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Kapitel 2
22. November 1989
Keil hatte sich bis drei Uhr in der Früh in seinem Bett von einer Seite auf die andere gewälzt, während ihm alte Fälle und die Gesichter der Opfer durch den Sinn gegangen waren, bis er endlich Schlaf gefunden hatte.
Zum Glück waren die wenigen Stunden traumlos geblieben. Er sah aus dem Fenster auf die regennasse Straße und wusste sofort, dass es auch heute keine rosige Morgenröte geben würde, nur ein stumpfes Dunkelgrau, das von Minute zu Minute lediglich ein wenig aufhellte.
Nach der zweiten Zigarette am Küchentisch entschloss er sich dazu, das Bild mit den beiden Jungen am Strand abzunehmen. Er würde sich nach einem fröhlicheren Ersatz, vielleicht einer Sommerlandschaft mit vielen Blumen, umsehen. Einen Moment lang hielt er den gerahmten Druck ratlos in der Hand und schob ihn dann schließlich in den Spalt zwischen Wand und Kühlschrank.
Im Hauseingang hingen sechs Briefkästen aus Metall an der Wand, je einer für jede Mietpartei. Obwohl es noch viel zu früh für den Postboten war, steckte ein kleines Paket in seinem Briefkastenschlitz. Keil zog es heraus, dabei riss das grobe Packpapier an der Seite ein. Es war nur mit seinem Namen in großen Druckbuchstaben beschriftet, die Adresse fehlte. Der Absender hatte einen Bleistift benutzt und die Mine so fest aufgesetzt, dass die beiden i-Punkte in Vor- und Nachnamen das Papier durchstoßen hatten. Als er das Päckchen in der Hand wog, klapperte es im Innern. Er öffnete es vorsichtig und konnte den Inhalt sofort identifizieren, weil er sich vor gar nicht allzu langer Zeit mit Gröben über die teuren Videorekorder unterhalten hatte, die es nun in der DDR zu kaufen gab. Es war eine unbeschriftete VHS-Videokassette aus westdeutscher Produktion.
Wer sollte ihm eine solche Kassette zukommen lassen? Und warum?
Auf dem Revier gab es kein Abspielgerät. Die Staatssicherheit verfügte bestimmt über entsprechende Technik, aber es war nicht klug, sich mit denen in Verbindung zu setzen, wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, was man auf der Kassette zu sehen bekam. Außerdem hatte doch sein direkter Vorgesetzter, der Major, ausdrücklich verlangt, dass Leutnant Gröben und er nun eigenverantwortlich handeln sollten. Es war nicht ausgeschlossen, dass die Kassette etwas mit einem der Fälle zu tun hatte, an denen er gerade arbeitete.
Keil entschloss sich dazu, seinen alten Freund Thilo Brockmann anzurufen, den er seit der gemeinsamen Zeit bei der NVA kannte. Brockmann war ein unglaublich geschickter Techniker, dessen Stärke im Improvisieren mit einfachsten Mitteln lag. Beim Militär hatte er heimlich einen leistungsstarken Radioempfänger aus Teilen zusammengebastelt, die in Keils Augen maximal für einen Brotröster gereicht hätten. Sein Talent war allerdings nicht unbemerkt geblieben, und so war er später zum Militärischen Nachrichtendienst versetzt worden. Thilo Brockmann arbeitete heute als, wie er es bezeichnete, freier Mitarbeiter der Staatssicherheit und verdiente zusätzliches Geld, indem er elektronische Anlagen aller Art installierte oder überholte, bei allen, die es sich leisten konnten. Hin und wieder arbeitete er aber auch umsonst bei einflussreichen Leuten, die als Gegenleistung dazu beitrugen, dass er seinen halbwegs unabhängigen Status beibehalten konnte. Hinzu kam der gute Ruf seines Vaters, einem der führenden Kardiologen der DDR. Thilo Brockmann hatte Keil anvertraut, dass sein Vater die Herzen von Honecker, Mielke und anderen Größen der Partei in Schwung hielt und häufig ins Regierungskrankenhaus in Berlin eilen musste. Wer dort als Patient behandelt wurde, war vom Präsidium des Ministerrates genau festgelegt: hohe Politiker, Botschafter befreundeter Staaten, prominente Künstler und Wissenschaftler. Normalsterbliche hatten dort keinen Zugang.
Brockmann nahm erst nach mehrmaligem Läuten ab, und der Tonfall seiner Stimme machte deutlich, dass Keil ihn geweckt hatte. Keil berichtete in knappen Worten von seinem morgendlichen Fund.
»Komm einfach vorbei«, sagte Brockmann und gähnte. »Es ist nämlich so, dass ich auf unbestimmte Zeit Urlaub habe.«
*
Thilo Brockmann wohnte im Stadtzentrum, in einer Seitenstraße unweit vom Nauener Tor. Der Putz des Hauses war fast vollständig abgeblättert, mehrere notdürftig geflickte Risse überzogen die Frontseite vom Boden bis zum Dach. Direkt vor dem Eingang parkte ein roter Wartburg, dessen glänzender Lack das Licht der Straßenlaternen reflektierte. An einigen Details wie dem veränderten Kühlergrill erkannte Keil, dass es sich um das neueste Modell handeln musste.
Im abgenutzten Treppenhaus funktionierte das Licht nicht. Es wäre für Brockmann eine Kleinigkeit gewesen, die Sache in Ordnung zu bringen, aber vermutlich fühlte er sich nicht zuständig.
Thilo Brockmann öffnete die Tür in einem lachsfarbenen Bademantel, den er eigentlich immer trug, so lange er seine Wohnung nicht verlassen musste. Das Ding war so hässlich, dass er damit die Leute auf der Straße in hellen Aufruhr versetzt hätte. Hinzu kam, dass Brockmann fast zwei Meter groß war und er den Mantel von seinen Eltern zu seinem zwölften Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Danach war er noch etliche Zentimeter gewachsen.
Keils Freund schien sich seit mindestens einer Woche nicht rasiert zu haben. Aus der Wohnung drang der Geruch von kaltem Fett und den Zigarren, die Brockmann so sehr schätzte.
Er musterte das Päckchen in Keils Hand und trat zur Seite. »Komm rein. Ich hoffe nur, dass du nicht in Schwierigkeiten steckst.«
Keil schloss aus Gewohnheit zuerst die Tür hinter sich, bevor er reagierte. »Wie meinst du das?«
»Vielleicht wurdest du heimlich gefilmt, und auf der Kassette ist etwas, was dich belastet. Womit man dich erpressen könnte.« Brockmann nahm ihm das Päckchen ab und befreite die Videokassette von dem grauen Packpapier, in das Keil sie aus Furcht vor neugierigen Blicken wieder eingewickelt hatte.
»Es gibt nichts, was man mir vorwerfen könnte«, sagte Keil. »Außerdem müsste dann doch wohl ein Erpresserbrief dabei sein.«
»War nur Spaß, Martin!« Brockmann grinste breit. »Wenn einer noch sauber ist in diesem Land, dann bist du es.« Er ging in die Küche, nahm einen erkalteten Zigarrenstumpen aus dem überquellenden Aschenbecher und zündete ihn an.
»Ich kann uns leider keinen Kaffee machen. Die Propangasflasche vom Herd ist leer. Wollte später eine neue holen.« Brockmann paffte heftig und setzte die kleine Küche unter übelriechenden Dampf. Obwohl er gut verdiente, bevorzugte er billige Zigarren von minderer Qualität.
»Hast du den roten Wartburg vor der Tür gesehen?«, fragte Brockmann, während sein fast kahler Schädel in den Rauchschwaden verschwand.
»Gehört der etwa dir?« Keil konnte es kaum erwarten, endlich zu sehen, was sich auf der Videokassette befand, aber er kannte seinen Freund lange genug, um zu wissen, dass man ihn nicht drängen durfte.
»Eine Woche bevor unser Schabowski den antifaschistischen Schutzwall einfach mal so nebenbei geöffnet hat, hab ich den bekommen.« Brockmann hörte sich ziemlich sauer an. »Der Wartburg hat einen Volkswagen-Motor. Hat mich ein Vermögen in Westmark gekostet. Und jetzt hab ich mitbekommen, dass man sich gebrauchte Wagen aus der BRD kaufen kann. Echte Volkswagen, Opel und mit dem nötigen Kleingeld einen Mercedes. Mein Bruder hätte mir da sicher was besorgen können.«
»Dein Bruder?«, fragte Keil.
»Der hat vor drei Tagen rübergemacht. Sieht hier keine Perspektive mehr.«
Glut sprühte über Brockmanns Handrücken, als er die letzten Zentimeter der Zigarre im Aschenbecher zerquetschte. »Sehen wir uns dein Video an.«
Im Wohnzimmer musste Keil sich an Kartons und diversen Geräten vorbeizwängen. Auf dem Tisch lagen die Eingeweide eines elektronischen Bauteils, Messgeräte mit winzigen Skalen und jede Menge Werkzeug bis hin zu Schraubenziehern im Miniaturformat. In einem bis zur Decke reichenden Regal waren so viele Bücher untergebracht, dass es sich bedenklich zur Seite neigte.
Brockmann besaß drei Fernseher, zwei aus DDR-Produktion und einen riesigen Klotz der Marke Blaupunkt, der mit einem Videorekorder verkabelt war. Ein identisches Gerät hatte in Erwin Illners Wohnung gestanden.
Der Rekorder schluckte die Kassette, Brockmann drückte die Start-Taste und schaltete den Fernseher ein. Keil konnte hören, wie die Videokassette mit einem leisen Quietschen anlief. Einige Sekunden lang blieb der Bildschirm schwarz, dann begann die Aufzeichnung so abrupt, dass Keil und sein Freund zeitgleich einen Laut völliger Überraschung ausstießen.
Kaltes Neonlicht erhellte einen Raum bis in den letzten Winkel. Keine Schatten, das Bild von einer beinahe dreidimensionalen Schärfe. Die Wände waren mit weißen und hellgrünen Fliesen gekachelt, wie Keil sie aus Schwimmbädern kannte.
»Verdammt!«, knurrte Brockmann. »Wer ist die arme Sau?«
In der Mitte des Raums saß ein Mann auf einem Metallstuhl, die Handgelenke mit Draht an die Lehnen gefesselt. Erwin Illner. Nackt wie ein Wurm. Er zerrte kurz an den Fesseln, hörte aber sofort damit auf, als die Drähte dadurch nur noch tiefer in sein Fleisch schnitten. Die Augen irrlichterten, sein Gesicht wurde zuerst rot, dann violett. Direkt neben ihm entdeckte Keil ein kreisrundes Gitter im Boden. Wahrscheinlich ein Abfluss.
»Gibt es keinen Ton?«, fragte Keil.
Brockmann beugte sich vor und richtete die Fernbedienung auf den Fernseher. »Kein Ton«, stellte er fest, ohne den Blick vom...
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