Schweitzer Fachinformationen
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Sein Gesicht war schmal geworden, und die Lippen hatten eine bläuliche Farbe angenommen. Jeder Atemzug schien ein Kampf zu sein, ein Ringen um ein wenig Lebenszeit. Darum, sich noch nicht verabschieden zu müssen. Vielleicht geschah diese letzte Auflehnung gegen den bevorstehenden Tod, ohne dass er sich dafür entschieden hatte, zu kämpfen. Vielleicht war es nichts mehr als eine Reaktion seines Körpers. Denn dass er sterben würde und dass dies bald geschehen würde, war ihm klar, und er hatte sich darauf vorbereitet. Er habe ein paar Sachen verschenkt, hatte er mir erzählt, Bücher, Bilder, Uhren. Und vieles habe er weggeworfen, Kleidungsstücke, Schuhe und Zeitschriften, die er über die Jahre gesammelt habe. Seine Frau solle nicht damit belastet werden, es sei genug, dass sie allein werde zurechtkommen müssen.
Auf mich machte sie keineswegs einen hilflosen Eindruck. Sie war bei meinen Besuchen immer elegant gekleidet, trug passenden Schmuck und hörte klassische Musik. Manchmal sass sie in ihrem Arbeitszimmer an einem Schreibtisch aus dunklem Holz und tippte etwas in ihren Computer. Nachrichten an Bekannte, sagte sie. Oder dass sie finanzielle Angelegenheiten zu erledigen habe.
Ein paar Tage zuvor hatte er erklärt, dass er bereit sei, zu sterben. Er sei alt geworden, so alt, wie er es nie erwartet hätte.
Seine Frau sagte, ach komm, Vater, wir hätten dich gerne noch ein wenig länger hier bei uns.
Dass sie mit wir die beiden Söhne meinte, die Enkelkinder und den Hund, erzählte sie mir danach. Dass sie ihn nicht mit seinem Namen, sondern mit Vater ansprach, irritierte mich, auch wenn ich dies schon öfter erlebt hatte. Es mochte viele ältere Paare geben, die sich so ansprachen, Vater, Mutter. Ich fand das lächerlich. Gleichzeitig machte es mich traurig. Traurig, dass eine Beziehung, die wie die meisten anderen auch aus Liebe entstanden war, in einer Rollenzuteilung endete, in einer Benennung, die den Partner in seiner Weiterentwicklung hinderte.
Nachdem ich ihm bei der Dusche geholfen, ihm die Medikamente verabreicht und seine Vitalzeichen gemessen hatte, war er so erschöpft, dass er schlafen wollte. Er schloss die Augen und bat mich, den Fensterladen zu schliessen. Die Fensterflügel liess ich offen. Es waren Kinder zu hören, die auf dem Pausenplatz der nahegelegenen Schule spielten. Die Pausenglocke ertönte, ein letztes Aufbäumen des Kinderlachens, und dann wurde es ruhig.
Danke, sagte Hr. M.
Gern geschehen, ich werde morgen wieder da sein.
Ich zog die Türe hinter mir zu, nicht ganz, einen Spalt sollte sie offenbleiben, damit seine Frau ihn würde rufen hören.
Sie stand vor dem Fenster im Wohnzimmer. Ob ich einen Kaffee möge, fragte sie.
Dass dafür keine Zeit bleibt, leider, muss ich meiner Kundschaft immer wieder erklären.
Schade, antwortete sie, es wäre schön gewesen, wieder einmal mit jemandem von aussen zu sprechen. Mit jemandem von aussen meinte sie wohl einen Menschen, der nicht zu ihrem Familienkreis gehörte, nicht zu jenen, die nicht so recht wussten, worüber sie im Angesicht des nahenden Todes des Vaters sprechen könnten. Vielleicht kann ich es mir morgen einrichten, sagte ich zu ihr und verabschiedete mich.
Die Touren des Pflegedienstes sind ausgefüllt, jede Minute zählt und wird erfasst. Stehe ich am Morgen in der Garderobe, um meine Arbeitskleidung anzuziehen, kommt es mir vor, als würde ich mich gleichzeitig der Zeiterfassung unterwerfen. Ich kann der Einteilung der zu erbringenden Leistungen in Minutenpakete nicht entrinnen. Meine Touren sind vorgegeben und auf meinem Tablet gespeichert. Rasch verschaffe ich mir einen Überblick über Neueintritte und Veränderungen bei den bestehenden Klientinnen und Klienten. Dann mache ich mich auf den Weg. Ich bin mit einem Kleinwagen unterwegs, den die Firma zur Verfügung stellt. Die Stadt, in der ich arbeite, kenne ich mittlerweile wie meine Westentasche, und es kommt nur selten vor, dass ich eine Strasse ins Navigationsgerät eingeben muss. Rasch steige ich Treppen hoch, betrete Häuser und Wohnungen, versorge Wunden, pflege kranke und alte Körper, höre Menschen zu, die einsam und verzweifelt sind. Ich versuche zu trösten, was mir nicht immer gelingt. Das Trösten scheint mir das Schwierigste, oftmals fühle ich mich hilflos dabei, und ein Gefühl des Versagens bleibt an mir hängen. Genauso wie der Geruch von dreissig Katzen in einem verwahrlosten Haushalt in meiner Nase hängenbleibt oder der Verwesungsgeruch einer unheilbaren Wunde, den ich mit einer Schale Kaffeebohnen zu neutralisieren versuche.
Am nächsten Tag erfuhr ich, dass eine Klientin in der Nacht vom Notarzt versorgt und in ein Spital eingewiesen worden war. Für mich bedeutete das, dass ich ein freies Zeitfenster hatte und mir etwas Zeit für ein Gespräch mit der Frau des sterbenden Mannes nehmen konnte. Da er zu schwach war, um aufzustehen, wusch ich seinen Körper, der nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien, im Bett. Ich massierte vorsichtig seine Beine. Seine Atemzüge, die ihn viel Kraft zu kosten schienen, wurden etwas ruhiger. Einmal öffnete er kurz die Augen, sah mich an, sah durch mich hindurch und murmelte ein paar Worte, die ich nicht verstehen konnte. Seine Frau stand auf der anderen Seite des Bettes und hielt seine Hand. Gemeinsam zogen wir das Bettlaken fest, wechselten den Kissenbezug und legten ihm eine leichte Decke über die Beine. In den Augen von Frau M. sah ich Tränen, und es war, als hätte sie etwas von der Zuversicht, die sie sonst ausstrahlte, verloren.
Ich habe noch einen Moment Zeit, sagte ich, bevor wir den Raum verliessen. Es roch nach dem Lavendelöl, das ich mit der Körpercreme vermischt hatte.
Sie lächelte. Ich habe Fotoalben herausgesucht. Alfred als Kind, Alfred als junger Mann.
Auf dem runden Tisch im Esszimmer lagen zwei dünne Alben aus rotem Leder, daneben eine Schachtel. Sie nahm die Fotos aus der Schachtel und legte sie auf den Tisch.
Ob sie nachts ein wenig schlafen könne, fragte ich, und ob einer der Söhne die Nachtwache am Bett des Vaters übernehmen könnte. Alle hätten viel zu tun, erwiderte sie. Arbeit, Familie, Sport. Dennoch, es sei wichtig, dass sie wieder einmal versuche, eine Nacht durchzuschlafen.
Sie werde es sich überlegen, vielleicht am Wochenende. Vielleicht der älteste Enkelsohn.
Sie nahm ein Foto in die Hand, das Porträt eines Mannes, schwarz-weiss, in einem Fotostudio aufgenommen, die Jahreszahl 1930. Mein Schwiegervater Franz, erklärte sie. Wie ihr älterer Sohn ihm gleiche. Die Augen, das Lachen, die Art, wie er sich bewege. Und hier die Schwiegereltern an ihrem Hochzeitstag.
Da ich die Personen auf den Fotos nicht kannte, interessierten sie mich nicht besonders. Doch ich merkte, wie gut es ihr tat, dass jemand da war und ihr zuhörte.
Sie fragte mich nach meinen Grosseltern, fragte, woher sie kämen, ob sie schon gestorben seien.
Dass mein Grossvater aus demselben Dorf stamme wie ihr Schwiegervater - ein Zufall. Ich fand daran nichts Aussergewöhnliches, ein Dorf ein paar Kilometer weiter. Da war es gut möglich, auf Menschen zu treffen, die ebenfalls dort aufgewachsen waren. Ausserdem hatte ich keine Ahnung, ob sich die beiden gekannt hatten. Ihr Schwiegervater war schon lange tot, auch mein Grossvater.
Ich schaute auf die Uhr, dass ich gehen müsse, sagte ich, und dass wir das mit der Nachtwache am nächsten Tag nochmals besprechen sollten.
Sie schien mich nicht gehört zu haben, schien versunken in den Anblick der Bilder aus vergangener Zeit, der Menschen, die es schon lange nicht mehr gab. Ein Foto nahm sie in die Hand, ein junges Mädchen in einem dunklen, hochgeschlossenen Kleid war darauf zu sehen. Das Mädchen hatte schmale Schultern, es blickte ernst in die Kamera oder in eine Zukunft, von der es nicht wissen konnte, was sie bereithielt. Hatte ich dieses Gesicht schon einmal gesehen? An wen erinnerte es mich? Aber nein, dachte ich, weshalb sollte ich ein Mädchen kennen, das auf einem alten Foto abgebildet war. Ich hatte schon öfter solche Bilder gesehen, und es schien mir, als seien sich die Personen, die darauf abgebildet waren, alle ähnlich.
Ich stand auf, nahm meine Tasche und ging zur Tür.
Berta, hörte ich die Frau sagen, Berta, Nachbarin, meine Berta. Die Schrift meines Schwiegervaters. Meine Berta. Sie lachte. Meine Schwiegermutter war das nicht. Eine jugendliche Schwärmerei vielleicht?
Ich verabschiedete mich. Ich muss gehen, sagte ich, die nächste Klientin wartet auf mich.
In den folgenden Tagen dachte ich nicht mehr an die Fotos oder daran, dass mich das Mädchen Berta an jemanden erinnerte.
Zwei Wochen später an einem Abend rief Frau M. mich an: Mein Mann ist verstorben.
Er war eingeschlafen, nachdem er davor tagelang unruhig gewesen war, er schien geträumt zu haben, Träume, aus denen er nicht mehr herausgefunden hatte. Die Kollegin, die für den Abenddienst eingeteilt war, übernahm den letzten Einsatz. Am nächsten Tag dokumentierte ich den Todeszeitpunkt und schloss seine Klientenakte. Ich brachte die übrig gebliebenen Medikamente zur Entsorgung...
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