Mädchen hob beide Hände in die Höhe und rief:
»Flieg Vogerl, flieg!«
So, wie sie es im Kindergarten gelernt hatte. Eine Krähe flog tatsächlich davon, doch zwei weitere krächzten und pickten an etwas herum, das halb im Wasser lag. Claudia trat näher. Grober, von Menschenhand angeschütteter Kies führte vom Trockenen ins Nasse hinein. In dieser Bucht lief der See seicht am Ufer aus. Das Mädchen bewegte sich auf das im Wasser Liegende zu. Spürte die Feuchtigkeit an den Füßen und zog sich die Schuhe aus, die sie ordentlich nebeneinander ins Gras stellte, so wie es ihr Vater an der Garderobe tat, dessen Ordnungsliebe manchmal an Besessenheit grenzte. Schließlich stieg sie in das ihre Fußknöchel umspielende Wasser, ging in die Knie und zog an den langen Haaren, die im Nassen breit gefächert, wie kunstvoll drapiert, anzusehen waren. Sie kannte dies von einer ihrer Puppen, die sie meist als Nixe verwendet, wenn sie sie mit in die Badewanne nahm.
Es war ein menschlicher Körper, der mit dem Gesicht nach unten halb im Wasser, halb am Ufer lag. Die sanften Wellen hoben ihn ständig auf den Kies ins Trockene und zogen ihn wieder ein Stück zurück.
Eine Krähe saß auf dem durch die Strömung freigelegten Hinterteil, hielt den Kopf schräg und blickte verunsichert und nervös auf das zarte Menschlein am Ufer. Der Vogel spannte die Flügel aus, schlug damit einmal, zweimal, als ob er wegfliegen würde, und faltete sie schließlich wieder zusammen. Dabei hob er abwechselnd die Krähenfüße, um die Krallen erneut fester in das blasse Fleisch zu versenken. In Sekundenschnelle hackte der Vogel in die nackte Haut unter sich. Hob darauf drohend den Kopf, einen Hautfetzen aus dem Schnabel hängend, nur um zu sehen, ob ihm das neu angekommene, fremde Wesen den riesigen Leckerbissen abspenstig machen wollte. Ein kurzes, einschüchterndes Krächzen, das Mensch zu verstehen geben sollte, sich möglichst rasch zu entfernen.
»Nicht schimpfen!«, sagte das Mädchen, deutete der Krähe mit erhobenem Zeigefinger und legte die Stirn in Falten, ihre zweite, nicht Montessori geschulte Großmutter nachahmend. Anschließend zog sie nochmals fest an den Haaren, und der leblose Körper schlenkerte seitlich ans Ufer. Die Krähe holte sich weitere Happen aus dem Oberschenkel, da die Hose durch die Kraft des Wassers und der Wellen unter die Gesäßbacken geschoben worden war.
Inzwischen konnte Claudia mehr von der Leiche sehen, welche sich durch das Ziehen an den Haaren zu ihr gedreht hatte. Mit einer Hand hielt sie diese fest im Griff, mit der anderen streichelte sie die Wange des Leichnams. Den Tonfall ihrer Mutter imitierend, flüsterte sie: »Aufwachen, mein kleiner Liebling!«
Sie fuhr weiter mit den Fingern über das leblose Gesicht, ohne die Wunde an der Stirn zu berühren, die vom Wasser stark aufgeweicht und an den Wundrändern beinahe farblos ausgewaschen war. Zärtlich berührte sie die Nase, die Partie um die geöffneten Augen, die zwar ins Leere starrten, aber nichts Grauenvolles oder Unheimliches ausstrahlten.
Die Mutter kam mit einer Packung Reis in der Hand in die Wohnung zurück, die in wenigen Augenblicken zu Boden fallen und aufplatzen würde.
»Claudia, bin schon wieder da! Spielst du schön mit deiner .«
Sie sah den verlassenen weißen Teppich mit den Spielsachen, die herumliegenden Puppenkleider und die offene Terrassentür. Sowie etwas Kleines, das draußen im Gras lag, von hier aus nicht klar erkennbar. Jetzt ließ sie die Packung fallen, das Plastik platzte auf, und der Reis verteilte sich über den Parkettboden und Claudias Spielteppich. Die Mutter registrierte es beiläufig aus den Augenwinkeln, da sie bereits bei der Tür war und hinausstürmte.
Die Zeit schien sich zu verlangsamen, ihr Geist willentlich dem Körper um Sekunden, ja Minuten vorauseilend. Diese zwei Zeitebenen nahm sie wie in Zeitlupe wahr, scheinbar losgelöst von ihrem physischen Dasein.
»Claudia! Claudia! Nein, bitte nicht .«
Wie aus Endzeitfilmen bekannt, lag vor ihr einsam eine Puppe im Gras, als wäre sie ein zurückgelassenes Relikt, welches auf ein unbekanntes tragisches Einzelschicksal hinweisen sollte. Für sie war dieses Fundstück jedoch mit persönlichen Empfindungen verknüpft. Im Augenblick gepaart mit unaussprechlicher Angst.
Sie hob die Puppe auf und drückte sie fest an ihre Brust, als wäre es das Letzte, was von ihrer Tochter auf dieser Welt übrig geblieben war. Tränen liefen ihr plötzlich über die Wangen, sie holte tief Luft, um nochmals nach Claudia zu rufen. Getraute sich kaum, zum Wasser hinunterzugehen, da sie schlimmste Vorahnungen peinigten.
Während sie sich an Erleichterung bringende Atemübungen eines vor längerer Zeit absolvierten Yogakurses erinnerte und geräuschvoll seufzend ausatmete, drang ein vertrauter Laut in ihr Bewusstsein.
Die Verkrampfung löste sich, um bald darauf erneut einzusetzen. Sie erkannte die Stimme ihrer Tochter, die vom Ufer her zu hören war. Seltsamerweise vernahm sie ein Lied, das der Vater, sofern er mal zu Hause war, der kleinen Claudia jede Nacht am Bett vorsingen musste. Noch nie hatte sie es so deutlich aus dem Munde ihres Kindes gehört.
Morgen früh, wenn Gott will,
wirst du wieder geweckt.
Es war Teil einer Strophe des berühmten Schlafliedes »Guten Abend, gute Nacht« von Johannes Brahms, welches Claudia sich, in Abwesenheit des Vaters, auf ihrem alten Kassettenrecorder anhörte.
Den Recorder hatte sie Großvater vor einem halben Jahr mitsamt ein paar Kassetten abgebettelt. Sie war fasziniert von diesem Gerät, das, irgendwelche Spulen drehend, Musik und Stimmen ausspuckte. Die Aufnahmefunktion war leider defekt. Das Lied konnte sie inzwischen auswendig, auch wenn sie die genaue Bedeutung aller Wörter nicht sinnhaft erfassen konnte. Sie hörte es sich auch manchmal tagsüber in trauriger Stimmung an. Die Erkenntnis und der Vergleich, dass Claudia in ihrem Empfinden und Verhalten anders als gleichaltrige Kinder war, fehlten ihr noch. Erst im Frühjahr würde ein geeigneter Kindergartenplatz für sie frei werden.
Nun versuchte Claudia, die Leiche mit dem melancholischen Lied und Streicheleinheiten zu trösten, obwohl diese offenbar nicht gewillt war aufzuwachen. Nicht wissend, dass wenige Meter entfernt ihre Mutter ebenso ein totes Ding, welches die Puppe ja war, an sich gedrückt hielt.
Durch das Erfassen der Stimme ihrer Tochter entglitt die Puppe den Fingern der Verzweifelten und landete weich im hohen Gras, das ihr Mann vor der Geschäftsreise zu mähen verabsäumt hatte. Zum zweiten Mal an diesem Morgen ließ jemand das Spielzeug im Grünen zurück, um sich dem See zu nähern.
»Claudia, was machst du denn .«
Ihre Gedanken waren noch mit schlimmen, unheilvollen Bildern ihrer Fantasie befüllt. Doch was sie jetzt erblickte, überstieg ihre Vorstellungskraft. Lautlos sank sie auf die Knie und rutschte im feuchten Gras auf ihre Tochter zu. Beide Arme nach vorne gestreckt, die dadurch entstehenden grünen Spuren auf den Hosenbeinen der grauen Leggings nicht beachtend.
Ihr einziges Kind saß in seinem blau-weiß getupften Kleid mit dem Gesäß gerade noch im Trockenen. Die Füße im Wasser, auf dem Schoß der Kopf einer Leiche, deren...
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