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Es ist Sommer hier oben am Meer, die bunten Badehäuser leuchten in der Sonne. Stefan Zweig sitzt im dritten Stock eines weißen Hauses am breiten Boulevard von Ostende in einer Loggia. Er schaut aufs Meer. Davon hat er immer geträumt, von diesem großen Blick in den Sommer, in die Leere, schreibend und schauend. Ein Stockwerk über ihm wohnt seine Sekretärin Lotte Altmann, die seit zwei Jahren auch seine Geliebte ist, sie wird gleich herunterkommen und die Schreibmaschine mitbringen, er wird ihr seine Legende diktieren, dabei immer wieder zurückkehren zu der einen Stelle, an der es stockt, an der er nicht weiterweiß. Seit einigen Wochen geht das schon so.
Vielleicht weiß Joseph Roth ja Rat. Der alte Freund, den er nachher im Bistro treffen wird, wie jeden Nachmittag in diesem Sommer. Oder einer der anderen, einer der Spötter, einer der Kämpfer, einer der Zyniker, einer der Liebenden, einer der Sportler, einer der Trinker, einer der Redner, einer der schweigenden Betrachter. Einer von denen, die da unten sitzen, am Boulevard von Ostende, die darauf warten, dass sie in ihre Heimat zurückkehren können. Die sich jeden Tag den Kopf zermartern über der Frage, was sie dazu beitragen können, dass sich die Welt schon bald in eine andere Richtung dreht. Damit sie heimkehren können in das Land, aus dem sie stammen, um dann eines Tages vielleicht auch wieder hierherzukommen. An diesen Ferienstrand. Als Gäste. Jetzt sind sie Menschen auf der Flucht in einer Urlaubswelt. Der scheinbar immer frohe Hermann Kesten, der Prediger Egon Erwin Kisch, der Bär Willi Münzenberg, die Champagnerkönigin Irmgard Keun, der große Schwimmer Ernst Toller, der Stratege Arthur Koestler, Freunde, Feinde, von einer Laune der Weltpolitik in diesem Juli hierher an den Strand geworfene Geschichtenerzähler. Erzähler gegen den Untergang.
Stefan Zweig im Sommer 1936. Er blickt durch die großen Fenster auf das Meer und denkt mit einer Mischung aus Rührung, Scheu und Freude an die Gemeinschaft der Fliehenden, zu der er sich gleich wieder hinzugesellen wird. Sein Leben war bis vor wenigen Jahren ein einziger, viel bewunderter, viel beneideter Aufstieg. Jetzt hat er Angst, er fühlt sich gebunden durch Hunderte Verpflichtungen, Hunderte unsichtbare Fesseln. Es gibt keine Lösung, gibt keinen Halt. Aber es gibt diesen Sommer, in dem sich alles noch einmal wenden soll. Hier, an diesem überbreiten Boulevard mit den prachtvollen weißen Häusern, dem großen Casino, diesem phänomenalen Palast des Glücks. Urlaubsstimmung, Ausgelassenheit, Eiscreme, Sonnenschirme, Trägheit, Wind und bunte Bretterbuden.
Es ist lange her, seit er zum ersten Mal hier gewesen ist, an diesem Ort, an dem das Unglück 1914 begonnen hatte; mit den Nachrichten, den Zeitungsjungs an der Strandpromenade, die jeden Tag aufgeregter geschrien hatten, aufgeregter und freudiger, weil sie das Geschäft ihres Lebens machten.
Vor allem die deutschen Badegäste hatten ihnen die Blätter aus den Händen gerissen. Die Jungs brüllten die Schlagzeilen heraus: »La Russie provoque l'Autriche«, »L'Allemagne prépare la mobilisation«. Und auch Zweig - blass, gut gekleidet, mit dünnrandiger Brille - war deswegen mit der Straßenbahn herübergekommen, um den Nachrichten näher zu sein. Die Schlagzeilen wirkten elektrisierend auf ihn, er fühlte sich angenehm aufgewühlt und erregt. Natürlich war ihm klar, dass die ganze Aufregung nach kurzer Zeit wieder der großen Stille gewichen sein würde. Aber in diesem Moment wollte er es einfach nur genießen. Die Möglichkeit eines großen Ereignisses. Die Möglichkeit eines Krieges. Die Möglichkeit einer grandiosen Zukunft, einer Welt in Bewegung. Seine Freude war besonders groß, wenn er in die Gesichter seiner belgischen Freunde blickte. Sie waren blass geworden in den letzten Tagen. Sie waren nicht bereit, das Spiel mitzuspielen. Sie schienen die ganze Sache irgendwie sehr ernst zu nehmen. Stefan Zweig lachte. Er lachte über die mickrigen Trupps belgischer Soldaten auf der Promenade. Lachte über ein Hündchen, das ein Maschinengewehr hinter sich herzog. Lachte über den ganzen heiligen Ernst seiner Freunde.
Er wusste, dass sie nichts zu befürchten hatten. Er wusste, dass Belgien ein neutrales Land war, er wusste, dass Deutschland und Österreich niemals in ein neutrales Land einfallen würden. »An dieser Laterne könnt ihr mich aufknüpfen, wenn die Deutschen hier einmarschieren«, rief er den Freunden zu. Sie blieben skeptisch. Und mit jedem Tag wurden ihre Mienen düsterer.
Wo war sein Belgien plötzlich hin? Das Land der Vitalität, Kraft, Energie und eines intensiven, eines anderen Lebens. Das war es, was er an diesem Land, an diesem Meer so liebte. Und weshalb er den größten Dichter des Landes so verehrte.
Émile Verhaeren war die erste geistige Liebe in Zweigs Leben gewesen. Bei ihm hatte er als junger Mann zum ersten Mal den Gegenstand vorbehaltloser Bewunderung gefunden. Verhaerens Gedichte hatten Stefan Zweig erschüttert wie nichts zuvor. An ihnen hatte er seinen eigenen Stil geschult, sie zunächst nachgeahmt, dann nachgedichtet, später Gedicht für Gedicht ins Deutsche übertragen. Er war es, der Émile Verhaeren in Deutschland und Österreich bekannt gemacht hatte und 1913 ein schwärmerisches Verehrungsbuch über ihn im Insel-Verlag veröffentlichte. Darin schrieb er: »Und darum ist es heute an der Zeit, von Émile Verhaeren zu reden, dem Größten und vielleicht dem Einzigen der Modernen, die das bewußte Gefühl des Zeitgenössischen dichterisch empfunden, dichterisch gestaltet haben, dem Ersten, der mit unvergleichlicher Begeisterung und unvergleichlicher Kunst unsere Zeit zum Gedichte versteinert hat.«
Auch wegen dieser Begeisterung Verhaerens, dieser Lebensfreude, seines Vertrauens in die Welt, war Stefan Zweig Ende Juni nach Belgien gefahren, ans Meer. Um seine eigene Begeisterung an Verhaerens Begeisterung zu stärken. Und um den zu sehen, der das gedichtet hatte, was Stefan Zweig ins Deutsche übertrug. Wie zum Beispiel Die Begeisterung, die so beginnt:
Wenn wir einander unentwegt Bewundrung zollen
Aus unsrer Herzen tiefster Glut und Gläubigkeit,
So werdet ihr, die Denker, Dichter, ihr, die Meister,
Die neue Formel finden für die neue Zeit.
Es sind Hymnen an das Leben. Traumlandschaften. Mit hellem Blick so lange die Welt betrachten, bis sie sich ganz von selbst erhellt und dem Gedicht entspricht, das sie gepriesen hat. Und diese Liebe zur Welt, dieser Enthusiasmus waren hart erkämpft. Einer dunklen Wirklichkeit mühsam abgerungen.
Ich liebe meinen Fieberblick, mein Hirn, die Nerven,
Im Herzen und im Leib des Blutes warmes Raunen,
Ich liebe Mensch und Welt und will die Kraft bestaunen,
Die meine Kräfte spendend in das Weltall werfen.
Denn Leben heißt allein: Empfangen und Verschwenden,
Und nur die Sehnsuchtswilden haben mich begeistert,
Die auch so gierig standen, keuchend und bemeistert
Vom Leben und von seiner Weisheit roten Bränden.
Zwei Sehnsuchtswilde hatten sich gefunden. Émile Verhaeren und Stefan Zweig. Wie freute sich der junge Österreicher auf die Gespräche mit dem emphatischen Meister.
Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger hatte an seinen Reiseplänen nichts geändert. Die Welt der Sicherheit schien sicher für alle Zeiten. Krisen hatte Stefan Zweig so manche erlebt. Diese war wie alle anderen. Sie würde vorübergehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Wie das ganze bisherige Leben.
Für den zweiten August war ihr Treffen eigentlich vereinbart, aber dann liefen sie sich doch schon vorher über den Weg, zufällig, als Zweig dem Maler Constant Montald in seinem Studio in Brüssel Modell saß und Verhaeren vorbeikam. Die Begrüßung und Unterhaltung war herzlich wie immer. Ein wenig unheimlich schien dem bärtigen Belgier der überschäumende Enthusiasmus Zweigs zu sein. Aber er ließ ihn sich gefallen. Bald wollten sie sich wiedersehen und intensiv über alles reden, über neue Gedichte, neue Dramen und über die Liebe auch, die neuen Damen. Zweigs Thema.
Vorher aber, schlug Verhaeren angesichts der Begeisterung des jungen Österreichers vor, könne Zweig doch einen Freund von ihm treffen, oben in Ostende. Einen etwas wunderlichen Freund, gab Verhaeren zu. Er lasse sich gern beim Flötenspiel auf den Dächern seiner Heimatstadt fotografieren, er sei auch Maler, außerdem Maskenbauer und Karikaturist, nicht sehr erfolgreich bislang, eigentlich überhaupt nicht. Seine erste Ausstellung habe im Teppichgeschäft eines Freundes stattgefunden. Einmal im Jahr veranstalte er einen Maskenball, bei dem er mit seinen Freunden kostümiert durch die ganze Stadt ziehe. Er nenne ihn >Den Ball der toten Ratten<. Jedes Jahr kämen mehr Leute dazu. Der Mann heiße James Ensor. Verhaeren gab Zweig die Adresse und ein Empfehlungsschreiben mit.
Und Zweig ging hin. Zum Geschäft von Ensors Mutter, gleich hinter der Strandpromenade. Sie verkaufte Karnevalsmasken und Muscheln und Seemannsbilder und getrocknete Seesterne. Ein schmales Haus mit großem Schaufenster unten, in dem die sonderbaren Waren an durchsichtigen Fäden hingen. Zweig trat ein. Ja, ihr Sohn sei oben, er solle doch einfach hinaufgehen. Ein dunkler, enger Flur mit roten Teppichläufern, hämisch grinsende Masken an den Wänden des Treppenhauses. An einer winzigen Küche ging er vorbei, rote Emailletöpfe auf dem Herd, ein tropfender Wasserhahn. Im zweiten Stock saß ein Mann mit Schiebermütze am Klavier, spielte leise vor sich hin, schien nichts um...
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