Schweitzer Fachinformationen
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Ich beuge mich über die eiskalte Reling der Fähre, während sich die weißen Nebelschwaden vor uns langsam lichten.
Und . da ist sie. Die Insel, die unser neues Zuhause sein wird. Langer.
Die anderen Passagiere der kleinen Fähre sind alle in ihren Autos geblieben. Calder und ich sind als Einzige so dumm, die Anfahrt zur Insel an Deck und in der beißenden Kälte zu verfolgen, womit wir sofort als Neuankömmlinge zu erkennen sind. Was zumindest auf mich auch zutrifft. Calder ist hier geboren, hat die Insel aber vor über zwanzig Jahren verlassen. Ich sehe zu ihm hoch, seine langen schwarzen Haare flattern im Wind, seine Wangen sind gerötet, die Stirn gerunzelt, die Augen leicht zusammengekniffen. Wegen der Kälte? Oder holen ihn Erinnerungen an seine Kindheit ein?
»Alles okay?«, frage ich ihn mit erhobener Stimme, um den Wind zu übertönen.
Er nickt, wendet den Blick aber nicht von der Insel.
Ich sehe aufs Wasser, unter uns wippt eine fette Möwe auf den Wellen. Frieren dem Vogel nicht die Füße ein? Offenbar nicht, er wirkt völlig gelassen und selbstzufrieden.
Laut dem Aushang am Kai soll die Fahrt zu der Schieferinsel an der Westküste von Schottland vierzehn Minuten dauern. Das klang sehr kurz, doch es fühlt sich viel länger an. Wie kann die Sonne scheinen und es gleichzeitig so bitterkalt sein?
Unser Mietwagen steht bei den anderen fünf Autos, die der untersetzte Mann im dicken braunen Pullover eingewiesen hat. Ich habe jedoch darauf gedrängt, dass wir aussteigen und uns an den Bug stellen, weil ich jeden Moment unserer Anreise genießen will, egal wie eisig.
Die fette Möwe verschwindet abrupt unter Wasser und wird sofort von den grauen Tiefen verschluckt. Ich warte, dass sie wieder hochkommt, doch sie taucht nicht mehr auf.
»Wo ist der Vogel?«
»Welcher Vogel?«, fragt Calder abwesend.
»Eine Möwe. Gerade war sie noch da.« Ich deute in die Richtung. »Ich habe sie beobachtet, und dann ist sie plötzlich abgetaucht und verschwunden.«
»Ach, Nancy, es geht ihr bestimmt gut.«
»Aber wie lange kann sie da unten überleben? Das Wasser ist doch eiskalt.«
Er sieht mich an und hebt eine Augenbraue. »Ich bezweifle ernsthaft, dass irgendein Vogel sich umgebracht hat, weil du ihn angestarrt hast. Andererseits ist dein Blick auch wirklich einschüchternd .«
»Jaja.« Ich lache. Doch als er zurück zur Insel sieht, ziehe ich die Ärmel meiner dünnen Jacke über meine Finger mit den abgekauten Nägeln, um mich an der Reling festzuhalten, dann beuge ich mich so weit darüber, wie ich es wage, um die Wasseroberfläche zu beobachten.
»He, pass auf«, ruft Calder und zieht mich zurück.
»Schon gut.« Ich lache wieder. Aber wo ist jetzt der arme Vogel? Mittlerweile muss er doch erfroren sein? Warum treibt er dann nicht leblos an der Oberfläche? Ich atme die kalte salzige Luft ein, während ich auf das sich ständig ändernde Muster der Wellen starre. Könnte die Möwe bis unter die Fähre getaucht sein? Ich laufe hin und her. Sie ist nirgends zu sehen. Nur das weiß schäumende Wasser, das die Fähre hinter sich herzieht, so wie wir unser altes Leben hinter uns lassen, einschließlich aller Menschen darin.
Bitte, komm wieder hoch, du dummer Vogel. Das ist doch sicher ein schlechtes Zeichen für unseren Umzug.
Doch das Vieh ist nirgends zu sehen. Es ist tot, ganz sicher. Das Leben ist so zerbrechlich. Wenn man nicht aufpasst und es festhält, ist es, zack, einfach vorbei.
Plötzlich taucht der Vogel direkt vor mir auf und lässt das Wasser an sich abperlen. Dem Himmel sei Dank. Die Möwe legt den Kopf schräg und wirft mir einen überheblichen Blick aus ihren Knopfaugen zu. Dann treibt sie auf den Wellen davon. Alles ist in Ordnung.
Ich stoße eine weiße Atemwolke aus und richte den Blick wieder auf die Insel vor uns. Der Nebel ist an uns vorbeigezogen und hüllt nun alles hinter uns ein, löscht aus, woher wir gekommen sind. Die Insel präsentiert sich uns in ihrer ganzen Pracht. Vor Calder hatte ich von den Hebriden gehört, von Skye und Mull, aber immer gedacht, es handele sich um gerade mal zwanzig oder dreißig Inseln vor der schottischen Küste. Jetzt weiß ich jedoch, dass es über 900 gibt. 95 davon sind bewohnt. Manche von ein paar Tausend Menschen, andere von weniger als hundert, wie diese windumtoste Schönheit. Sie ist lang und zugespitzt, mit endlosen Buchten und Plateaus in allen Grau-, Grün- und Braunschattierungen, die man sich nur vorstellen kann. Sie sieht aus wie ein geflecktes schlafendes Ungeheuer, halb in der grauen See versunken, halb in der Sonne badend. Rechts von dem kleinen gemauerten Hafen erstreckt sich ein Strand aus Schiefer, den man eigentlich kaum als solchen bezeichnen kann. Kantige graue Splitter glitzern in der Sonne, als ob sich die Wassermassen um uns erhoben hätten, gefroren und dann an der Küste zersprungen wären.
»Wunderschön«, flüstere ich.
Calder holt abrupt Luft, als er aus seiner seltsamen Trance gerissen wird und sich zu mir dreht. »Aufgeregt?«
»Total.« Ich lache. »Keine Hypothek, kein Chef, kein Pendeln zur Arbeit. Nur . das alles hier.« Ich deute auf die schroffe Schönheit vor uns. »Das muss man doch einfach lieben.«
»Wir werden von jetzt an unsere eigenen Chefs sein. Ich hoffe, mit uns kann man locker arbeiten.«
»Oh, ich habe vor, sehr locker zu sein.«
Er lacht. Nachdem er jahrelang in einer Firma für Dachbodenausbau gearbeitet hat, macht er sich jetzt mit seinem eigenen Unternehmen selbstständig. Ich tausche das hektische Leben als BBC-Radioproducerin gegen das einfache Dasein als Script Doctor. Calder hat mich unzählige Male gefragt, ob ich diese Veränderung wirklich will, und ja, ich will sie. Mehr, als ihm bewusst ist.
Die Fähre vibriert, und mich überläuft ein Schauder. Mir war nicht klar gewesen, wie seltsam es sich anfühlen würde, ein aufgewühltes Meer zu unserem neuen Heim zu überqueren. Davon zu träumen, auf eine Insel zu ziehen, ist das eine, es dann auch tatsächlich zu tun, etwas völlig anderes. Ich begreife jetzt erst, dass wir abends, wenn die Fähren nicht mehr fahren, komplett von der Außenwelt abgeschnitten sein werden. Wie aufregend! Als würden wir uns in ein magisches, abgeschirmtes Reich begeben.
Ich atme tief ein, und die kalte Luft lässt mich schwindeln. Vermutlich bin ich auch deshalb so überdreht, weil ich seit 24 Stunden wach bin. Siebeneinhalb Stunden im Nachtzug von London nach Glasgow, dann drei Stunden Zugfahrt von Glasgow nach Oban, wo wir unseren Mietwagen geholt haben, dann eine halbe Stunde auf der Fahrt von Oban an die Küste, alles ohne Schlaf. Jetzt befinden wir uns auf dem letzten Abschnitt unserer Reise, und bei dieser arktischen Kälte könnte wahrscheinlich niemand schlafen. Es war spannend, für alle Reiseabschnitte nur einfache Fahrkarten zu kaufen. Zuerst fand ich die Option gar nicht auf der Buchungsseite, nur Hin- und Rückfahrttickets, als ob das Portal sagen wollte: Einfache Fahrkarten nach Schottland, noch dazu auf eine einsame Insel, sind Sie sich da ganz sicher? Ja, das war ich. Und bin es immer noch. Das hier ist ein völlig neuer Anfang, mit dem einzigen Menschen, der mir noch etwas bedeutet.
»Fünf Pfund!«, ertönt eine laute Stimme. Der untersetzte Mann im dicken braunen Pullover nähert sich uns mit einer schwarzen Schultertasche und einem Kartenlesegerät in der Hand.
»Natürlich«, sagt Calder und zieht einen Geldschein aus seiner vollgestopften Geldbörse.
»Calder, richtig?«, fragt der Mann.
»Ja. Hi, Mr Mullins, ich wusste nicht, dass Sie mich erkennen.«
Der Mann schnaubt. »Aber klar habe ich dich erkannt. Dich kleinen Scheißer würde ich doch nie vergessen.«
Ich versteife mich, doch Calder lacht.
»Außerdem hat man uns vorgewarnt, wir sollten Ausschau nach dir halten. Auf der Insel redet man über nichts anderes als deine Rückkehr und dass du in das Haus deiner Mum einziehst. Nicht viele unserer verlorenen Kinder kommen zurück. Willkommen zu Hause.«
Sie nicken einander wissend zu.
»Oh, und das hier ist meine Freundin Nancy.«
»Schön, Sie kennenzulernen«, murmelt der Mann und stapft davon.
»Verlorene Kinder?«, frage ich, sobald er außer Hörweite ist.
»Das klingt düsterer, als es ist. Man drückt sich hier nur gern dramatisch aus. Viele der Jungen auf der Insel langweilen sich spätestens als Teenager und gehen so bald wie möglich fort. Doch die Leute hier müssen uns Schuldgefühle einreden und lassen deshalb alles gleich viel trauriger und mysteriöser klingen als nötig.«
Eine eiskalte Windböe bringt mich zum Schaudern.
»Alles in Ordnung?«, fragt Calder.
»Ja, ich bin nur aufgeregt - und ich friere.«
Er zieht seinen schwarzen Mantel aus und legt ihn mir um die Schultern. »Wir müssen dir eine dickere Jacke besorgen.«
»Aber jetzt ist dir kalt.«
»Pah, ich bin aus härterem Holz geschnitzt.«
»Pah?«
»Ja, pah!«
Bisher war ich erst einmal hier, im Sommer und nur eine Nacht, um endlich Calders Mutter Isla kennenzulernen, von der ich schon so viel gehört hatte. An dem Tag brannte die Sonne vom blauen Himmel, und als wir uns für den Umzug entschieden, habe ich nicht einkalkuliert, wie extrem das Wetter im Winter werden würde. Doch die Kälte ist auch irgendwie aufregend, sie unterstreicht, wie neu und anders unser Leben hier sein wird. Als Isla vor einigen Monaten unerwartet an einem Herzinfarkt starb, wurde sie gemäß den Anweisungen in ihrem...
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