Schweitzer Fachinformationen
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»Was kann ich für Euch tun, Vater?«
Fréderic, der wachhabende Soldat, schaute durch den Sehschlitz der Tür. Auf den Treppen stand ein Priester, eingehüllt in eine graue Kutte, ein Holzkreuz baumelte vor seiner Brust, sein Gesicht lag im Schatten der Kapuze. Die Hand, mit der der Mann gerade an die Pforte des Holzturms geklopft hatte, war noch erhoben. Ein Mönch vielleicht, so genau wusste Fréderic das nicht. Mit der Kirche hatten die französischen Soldaten nicht viel zu schaffen.
»Er hat nach Beistand gefragt. Vielleicht will er die Beichte ablegen.«
Er - es brauchte keine weitere Erklärung, wer damit gemeint war.
»Jetzt? Fast um Mitternacht?«
Der Priester zuckte mit den Schultern.
»Das Gewissen schläft nicht, mein Sohn. Der Gerichtsdiener hat es mir sagen lassen, kurz vor der Spätmesse, und nun bin ich hier.«
Das Französisch des Priesters klang unbeholfen und hatte den holprigen Akzent des Département du Mont-Tonnerre, des Donnersberg-Departements. Diese Bezeichnung fasste die linksrheinischen, französisch regierten Gebiete zusammen, deren Verwaltungshauptstadt Mayence war, Mainz. Die meisten Einwohner des Départements konnten sich inzwischen, nach fast zehn Jahren, einigermaßen verständlich auf Französisch ausdrücken, wenngleich auf den Straßen und in den Häusern weiterhin Deutsch gesprochen wurde. Nur in den höheren Kreisen hatte sich die langue française auch im privaten Gespräch durchgesetzt.
»Nun?«
Mit den Fingern umfasste der Priester das Holzkreuz vor seiner Brust, während er auf eine Antwort wartete. Fréderic war unschlüssig. Einerseits waren die Kirche und ihre Besitztümer unter französischem Einfluss immer weiter zurückgedrängt worden - Klöster wurden aufgelöst, Kirchen als Ställe und Lagerhäuser benutzt oder gleich ganz abgerissen. Andererseits war der Wunsch nach einer Beichte sicherlich nachvollziehbar angesichts des Urteils, das am heutigen Nachmittag über den Mann im Turm gefällt worden war.
Er öffnete die beiden eisernen Türriegel. Der Priester war größer als Fréderic, hielt sich aber gebückt, als laste das Gewicht der Welt auf seinen Schultern. Ein beachtlicher Bauch spannte die Kutte, sein Gesicht blieb im Schatten der Kapuze.
»Danke, mein Sohn. Möge Gott es dir vergelten.«
Gemeinsam traten die beiden Männer in den Wachraum. Fréderics Kamerad Marcel schnarchte dort vor sich hin, den roten Waffenrock aufgeknöpft, die Stiefel auf dem Boden, seine Füße mit löchrigen Socken auf einem Stuhl hochgelegt. Normalerweise wäre ein solches Verhalten in der französischen Armee undenkbar, Zucht und Ordnung galten als oberstes Prinzip. Doch die Nachtwachen im Turm, die Fréderic und Marcel nun schon seit mehr als zwei Wochen bestritten, hatten ihre Disziplin nach und nach aufgeweicht. Keine Menschenseele kam oder ging, es gab keinen Appell, kein Vorgesetzter ließ sich blicken. War es da nicht mehr als menschlich, wenn irgendwann die unbequemen Stiefel ausgezogen wurden und die Augen zufielen?
Angesichts des priesterlichen Besuchs war Fréderic die Szene nun allerdings unangenehm. Er zischte einen halben Satz, worauf Marcel hochschrak. Schnell waren der Rock gerichtet und die Stiefel wieder an den Füßen, er straffte sich. Seine Brauen schoben sich zusammen, als wolle er den etwas peinlichen Auftritt ausmerzen.
»Permis de visite? Besuchserlaubnis?«
Statt einer Antwort griff der Priester erneut an sein Holzkreuz, ohne den Blick zu heben. Fréderic schaute zwischen den beiden hin und her. Sicher, Marcel hatte recht - ohne ein vom Untersuchungsrichter abgezeichnetes Papier durfte niemand nach oben zu den Zellen gehen. Dieses Reglement war immer streng beachtet worden, sogar der Wachdienst, der den Angeklagten zum Schloss in den Gerichtssaal gebracht hatte, war täglich aufs Neue mit einer Permis ausgestattet gewesen. Aber mitten in der Nacht beim Beichtbesuch eines Priesters? Der Mann Gottes würde wohl kaum die Gitterstäbe herausreißen und mit dem Gefangenen davonflattern wie ein Vögelchen. Fréderic nahm Marcel zur Seite und tuschelte. Zögernd nickte sein Kamerad.
»Enfin, Ihr habt 20 Minuten, Vater. Das muss genügen«, sagte Marcel bestimmt und merkte, dass er seinen Waffenrock falsch zugeknöpft hatte. Mit möglichst viel Würde fing er an, die Knopfreihe neu zu ordnen.
Der Priester folgte Fréderic aus der Wachstube ins Treppenhaus. Der Holzturm, der am Rand von Mayence in der Nähe des Rheins lag, war als Teil der alten Stadtmauer erbaut worden und gehörte ursprünglich zum gleichnamigen Tor, dem Holztor. Früher war das Bauwerk ein reiner Wachturm gewesen, dann hatte man in seinem oberen Teil Zellen eingerichtet und sie als Gefängnis genutzt. Mit der Umstrukturierung des Rechtssystems errichteten die Franzosen dann allerdings ein neues, größeres Gefängnis im Gewölbe des Kurfürstlichen Schlosses, das strategisch günstig lag und einen direkten Zugang zum dortigen Gerichtssaal erlaubte. Die Tatsache, dass der Holzturm nun doch wieder einen Gefangenen beherbergte, war einzig dessen Prominenz zu verdanken. Der Mann war eine regelrechte Berühmtheit, jeden Tag wurden neue Besuchsanfragen gestellt - von Rechtsgelehrten und Anwälten, aber auch von Dichtern, Malern und Schriftstellern. Sie alle waren fasziniert von den Geschichten, die man sich über den Mann erzählte, und jeder wollte ihm einmal persönlich gegenüberstehen. Also entschied Jeanbon de Saint André, der Präfekt des Donnersberg-Departements, diese Situation auszunutzen und das neue französische Rechtssystem ins beste Licht zu rücken. Statt in dunkle Gefängniskatakomben wurden die Besucher deshalb in den Holzturm geführt, wo sie sich mit eigenen Augen überzeugen konnten, dass der Gefangene angemessen untergebracht war und sogar den Ausblick über das Dächermeer der Stadt genießen konnte.
Fréderic und der Priester passierten die Waffenkammer und erreichten die Steinstufen, die steil nach oben führten. Bald schon keuchte der dicke Priester, sein Holzkreuz pendelte hin und her. Im oberen Stockwerk befand sich ein Vorraum mit vier Gittertüren, die Zellen dahinter waren leer bis auf eine. An der Wand des Vorraums flackerte eine Petroleumlampe und warf ihren unruhigen Schein auf eine Gestalt, die reglos auf ihrer Pritsche lag. Ein kleines Fenster ließ das Mondlicht herein und malte einen hellen Streifen auf den Mann.
Mit dem Fuß trat Fréderic gegen die Gittertür, der misstönende Laut ließ den Priester zusammenfahren.
»Aufwachen, na los. Der liebe Gott kommt dich besuchen.« Er lachte meckernd.
Der Mann auf der Liege rührte sich nicht. Wieder trat Fréderic gegen die Tür. Der Priester wartete, bis das grelle Geräusch verklungen war, dann erhob er die Stimme. Auf Deutsch sagte er: »Ich bin der, nach dem du verlangt hast, Johann. Wir haben viel zu reden.«
Die fremde Stimme ließ den Mann aufmerksam werden. Langsam setzte er sich, seine Füße scharrten auf dem Boden. Das Mondlicht zeigte ein junges Gesicht, weiche Züge, ein fliehendes Kinn, eine hohe Stirn. Die Haare waren nackenlang und nach hinten gestrichen, die Augen schwarz, als hätten sie zu viel gesehen. Johannes Bückler, den man den Schinderhannes nannte, blieb stumm, nur sein Blick zuckte umher.
Der französische Soldat machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Alors! Fangt an!«
»Die Beichte ist etwas Privates, mein Sohn«, sagte der Priester, nun wieder auf Französisch. Mit einer sanften Handbewegung, die nicht recht zu seinem massigen Körper passen wollte, deutete er zur Treppe. Fréderic zauderte, dann schnaufte er und wandte sich zum Gehen.
»20 Minuten. Nutzt die Zeit, Vater, er hat genug Sünden zu beichten.«
Als der Soldat verschwunden war und seine Stiefel auf den Steintreppen verhallten, wurde die Stille drückend. Es war Bückler, der schließlich das Schweigen brach, seine Lippen bewegten sich kaum dabei.
»Ich habe nicht nach einem Pfaffen rufen lassen. Wer seid Ihr und was wollt Ihr?«
»Morgen bringen sie dich aufs Schafott, Johann. Das Urteil ist gesprochen, in diesem Augenblick wetzt der Henker das Beil der Guillotine.« Die Worte des Priesters kamen ohne jede Emotion. »Ich bin hier, um dir ein Geschäft vorzuschlagen. Ein Geschäft, bei dem du nur gewinnen kannst.«
Schweigen war die Antwort, Bückler saß im Mondlicht, regungslos wie eine Statue aus Stein.
»Ich biete dir nicht mehr und nicht weniger als dein Leben, Johann. Du kannst als freier Mann irgendwo neu anfangen, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land.«
Die Sekunden verstrichen, bis der Schinderhannes den Kopf eine Winzigkeit schräg legte. Seine Augen suchten das Gesicht unter der Kapuze, doch sie fanden nur Schatten.
»Was ist der Preis? Was muss ich dafür tun?«
»Das, was du am besten kannst.«
Ein fast lautloses Lachen kam aus Bücklers Kehle. Es war mehr ein Hauchen, das in ein Husten überging und nicht gesund klang.
»Ich kann nichts. Nichts außer rauben und stehlen.«
Nun endlich schob der andere seine Kapuze nach hinten. Die Augen des Schinderhannes wurden groß, als er den Mann erkannte, der in der Kutte steckte. Es war kein Priester, o nein. Es war jemand, dessen Blick während des Prozesses oft den seinen getroffen hatte. Ein Mann, der hier in Mainz die Fäden in der Hand hielt. Der Mann beugte sich nach vorn, umfasste das Gitter und näherte sich dem Gesicht von Bückler.
»Rauben und...
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