Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Sind wir, was wir gelesen haben? Schärft Lesen die Wahrnehmung? Den Gemeinsinn? Was geschieht im Gehirn, wenn wir lesen? Gibt es ein illegitimes Lesen? Ein ekstatisches? Liest man alt anders als jung? Wie las man im Sozialismus? Was liest man im Krieg? Was bedeutet Lesen in unserer heutigen Abstiegsgesellschaft? Macht Nicht-Lesen am Ende glücklicher?
Dies ist ein Lesebuch und ein Buch über das Lesen, eine Anthologie, die das welt- und selbsterschließende Abenteuer des Lesens beschreibt, seziert und feiert. Ausgehend von ihren literarischen oder wissenschaftlichen Arbeiten nehmen sich 24 Autorinnen und Autoren die Freiheit, das Thema auf ihre Weise zu behandeln: in Gestalt einer Theorie, einer Erzählung, einer Kindheitserinnerung oder als Streifzug durch die eigene Bücher- und Lesegeschichte.
Mit Originalbeiträgen von:
Marcel Beyer, Rachel Cusk, Annie Ernaux, Jürgen Habermas, Michael Hagner, Eva Illouz, Hans Joas, Dzevad Karahasan, Esther Kinsky, Thomas Köck, Sibylle Lewitscharoff, Enis Maci, Nicolas Mahler, Friederike Mayröcker, Oliver Nachtwey, Katja Petrowskaja, Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa, Clemens J. Setz, Wolf Singer, Maria Stepanova, John Jeremiah Sullivan, Alejandro Zambra, Serhij Zhadan
02
Katja Petrowskaja
Das Buch duftete nach frischer Druckerschwärze, war angenehm zu halten und hatte etwas »Domestiziertes« an sich: Der blaue Vogel von Maurice Maeterlinck, illustriert mit zarten Aquarellen von Walerij Traugot. Die waren so »leicht«. Wenn ich das Buch aufschlug, staunte ich jedes Mal, dass sie immer noch da waren und sich nicht mit einem Hauch verflüchtigt hatten. Es wurde zu einem meiner Lieblingsbücher, als ich sieben oder acht Jahre alt war und noch nicht ahnen konnte, dass ich ein symbolistisches Drama las. Das Buch bestätigte etwas, was ich längst wusste und was jedes Kind weiß: dass alle Gegenstände eine Seele haben - aber nur nachts. Brot und Wasser, Milch und Feuer, sogar Uhren haben eine Seele und können sprechen. Seit ich dieses Buch gelesen hatte, glaubte ich, dass alles, was in Büchern steht, wirklich existiert - eine paradoxe Schlussfolgerung aus diesem symbolistischen Erbe.
Zwei Kinder, Mytyl und Tyltyl, suchen nach einem blauen Vogel, der Glück bringen soll und Heilung für ihre kranke Nachbarin. Sie gelangen in den Palast der Zukunft und sehen dort ungeborene Kinder, die auf ihre Geburt warten; zwei sind ineinander verliebt und müssen bald getrennt werden, da das eine erst Jahrzehnte später als das andere geboren werden soll. Dieses Nicht-Treffen, dieses Nicht-Wiedersehen hat mich damals erschüttert; vielleicht war es eine Vorahnung dessen, was sich einmal als Unvereinbarkeit der Liebe mit Raum und Zeit erweisen würde. Hier begriff ich auch zum ersten Mal, dass es ein Wunder war, zu den eigenen Eltern gelangt und in seiner eigenen Familie geboren zu sein.
Am Ende des Stückes finden Mytyl und Tyltyl ein Vöglein zu Hause, es ist blau genug, um die Nachbarin zu heilen. Aber es fliegt davon, und die beiden wenden sich ans Publikum und bitten um Hilfe beim Fangen, denn dieser Vogel soll ja Glück bringen. Ich war noch viele Jahre lang davon überzeugt, dass ich verpflichtet bin, nach Vögeln zu suchen, die in anderen Büchern leben und Glück bringen können. Sie flogen von einem Text in den anderen, von Jacques Prévert zu Alexander Puschkin, der einem Vögelchen die Freiheit schenkt, und weiter zum Vogelfänger von Eduard Bagrizkij. Ich war von Vögeln besessen. Am Ende meiner Kindheit habe ich ihn gefunden: einen blau-schwarzen Vogel, in unserem Hof auf dem Dach eines Transformator-Häuschens. Er war schwer krank. Meine beiden Freundinnen und ich pflegten ihn, aus reinem Mitleid, und auch ich bekam eine rätselhafte Krankheit.
So fiel ich monatelang aus dem Leben - aus der »6-Tage-Schulwoche« und ihrem strikten Zeitkorsett. Ich lag im Krankenhaus. Ob es der blaue Vogel war, wussten auch die Ärzte nicht. Viele Bekannte kamen zu Besuch, verdächtig viele. Ich glaube, sie dachten, ich müsste sterben. Ich nahm einen großen Stapel Bücher mit ins Krankenhaus und las. Und nicht nur die Bücher sind mir in Erinnerung geblieben, sondern auch diese Ungestörtheit, diese epische Kontinuität des Lesens. Ich hatte eine merkwürdige Mischung von Büchern ausgewählt: sowjetische Kinderklassik, amerikanische Science-Fiction (war schon Clifford Simak dabei?). Ich erinnere mich, wie ich die »Geschichte von dem Gespensterschiff« von Wilhelm Hauff las, das Buch lag auf dem Bett und ich stand auf den Knien, von Angst gefesselt. Dadurch, dass die Toten-Geister lebendig wurden, habe ich plötzlich die Realität des Todes erfasst. Erst heute wird mir klar, dass Hauff mich stärker erschütterte als der Tod meiner Großmutter einige Jahre zuvor oder eher: ihren Tod habe ich erst in jenem Moment wahrgenommen. Ein erschreckender Befund. Vielleicht habe ich durch das Lesen auch verstanden, dass ich selbst in Gefahr war. Vor vielen Jahren stieß ich in Stuttgart zufällig auf das Grab von Wilhelm Hauff, und vielleicht bin ich in diesem Jahrhundert die Einzige, die frische Tränen über ihm vergossen hat, in Dankbarkeit für das Mutabor, den Kleinen Muck und das Gespensterschiff.
Das Hauptbuch dieser Krankheit aber war gelb und hatte schwarze orientalische Verzierungen: Tausendundeine Nacht. Obwohl es eine Ausgabe für Kinder war, erinnere ich mich an explizit erotische Szenen, die ich kaum verstand; aber ich erkannte, wie verschachtelt die Erzählungen waren, wie schwindelerregend, dass die Menschen aus der einen Geschichte in der anderen auftauchten, als hätten sie mehrere Leben. Mir scheint, damals ist etwas passiert: Als hätte ich lesend einen anderen Lebensraum betreten. Der Tod flackerte am Rande des Erzählens, blieb an der Schwelle, traute sich nicht hereinzukommen, solange Scheherazade von Karawanen und dem bösen Wesir, von den Liebenden, den Dschinnen und dem Kreislauf der Gnade erzählte. Ob das bereits eine metaphysische Erfahrung war, ein Austritt aus der Realität, die endlose Entfaltung der Welten, worüber ich viel später bei Julio Cortázar las und was ich in den Bibliothekslabyrinthen von Jorge Luis Borges fand?
Lange Zeit las ich nur Märchen, Märchen aus der ganzen Welt, mein Vater hatte Kinderliteratur gesammelt: armenische, kirgisische, ukrainische, tschuktschische, afrikanische mit all diesen schlauen bösen Tieren, afghanische, kurdische, italienische und natürlich die skandinavischen. Die Welt war bunt, aber die konkrete Geographie so unerreichbar wie meine Träume. Die indischen Märchen endeten mit der Wendung »und er ging in den Wald, um sich selbst zu begreifen«. Wo dieser Wald lag, konnte mir niemand sagen. Trotz der Unzugänglichkeit der realen Orte waren diese Welten nah, nicht fremd, in meiner Hand und meiner Sprache. Viele Märchen fingen damit an, dass die kleine Welt nicht in Ordnung war, dass irgendetwas fehlte oder erworben werden musste, und man ging auf die Suche, in die große weite Welt hinaus, um später zurückzukehren. Oft fand man das, was man gesucht hatte, bei sich zu Hause, und manchmal kam man zu spät zurück wie Peer Gynt.
Meine Märchenwelt war auch draußen, in dem riesigen Hof zwischen den sowjetischen Plattenbauten meiner Kindheit. Klettern, Schaukeln, Verstecken, Ballspielen, Gummitwist, wann immer Schule und Eltern es zuließen. Doch plötzlich konnte ich keinen Ball mehr fangen, er verschwand Richtung Mond, und auch die Erde war nicht mehr stabil: Myopie, Kurzsichtigkeit. Der anfangs nur leichte Sehverlust hat mich mit einer kräftigen Flutwelle aus dem Hof nach Hause ins Bibliothekszimmer gespült. Ich habe zuerst gar nicht verstanden, dass ich - wie alle in meiner Familie auch - kurzsichtig wurde. Doch dann dachte ich, das gehöre wohl zum Erwachsenwerden dazu. Allmählich trat die Welt da draußen zurück, wurde vage und nebelig. Vielleicht war es »ehrlich«, die Sehkraft zu verlieren, denn die äußere Welt war trügerisch und unzuverlässig, so schien es mir, mit ihren großen Buchstaben der Parteislogans und den Lügen der Lehrer, vor denen man sich nicht verstecken konnte. Die Myopie war mein Tribut.
So strandete ich in unserer »Bibliothek«, unserem Familienlandsitz im siebten Stock. Wir waren umringt von Büchern, sie standen überall, in der gesamten Wohnung, sie schützten die Wände und sie schützten uns, sie wurden zu unserem Harnisch. Nur ihnen konnte ich vertrauen. Ich sah sie und sie sahen mich. Sie waren greifbar, ich wurde von ihnen ergriffen. Kurzsichtigkeit heißt auf Russisch »Nah-Händigkeit«. Man musste nur die Hand ausstrecken, um die Bücher zu streicheln, zu domestizieren, handzahm zu machen. Körperlich, taktil, wechselseitig.
Als ich dreizehn war und schon Kabale und Liebe von Schiller im Herzen trug und Puschkins Eugen Onegin auch, wurde ich in einem dunklen Hinterhof im Zentrum Kiews von zwei Jungs abgefangen. Sie drückten mich an die Wand und fragten schweratmend: »Na, hast du schon Achmatowa gelesen?« So etwas hatte nicht in meinen Büchern gestanden. Mir war sofort klar, dass sie nicht eine Zeile von Achmatowa gelesen hatten. Zumindest damals hatten Bücher noch einen unmittelbaren Einfluss auf die Menschen, und wer Achmatowa las, konnte kein Mädchen überfallen. Die Jungs hatten die verfemten Werke in meiner Gestik erahnt, vielleicht haben sie etwas an mir erkannt auf der Suche nach neuer Lektüre.
Damals ging alles, was man las, ohne Umwege ins Blut. Die Formel der Liebe, der Ehrenkodex, die Vorstellung von Freundschaft und Bruderschaft - alles entstand aus Büchernahrung. Die Realität selbst war zweitrangig, da man sie sowieso...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.