Schweitzer Fachinformationen
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EINS
DREIZEHN MONATE SPÄTER
»MORD«, WIEDERHOLTE ICH, das Wort ging mir nur schwer über die Lippen. Es war Lichtjahre her, seit ich es das letzte Mal ausgesprochen hatte.
Tim wippte mit seinem Bürostuhl, um die Sprungkraft der dreckverkrusteten Federn zu testen, und erhob seinen leeren Kaffeebecher wie ein Glas. »Mord auf einer Insel«, sagte er. »Wenn es nicht so herzlos klänge, würde ich sagen, das hier ist dein Glückstag, Shane.«
Ich hasste den Spitznamen, aber ich versuchte immer noch, Tims Neuigkeit mit dem Wasser in Einklang zu bringen, das hinter ihm das Fenster herunterlief, und so ließ ich es auf sich beruhen. Shane!, hatte Tim an meinem ersten Tag in der neuen Dienststelle gesagt. Du hast doch wohl Shane gesehen! Alter Western? Revolverheld mit geheimnisvoller Vergangenheit? Fällt der Groschen? Hatte ich nicht, ich hasste Western, den aufgewirbelten Staub, das Pathos, doch Tim fand das witzig.
An jenem Morgen war niemandem zum Lachen zumute. Tim nahm den Anruf von der Leitstelle entgegen, während ich mir gerade einen zweiten Kaffee aufbrühte und auf den Donner horchte, von dem die Scheiben klirrten. Ich erhoffte mir von diesem Samstag nicht mehr, als ihn mit trockener Haut zu überstehen. Sosehr ich mir gewünscht hätte, auch dieser Anruf wäre nur ein Witz - von Tim, um »die Neue« zu ärgern, oder ein dummer Streich von gelangweilten Städtern -, wusste ich doch, dass es keiner war, und zwar aus drei Gründen. Erstens Tims Gesicht. Er hatte diese comicartigen Augenbrauen, so lang und gerade, wie mit einem Edding gezogen. Nun - wer war schon makellos? Bei mir selbst sehen die meisten erst einmal nur die Narbe. Aber ich fragte mich, ob Tim trotz seines athletischen Körperbaus in den Augen von Tatverdächtigen nicht wie eine Witzfigur wirkte. Während er am Telefon die routinemäßigen Fragen stellte und sich auf seinem linierten Block Notizen machte, versteinerte seine Miene. Dieser Ausdruck war neu an ihm. Jedenfalls mir.
Der zweite Grund war der Zeitpunkt. Ich hatte mir sagen lassen, Anrufe, mit denen Leute der Polizei einen Streich spielen wollen, seien im Herbst »Einhörner«, Stoff für Legenden. Es war schon Mitte Oktober, der Exodus so gut wie abgeschlossen. Die Mehrzahl der saisonalen Anwohner, selbst die Nachzügler, die dem Sommer noch ein paar letzte Tage abtrotzen wollten, hatten ihre Wassertrampoline eingepackt und ihre grellbunten Schnellboote eingelagert. Auch die Feriengäste waren wieder dort, wo sie hergekommen waren: in Manhattan, Toronto, Montreal. Auf Thousand Islands in Upstate New York war die Saison vorbei, und außer den Ansässigen war niemand mehr da. Nur noch wir.
Vor allem aber der dritte und entscheidende Grund, der Regen, der schräg ans Fenster hinter Tims Schreibtisch peitschte, sagte mir, dass der Anruf echt war. In den Morgennachrichten hatte der örtliche Wetterfrosch - Bob? Ben? - von Sturmböen aus nordöstlicher Richtung gesprochen. Das Unwetter hatte sich einen Tag zuvor mit giftgrünen Wolken angekündigt, die das Dorf Alexandria Bay mitten am Tag in Dunkel hüllten. Die ganze Nacht hindurch hatte es eisiges Wasser wie aus Eimern geschüttet, und laut der Vorhersage sollte es achtundvierzig Stunden so bleiben. Bei diesem Wetter ging niemand gern vors Haus, um einem Polizeiboot beim Anlegen zu helfen. Nein, dieser Anruf war echt. Es war mein erster Mord seit über einem Jahr, seit jenem Fall, der mich dazu gebracht hatte, Manhattan gegen finsterstes Niemandsland zu tauschen. Ich sah mich um. Wir waren nicht die einzigen Ermittler, die in diesem Kommissariat arbeiteten, nur die einzigen, die hier und jetzt an diesem Tag in der Dienststelle waren, und jetzt musste ich, irgendwie, auf eine Insel. »Schnapp dir deine Jacke«, sagte ich und sah, wie Tims Augenbrauen in die Höhe schnellten. »Wir machen eine Spritztour.«
Früher dachte ich anders über Boote, das heißt, ich verschwendete kaum einen Gedanken daran. Eine Fähre nach Alice Island, wenn meine Eltern in der Stadt waren und die Freiheitsstatue sehen wollten. Vor ein paar Jahren ein Dinner auf einem Schiff, das ein vorzeitiges Ende fand, als mein Date seinen Krabbencocktail in den East River erbrach. Das war's dann auch mit meiner Erfahrung zur See. Ich konnte nur hoffen, dass mir dieses Manko heute nicht in die Quere kam. Höchstwahrscheinlich ein frommer Wunsch.
Vom Revier zum Keewaydin State Park waren es mit dem Auto drei Minuten, auf der Route 12 einfach geradeaus. Ich genoss die Wärme des Streifenwagens und die vorerst noch trockenen Kleider am Leib. »Was wissen wir?«, fragte ich und ließ auf dem Lenkrad die Finger spielen. Sie steckten in Handschuhen, die ich zu meinem Bedauern vor dem Verlassen des Reviers nicht an der Heizung aufgewärmt hatte.
»Dass wir jetzt lieber mit diesem Kaffee da drinnen säßen?«
Dafür bekam er ein süßsäuerliches Lächeln. Der Kaffee war jetzt in der Espressokanne sicher nach oben gesprudelt. Ich sah vor mir, wie er im Pausenraum seinen Dampf verströmte. Bis ich ihn wiedersähe, wäre er nur noch eine kalte, bittere Brühe. »Davon abgesehen«, sagte ich.
»Hellhäutiger Mann, sechsundzwanzig Jahre alt, aus einem Ferienhaus verschwunden. Er ist aus New York City raufgekommen. Der Hausmeister hat ihn vermisst gemeldet. Hat am frühen Morgen festgestellt, dass der Bursche verschwunden ist.«
»Moment mal«, sagte ich und fuhr mit dem Kopf zu ihm herum. »Sagtest du >vermisst<? Ich dachte, wir reden hier von Mord.« Das waren zwei Paar Schuhe. Hatte mich Tim im Revier am Ende doch auf den Arm genommen? Kleiner Scherz auf Kosten von Shane?
»Die Familie spricht von Mord.« Mit einem Achselzucken gab Tim zu verstehen, was er von der Behauptung hielt. »Es gibt keine Leiche«, räumte er ein, ein bisschen spät für meinen Geschmack. »Der Mann ist einfach nur weg.«
Ein Vermisstenfall, hinter dem vielleicht Mord steckt, vielleicht aber auch nicht. Mit einem Mal hatte ich zu warme Hände. Ich zog die Handschuhe aus und stopfte sie in die Mittelkonsole. »Name?«
»Da wird die Sache interessant.«
»Sie ist schon interessant.«
Tim grinste. »Rat mal, mit wem wir es hier zu tun haben. Der Vermisste ist kein Geringerer als Jasper Sinclair.« Ich schaute ihn verständnislos an.
»Die Sinclairs haben in New York einen Namen. Sind in der Modebranche, soviel ich weiß«, klärte er mich auf. »Promis. Und heute Morgen wacht Jaspers Freundin auf und stellt fest, dass das Bett neben ihr leer und das Laken blutgetränkt ist.«
»Aber keine Leiche«, antwortete ich. »Hm, das ist . was anderes.«
»Meine Rede.«
»Demnach fällt der Verdacht auf die Freundin?«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Tim. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine junge Frau die Leiche eines erwachsenen Mannes quer durchs Haus wegschaffen sollte, in dem jede Menge Leute schlafen, ohne jemanden aufzuwecken.«
»Falltür im Boden?«
Er lachte. »Wer weiß.«
»Immer vorausgesetzt, der Angreifer oder die Angreiferin war allein.«
»Angreifer«, wiederholte Tim und verzog das Gesicht.
Ich wusste, was er dachte. Einen Mord in seinem Revier nahm er persönlich. »Wie viele Personen waren im Haus?«, fragte ich.
»Acht, mit der Freundin. Mit dem Vermissten neun. Sie haben alle durchgeschlafen, sagt der Hausmeister, trotz des Wetters.«
Ich sah ihn stirnrunzelnd an. »Und die gehören alle zur Familie?« Jedes Gewaltverbrechen geht einem an die Nieren, egal, ob die Leiche vor Ort ist oder nicht, aber Familiengeschichten? Das war das Schlimmste. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, zu welch schrecklichen Dingen Väter, Mütter, Brüder, Vettern und Nichten fähig sind. Blutsbande können wirklich blutig sein.
»Familie, der Hausmeister, die Freundin und noch ein paar VIPs. Wie gesagt, volles Haus. Offenbar keinerlei Anzeichen für gewaltsames Betreten, allerdings war der Hausmeister in dem Punkt ein bisschen seltsam.«
»Seltsam?«
»Na ja, als ob er irgendwas verschweigt.« Wir fuhren links vom Highway ab und durchpflügten eine Pfütze so groß wie ein Seerosenteich. Hafenbecken und Slipanlagen lagen geradeaus.
»Ich hab sie gefragt, ob sie das ganze Haus durchsucht hätten«, fuhr Tim fort. »Könnte schließlich gut sein, dass der arme Schlucker sich im Badezimmer oder in einer Besenkammer unter der Treppe die Wunden leckt. In so einem großen Haus weiß man nie.«
»Woher weißt du, wie groß das Haus ist?«
»Sind sie alle, Shane.« Er verdrehte die Augen. »Aber die Hütte vor allem. Ich kann dir sagen. Als Kind bin ich mit meinem Vater in der Nähe angeln gegangen. Ich hab davon geträumt, da drin zu wohnen . Jedenfalls keine Spur von Jasper. Noch nicht.«
»Das heißt, abgesehen von seinem Blut.« Ich trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad. »Wir müssen eine gründliche Durchsuchung durchführen. Wenn es eine Insel ist, gibt es vermutlich Klippen und so, oder?«
»Jede Menge Stellen, an denen im Dunkeln jemand stürzen und in den Fluss fallen kann«, bestätigte Tim.
»Und wir brauchen die Spurensicherung. Für das Blut.« Besser, es zu erwähnen. Schließlich war das hier die Alexandria Bay, und ich hatte keine Ahnung, wie viel ich von den Kollegen erwarten durfte. Zu meiner Einheit gehörten sechs Ermittler, und in der Gegend gab es zwanzig Staatspolizisten - zuzüglich Sheriff...
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