Schweitzer Fachinformationen
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Krach! Klirr! Porzellanteile scheppern auf den Fliesenboden, der Knall hallt im Saal nach. »Da haben wir den Salat«, entfährt es mir. »Ja«, sagt der fast noch junge Mann neben mir und schaut nach unten auf den Scherbenhaufen mit Beilagen. Auf etwas, was vor Kurzem noch wie mein Frühstück ausgesehen hat. »Tatsächlich. Salatblätter und Gurkenscheiben.« Er beißt die Lippen aufeinander, um in der nächsten Sekunde loszulachen. »Oh, bitte entschuldigen Sie. Das ist alles meine Schuld. Ich hätte nicht so lossprinten sollen. Warten Sie. Ich hole schnell jemanden.« Ich sehe ihm nach, wie er zwischen den Tischreihen in Richtung Küche davonspurtet. Meine Mitbewohner heben die Köpfe von ihren Tellern und Schalen, betrachten interessiert das Schauspiel, für sie eine willkommene Abwechslung im Rehatrott. Sie sitzen an Einzelpulten in Reihen im vorgeschriebenen Abstand. Der sportliche, fast noch junge Mann und ich haben gleichzeitig dieselbe Lücke zwischen den Einzeltischen angestrebt und sind kollidiert. »Typisch«, denke ich. »Dass mir das passiert. Und natürlich gleich am ersten Tag.« Der fast noch junge Mann kehrt neben einem Mitarbeiter aus der Küche, bewaffnet mit Schaufel und Bodenlappen, mit einem neuen Tablett für mich zurück. Ich bestücke es am Buffet, balanciere es durch die Lücke und nehme meinen nummerierten Platz ein. Mein Nachbar ohne Berührungsängste hat bereits den Nebentisch besetzt.
»Das letzte Mal habe ich bei meinem schriftlichen Abitur so gesessen«, sagt er und lacht.
Tatsächlich, wir hocken an Einzeltischen in Reihen hintereinander, in zweifacher Armlänge voneinander entfernt, jeder am eigenen Pult. Durch die Fensterfront blicken wir auf die roten Beerensträucher des Vorplatzes, der jetzt, Ende November, einer Brachfläche gleicht. Zu wärmeren Zeiten wandelt er sich zu einer Terrasse und ich sehe vor mir entspannte Sommergäste dort in der Sonne sitzen und bereits beim Frühstück die begehrte und ausreichend für alle vorhandene Sole-Luft tanken.
Mein Nachbar betastet sein gerötetes Gesicht und den dunkelroten Nacken. Hautprobleme oder Nervosität oder beides - ich frage ihn nicht.
»Ich heiße Volker«, ruft er mir zu. »Anja«, gebe ich zurück und hoffe, dass mein Name bis zu ihm durchgedrungen ist. Der Lärmpegel im Speiseraum der Rehaklinik steigt an. Die Frühstückenden überwinden die vorgeschriebenen Abstandsgebote und unterhalten sich über die Tische hinweg. Ich würde gerne mit dem sympathischen Hanseaten hinter mir reden, der gerade meinen Rücken anspricht. Weil ich mich zu ihm umdrehe, vernachlässige ich meine Mahlzeit, erfasse aber nur die Hälfte seiner Rede und schon steht eine hochgewachsene Dame mit einem Tablett hinter mir, die mit ihrer Tischmarke winkend im schönsten Rheinisch Anspruch auf meinen Platz erhebt: »Ja, wat denn! Iss dat nich mein Platz?« Ach ja, die zweite Schicht, nach dreißig Minuten habe ich den Tisch freizugeben. Ich erinnere mich an den Standardkommentar auf meinem Tagesplan: »Denken Sie daran, dass Ihre Schicht um 7.55 Uhr endet.« Oh je, und ich habe schon fünf Minuten überzogen. Schon wieder etwas falsch gemacht. Ich nicke meinem Nachbarn zu, raffe hastig Müslischüssel und Obst zusammen, um mein Frühstück auf dem Zimmer zu beenden.
Auf dem Gang umrunde ich eine Warteschlange vor den individuellen Postfächern. In ihnen landen täglich, noch analog in Holzkästen, die Rehainfos für die Gäste. Nichts erinnert an einen mondänen und gemächlichen Kurbetrieb, wie von Arthur Schnitzler und Thomas Mann beschrieben. Reha digital ist das Stichwort: Ärzte, Pflegestützpunkte, Küche und Anwendungen sind vernetzt und produzieren unaufhörlich ausgedruckte Speisepläne, Zeitfenster für Sport, Schutzregeln gegen die Pandemie, Termine, Tabellen, Formulare und die Änderungsinformationen zu allen vorherigen Plänen. Ich werde informiert, geleitet und verwaltet.
Während ich an dem Schreibtisch im Zimmer das Müsli löffle, schaue ich über den Balkon dorthin, wo ich das Meer vermute. Ein imposanter, sandiger Hügel erhebt sich vor der Frontseite der Rehaklinik: Der versprochene Seeblick aus dem Zimmer ist ein Dünenblick. Auch wenn ich die Wellen im grauen Dunst hinter der Riesendüne nicht sehen, sondern nur erahnen kann, bin ich froh, dass sich die Düne den touristischen Ansprüchen nach Seeblick noch nicht ergeben hat, noch nicht verglast wurde, um durch sie hindurch auf die Nordsee schauen zu können. Eigentlich hatte ich mit Seeblick gebucht, aber na ja, besser ich sage nichts. Schließlich will ich nicht schon am ersten Tag mit Gemecker auffallen.
Ich studiere meinen Tagesplan. Einige Untersuchungen am Nachmittag, den Vormittag habe ich frei und kann die Insel erkunden. Der Herbststurm der vorherigen Nacht hat sich verzogen, weht sich nur noch sporadisch in Böen aus. Über eine hölzerne Treppe steige ich hinunter zum Meer. Auf den letzten Stufen versinke ich in Sandschichten. Vor meinen Augen entfaltet sich ein menschenleeres Relief aus Strand, Wasser und Wolken, das mich an die Pfingstdarstellungen auf den Gemälden alter Meister erinnert. Gleich werden göttliche Hände ein Wolkenband teilen und mit gleißenden Strahlen geistige Kräfte auf die Inselbewohner herablassen. Eine himmlische Eingebung! Ja, das wäre es. Die könnte ich dringend gebrauchen. Leider bleibt die erwartete Erscheinung aus und statt auf den erlösenden Geistesblitz oder erleuchtete Spaziergänger treffe ich auf Schätze, die das Meer herangespült hat: Plastikteile unklarer Herkunft, morsche Holzbohlen, unzählige Muschelsplitter und undefinierbare Pflanzenreste. Darüber kreisen und kreischen Möwen, stürzen sich im Steilpflug auf Verwertbares, zerren im Wettstreit an den Kostbarkeiten. Ich passiere den nächsten Aufgang. Der Pfosten mit der Wegmarkierung hat sich dem Sturm ergeben und sich in die Diagonale gesenkt.
Der Strand erscheint mir endlos, der Horizont weitet sich vor mir bis zur Erdkrümmung. Die Böen schieben mich nach vorn, lassen mich über den feuchten Untergrund schweben. Die See umströmt die Insel wie ein Schutzring. Irgendwo hinter dem Wasser existieren auf festem Boden mein Zuhause und Georg, der sich an den Abenden der nächsten Wochen ohne mich in seine Bauzeichnungen vertiefen wird, und mein Sohn Adrian, meine Freunde, meine Jugendlichen, die ich betreue. Die aufmunternd gemeinte Verabschiedung meines Hausarztes klingt mir in den Ohren nach: »Sie werden lernen müssen, eine Zeit lang um ihren eigenen Nabel zu kreisen. Und bringen Sie ihre Haut so oft wie möglich an die Luft.« Na toll, denke ich. Der Boden unter meinen Füßen wankt, ich weiß nicht, wie es weitergehen soll und mein Arzt empfiehlt mir Frischluft. Wann haben wir dieses Gespräch geführt? In einem früheren Leben? Ein Windstoß reißt mich fast um. Gnädig zerpflückt er meine Gedanken in Schnipsel und wirbelt sie über Wasser und Dünen davon.
Am Rande des Sandgebirges schleppe ich mich von einer Verwehung in die nächste und lande an der Seeseite meiner Hausdüne. Ein Drahtzaun zieht sich an ihrem Sockel entlang. Hinter einem Törchen schlängeln sich Stufen den Hügel hinauf. »Therapiedüne«, lese ich auf einem Schild. Ich rüttle an der Klinke. Das Tor ist verschlossen. Natürlich, denke ich, als ich den Nachsatz bemerke: »Betreten verboten. Zutritt nur in Begleitung des Klinikpersonals.«
So ganz ungeschoren vom touristischen Geschehen ist er also doch nicht geblieben, mein sandiger Hausberg. Therapiedüne: Was bedeutet das? Wird sie tatsächlich in den Diensten des Gesundheitsmarketings als Therapeutin eingesetzt? Und das, obwohl die wilde See hartnäckig ihren Sand frisst und sie selbst der Therapie dringend bedürftig wäre? Dem Geheimnis ihrer therapeutischen Wirkungen komme ich nicht auf die Spur, meine eigenen Anwendungen halten mich am Nachmittag in Atem und gönnen mir erst gegen Abend eine Pause.
In der Dämmerung stehe ich am Rande der Klippe. Graublaue Wassermassen nähern sich dem Felsen, der Schaum zerspringt in helle Flocken, läuft an der Strandseite aus. Ich stelle mir vor, wie ich mich nach rechts wenden würde und die Küste entlangginge. In zwei Tagen landete ich wieder hier am Kliff. Auch wenn ich mich nach links wenden würde. Ich träfe auf lange Sandstrände und Wattenmeer, auf Dünen und Heide. Aus der Ferne sähe ich auf Siedlungen. Ich würde vergeblich nach einem Ausgang oder Eingang suchen. Ich wäre gestärkt, windgegerbt, beseelt. Unsinn! Eine Böe zerrt an meiner Mütze, pustet mein Traumbild von mir selbst als robustes Nordlicht davon. Früher hätte ich mich das vielleicht getraut, aber heute? Natürlich wäre ich erschöpft, verfroren, nass, gebe ich klein bei. Oder ich hätte nach der Hälfte aufgegeben.
Ich schaue dem Wellenspiel zu. Kleine dunkle Spitzen zwischen den Wogen heben sich im verschwindenden Licht auf und ab. Ja, ja, da sind sie. Die Schweinswale. Eine Spitze nähert sich dem Strand, wird zu einer länglichen...
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