Schweitzer Fachinformationen
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Untergehen
Carl Juniper war kein Decksmann. Keiner, der bei brüllendem Sturm steifgefrorene Leinen bändigte oder mit eiserner Hand das Ruder gegen wütend schlagende Brecher hielt. Er war auch kein Heizer, der in brennender Hitze unermüdlich Kohlen schaufelte oder mit fauchendem Schweißbrenner Dampfkessel flickte. Juniper war kein Wachoffizier, der mit eisblauem Blick den Himmel und die See las. Und er war kein Steuermann, der mit dem Sextanten die Gestirne maß und die Position und den richtigen Kurs bestimmte.
Carl Juniper war Schiffskoch.
Aber er fuhr lange genug zur See, um zu wissen, dass es mit der »SS Birmingham«, einem bald zwanzig Jahre alten, völlig heruntergekommenen Dampfer, zu Ende ging. Weil sie nur noch vom Rost zusammengehalten wurde. Weil ihre Spanten nicht ächzten, sondern sterbend schrien. Weil der Kapitän ein rotpockiger Säufer war, der jetzt totenbleich aus dem Ruderhaus in die gischtige Hölle starrte, das Maul bis zum Herz aufgerissen, aber kein Ton kam heraus. Weil Tiny Tam, der narbengesichtige Rudergänger, seine Lippe blutig gebissen hatte, während seine Adern zum Platzen geschwollen waren. Weil Juniper am Schott zum Kesselraum gesehen hatte, wie der zweite Ingenieur seine Leute mit einem Eisenrohr den Niedergang herunter und zurück auf Station prügelte. Sie trugen schon Korkwesten, und ihre Augen rollten wirr. Die Heizer kamen immer als Letzte aus sinkenden Schiffen. Und wenn das Schiff schnell sank, meistens gar nicht.
Die »Birmingham« würde sinken wie ein Stein. Ihre Laderäume waren voll Getreide. In Valparaiso sollten sie Guano aufnehmen. Pinguinscheiße. Um in Europa Getreidefelder zu düngen. Ein Kreislauf, an dem die Existenz von jämmerlichen Reedereien wie der »Clapham & Wilkes Steamboat Company« hing. Und die der armen Schweine, die auf ihren schwindsüchtigen Kähnen die Weltmeere befuhren.
Valparaiso war noch weit weg. Hinter Kap Hoorn. Juniper wusste nicht genau, wo sie jetzt waren. Irgendwo zwischen South Georgia und den Falklands. Traurige, karge Felsen im kalten Südatlantik. Aber bewohnt. Mit Häusern und warmen Öfen. Unsinkbar. Man saß in der Stube und ließ den Sturm über die Dächer jagen. Dachte mit leisem Schaudern an die Schiffe draußen im Ozean.
Das Vorschiff der »Birmingham« hob sich wieder in den grellgrauen Himmel, das Wasser verschwand. Juniper krallte sich in die Messingleiste, die unter den Seitenfenstern des Ruderhauses entlanglief. Der Kapitän stöhnte laut. Sealgrave, der am Maschinentelegrafen stand, stierte auf den Messinghebel, und Tiny Tam am Ruder sog seine blutende Unterlippe wieder zwischen die noch verbliebenen Zähne.
Als die »Birmingham« den Kamm der Dünung erreicht hatte, die Füße der Seeleute nicht mehr vom Aufwärtsflug auf die Decks gepresst wurden, alles zu schweben schien, hörte Juniper trotz des brüllenden Sturms, des knarrenden Holzes und des ächzenden Stahls hinter sich Stiefeltritte, Atem, das Knarzen von Ölzeug.
Seeleute drängten sich im Längsgang unter der Brücke und schoben sich die Stufen des Niedergangs herauf. Auch sie trugen Korkwesten. Ihre Augen waren weißblinkende Fenster der Furcht. Sogar die der Chinesen, die sonst immer so geheimnisvoll schmal und unleserlich schatteten.
Die »Birmingham« verlor das Wasser unter sich, das Deck schwand unter den Füßen der Besatzung, und das dreieinhalbtausend Tonen große Schiff stürzte zu Tal. So schnell, so jäh, dass die Männer auf dem Niedergang, dem Fall des Schiffes gehorchend, durch das schmale Schott nach oben flogen und Juniper mit sich rissen.
Die arme »Birmingham« wollte zurück in die See, aufschwimmen und sich retten, neigte dazu ihren Bug nach unten, dem höllischen Grau und Weiß entgegen. Der Kapitän, Tiny Tam und Sealgrave stemmten ihre Seestiefel gegen den Fall, lehnten sich hintüber, während Carl Juniper und weitere vier Mann ineinander verkrallt nach vorn kugelten. Carl warf seine Arme in beide Richtungen und fasste nach Halt, den er am Schott zur Steuerbordnock auch fand. Die Schiffskameraden stürzten schreiend vorbei, und zwei schlugen so heftig auf eine Frontscheibe des Ruderhauses, dass diese zersprang.
Die »Birmingham« stürzte, die wütende See stieg. Der Rumpf zitterte, der Stahl weinte, als aus dem freien Fall mehr und mehr ein Gleiten wurde. Die See sog die »Birmingham« wieder an sich und hinab ins Dunkle. Gischt und grünes Sturmwasser schossen durch das zersprungene Glas.
Juniper wurde von der hereinbrechenden Woge aus der Brücke gespült und stürzte den Niedergang hinunter. Das Letzte, was er hörte, bevor seine Welt schwarz wurde, war der Schrei des Kapitäns.
»Alle Mann von Bord. Rette sich, wer kann.«
Carl Juniper schlief stets traumlos und tief. Dafür ging sein Geist am Tag auf Reisen, was ihm in den ersten Jahren manche Backpfeife von älteren Köchen eingebracht hatte.
Dieser Schlaf war anders. Er war voller verschwommener Bilder, wirrer Laute, starker Gerüche. Die Rohrleitungen an der Schiffsdecke, der tanzende Orkanhimmel. Nasser Filz und brettsteife Leinwand. Holz und ein zarter Duft von Rum. Nasse Hanftaue. Und immer wieder kaltes Salzwasser. Vielleicht war das der Übergang der Seemannsseele in die andere Welt. Juniper glaubte zu lächeln, während er sich vorstellte, in der sanfthügeligen Heide bei Bristol zu erwachen, wo er aufgewachsen war. Oder an einem Südseestrand, inmitten dunkelbrauner Mädchen.
Tatsächlich sah Juniper dann das verzerrte Gesicht von Billy Bunkston, dem Ersten Offizier. Was Bunkston brüllte, konnte Juniper nicht verstehen, der Sturm war lauter, das Geschrei der anderen Seeleute. Aber Juniper merkte, dass er festgebunden war. Bunkston brüllte weiter, nickte und stierte wild, dann wurde das, worauf Juniper lag, hochgehoben und über Bord geworfen. Juniper schrie jetzt auch, dachte aber zugleich, dass es wenig Sinnloseres geben könnte, als gegen einen außer sich geratenen Ozean anzuschreien.
Die kochende See schlug salzig über ihm zusammen, er glitt wieder zurück in die seltsamen Träume, die jetzt nur noch aus Gluckern und Rauschen bestanden, aus heulendem Wind und eiskaltem Wasser. Und leiser wurden. Und grauer. Und dann Dunkelheit.
Und dann nichts mehr.
Als Carl Juniper dann doch noch erwachte, war die See fast glatt. Der Wind wisperte nur noch. Die Sonne schwebte über dem Horizont, doch Juniper konnte nicht sofort sagen, ob sie gerade auf- oder unterging. Ihre Strahlen waren unendlich weit weg und wärmten nicht.
Er lag auf einem der Rettungsflöße, die an Deck der »Birmingham« verzurrt gewesen waren. Die Kameraden hatten ihn wohl festgebunden, damit keine Welle den Ohnmächtigen einfach mit sich reißen konnte. Die Kameraden.
Wo waren sie?
Juniper drehte den Kopf von links nach rechts. Nur Wasser. Leicht steigend und fallend, von sanftem Wind bewegt. Er konnte nur in zwei Richtungen sehen, daher bewegte er Arme und Beine, wand den ganzen Körper und befreite sich von den rettenden Tauen. Kauerte sich auf angezogene Knie und nahm Rundumblick.
Niemand. Nichts. Nur Ozean.
Er war allein.
Die Flöße hatten an Oberdeck gelegen, um bei schnellem Sinken des Schiffes aufzuschwimmen. Warum man ihn mit dem Floß schon vorher in die See geworfen hatte, wusste Juniper nicht, und so wie die Dinge lagen, würde er das auch nicht herausbekommen. Ob noch Kameraden auf dieses Floß gelangt und dann heruntergespült worden waren oder ob er von Beginn an einsam und alleine durch den Südatlantik getrieben war - nur Neptun konnte diese Frage beantworten. Und Neptun kannte Juniper bloß von den Äquatortaufen, wo er meistens vom Bootsmann dargestellt wurde.
Juniper wusste nicht annähernd, wo er war und wie die Strömungen liefen. Und wenn, hätte es ihm ja auch nichts genützt, denn das Floß verfügte weder über Ruder noch Segel. Er war ganz den Launen von See und Wind ausgesetzt und einem Schicksal, das ihn vielleicht bei Tageslicht in Sichtweite eines anderen Schiffes treiben ließ.
Mit einem Wort, Carl Juniper war so gut wie verloren.
Das Floß war eine einfache Konstruktion. Leere Fässer, zusammengebunden und mit Holzbrettern umbaut. Aber in der Mitte des Decks befand sich eine kleine Klappe, wohl abgedichtet und mit einem Messingriegel verschlossen. Darunter war ein Hohlraum, in dem ein kleines Fass Frischwasser, ein Vorrat Schiffszwieback und eine Flasche Rum bewahrt wurden. Billy Bunkston, ihr Erster Offizier, war im Chilenischen Bürgerkrieg auf einem Schmuggler gefahren und hatte dort die Vorzüge der Flöße gegenüber den nur schwer und oft zu langsam zu Wasser zu bringenden Booten kennengelernt.
Bunkston. Ein guter Offizier. Davon gab es Junipers Erfahrung nach nicht viele und jetzt wohl wieder einen weniger.
Juniper trank etwas Wasser und schöpfte dadurch die Kraft, nicht gleich das ganze Fass auszusaufen. Obwohl es vermutlich gleichgültig war, wie gut er sich das Wasser einteilte. Entweder würde er in den nächsten zwei Tagen gefunden oder sterben. Wenn nicht verdursten, dann erfrieren, von Haien gefressen werden, ertrinken. Was auch immer.
Es gab keinen Zweifel mehr, die Sonne ging unter.
Er hob die Rumflasche gegen das schwindende Licht. Echter Jamaika. Braungolden. Genau das Richtige, um sich die letzten Stunden zu versüßen. Wenn er dann wissen würde, dass es die letzten waren.
Rum hatte ihn überhaupt erst auf die »Birmingham« gebracht. Und Absinth. Und Lagerbier. Und Isobel aus dem »Madame Abigail's«. Sie hatte sich in der dunkelplüschigen Ecke an ihn geschmiegt, seine Hand genommen und an den Träger ihres Kleids...
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