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Erstaunlich, wie viele Kinder man in einen Minivan bekommt, wenn man sie aneinanderschiebt wie Mosaiksteinchen. Und sich um ihre Sicherheit nicht allzu viele Gedanken macht. Ganz hinten vier, jeweils zwei von ihnen auf einem Sitzplatz und mit einem Sicherheitsgurt über beide, was nicht nur leichtsinnig, sondern auch verboten ist. Na ja, bloß gut, dass sie so klein und dünn sind. Frances Bloom hegte insgeheim die Hoffnung, dass sie bei einem Unfall an Ort und Stelle fixiert bleiben würden, weil sie wegen der drangvollen Enge gar keine Bewegungsfreiheit hatten. Was natürlich Unsinn war, wie ihr jeder Unfallexperte hätte erklären können. Aber glücklicherweise kannte sie keinen. Und da sie im Berufsverkehr ohnehin selten schneller als dreißig Stundenkilometer fuhr, hatte sie vielleicht sogar recht. Sie war eine vorsichtige Autofahrerin, vor allem wenn die Kinder anderer Leute mit im Wagen saßen, und bis jetzt war ihre verrückte Theorie noch nie auf die Probe gestellt worden.
In der mittleren Reihe befanden sich die beiden Jüngsten - auf ordnungsgemäßen Kindersitzen. Und vorn auf dem Beifahrersitz thronte ihre Älteste, Ava, und herrschte mit dem Machtbewusstsein und der Sturheit eines Teen-Diktators über den CD-Player. Sieben Kinder, das genetische Arsenal von vier Familien. Ein schwerer Unfall, und die gesamte nächste Generation eines Häuserblocks wurde auf einen Schlag ausgelöscht. Nicht, dass das zum Lachen gewesen wäre, aber Frances gingen nun mal solche und ähnliche Gedanken durch den Kopf, was konnte man machen. Es war besser, sie kommen und gehen zu lassen, diese Mistdinger, als sie zu unterdrücken und womöglich noch mehr Falten zu kriegen.
Vielleicht machte sie diese Schulfahrten ja einfach schon zu lange, dachte sie. Kein gutes Zeichen, wenn man einen Unfall überhaupt in Betracht zog, und nicht mehr als etwas ansah, das es um jeden Preis zu vermeiden galt. Aber mal im Ernst, wie oft kann man es ertragen, Streite darüber zu schlichten, wer in der Mitte sitzen muss oder welche CD gespielt wird oder ob man nicht doch eine DVD gucken darf - was man nicht durfte, nicht mal, als das verdammte Gerät noch funktionierte. Wenn sie eine volle Ladung hatte, so wie heute Morgen, wurde es manchmal derart laut, dass selbst Brüllaffen vor Ehrfurcht und Bewunderung verstummt wären. Natürlich waren dies aufgeweckte Kinder, die Sprösslinge gebildeter, kreativer Eltern, als Säuglinge bewundert und umhegt, als Kleinkinder ständig ermuntert, sich auf jede erdenkliche Weise auszudrücken. Aber jetzt, wo die kleinen Bastarde allmählich frech wurden, bereuten es die Eltern, nicht konsequenter und strenger gewesen zu sein, so lange es noch Früchte getragen hätte.
Ganz hinten in der letzten Reihe saßen die beiden Kinder ihrer Nachbarn Anne und Charlie Porter: Kate und Theo. Nette Namen, weniger nette Kinder. Die Spezialität der sechsjährigen Kate war der Überraschungsangriff. Sie saß nicht selten während der ganzen Fahrt brav und still auf ihrem Platz. Erst bei der Ankunft vor der Schule kam Leben in sie, und dann schubste sie ihren Bruder mit aller Gewalt aus dem Auto. Der zehnjährige Theo rechnete nie damit. Nicht, dass er dumm war, er rechnete einfach nicht damit. Theo selbst bevorzugte die Frontalattacke, wahlweise mit lautem Geschrei, direkt ins Ohr des Gegners. Der Himmel wusste, wie sich eine solche Dynamik bei einer Therapie äußern würde.
Dazwischengeschoben wie das Fleisch in einem Double-Beef-Burger saßen ihr Sohn Milo, zehn Jahre, und sein Cousin Wyatt, sechs Jahre. Sie waren eigentlich keine Cousins, jedenfalls nicht ersten Grades. Zweiten Grades oder so ähnlich. Iris, Wyatts Mutter, war Frances' Cousine, aber es war einfacher, die beiden als Cousins zu bezeichnen. Wyatt hatte in Wahrheit gleich zwei Mütter - die andere im Bunde war eine bekannte amerikanische Filmschauspielerin und Amerikas Sweetheart. Dass sie lesbisch war, war kein Geheimnis, Amerika war's einfach schnurz.
Auf dem Rücksitz (dem mittleren Rücksitz, hinter dem Fahrer) saßen Lally, ihre Jüngste, und Lucas, der Sohn ihres Nachbarn Bill, beide vier. Das war praktisch, weil Frances den beiden bei roten Ampeln diverse Dinge nach hinten reichen konnte, falls es nötig war. Ein komplizierter Car-Pool, der sich mit der Zeit so ergeben hatte. Zunächst hatten sich die Eltern abgewechselt, aber weil Frances ein Kind in jeder Schule hatte, erwies es sich einfach als praktischer, wenn sie die Fahrerei ganz übernahm. Ihr selbst war das ohnehin lieber; sie war die einzige nicht-berufstätige Mutter (wir wollen uns nicht darüber streiten, wer mehr Stress hat, Berufstätige oder Hausfrauen/-männer; einigen wir uns darauf, dass das Leben für alle Mist ist, und belassen wir's dabei) und musste deshalb auch nirgendwohin. Oft erledigte sie diese Fahrten in der Pyjamahose und zog sich erst hinterher richtig an. Außerdem hasste sie es, nach dem Lärm und der Aufregung des Morgens - dem Hin- und Hergerenne, der Suche nach verlegten Schuhen, Schulbüchern, Taschen, Hüten oder was auch immer (was sich alles leicht am Vorabend hätte zurechtlegen lassen, aber wem sagte sie das) -, nach all dem hasste sie es, allein in einem plötzlich totenstill gewordenen Haus zurückzubleiben, nachdem sich die Brut mit einem flüchtigen Tschüss verabschiedet hatte und im Auto des Nachbarn abgedüst war. Das erinnerte sie an ihre eigene Schulzeit und wie es gewesen war, hinterher in ein leeres Haus zurückzukehren. Oder beim Sport als Letzte ausgewählt zu werden. Oder auf dem Bahnhof zu stehen und dem entschwindenden Zug nachzuwinken. Ich will auch mit, weinte ihr inneres Kind, und die erwachsene Frances schlug vor, die Schulfahrten ganz zu übernehmen, und damit waren dann alle zufrieden.
Als Erstes wurden die Grundschüler abgesetzt, dann Ava an ihrer Highschool und ganz am Ende Lucas und Lally im Kindergarten, wo man sie jeden Morgen eintragen musste. Frances las ihnen eine, manchmal auch zwei Geschichten vor und hielt danach kurz an der Sichtscheibe inne, um sich ein letztes Mal zu verabschieden, wahlweise auch so zu tun, als könne sie ihre Tochter nicht gleich unter den anderen Kindern entdecken («Wo ist denn Lally? Wo steckt sie bloß? Ach, da ist sie ja!»). Herrgott, sie wurden es wirklich nie leid, was? Dann hatte sie frei. Sie konnte einkaufen gehen. Oder nach Hause fahren. Vollgas geben und mit Wucht an die nächste Mauer, was manchmal zu schön gewesen wäre, wenn sie Lucas und Lally nicht schon drei Stunden später wieder hätte abholen müssen. Frances fragte sich bisweilen, ob andere Eltern auch so unter der Antiklimax litten, aber sich trotzdem weiter durchkämpften, sich um die Kinder kümmerten, jeden Strohhalm aufklaubten, damit kein Tier daran erstickte, Korken, Knöpfe oder sonstigen Bastelbedarf sammelten, je nachdem, was gerade im Unterricht benötigt wurde, schon beim ersten Pieps die Batterien im Rauchmelder auswechselten und auch sonst alles Nötige taten, was der Alltag erforderte. Vielleicht war das ja gemeint, wenn man sagte, man würde sich um der Kinder willen zusammennehmen. Mit dem Ehepartner hatte das jedenfalls gar nichts zu tun.
Frances fuhr an der Grundschule vor. Ava stieg mit einem schweren Seufzer aus, als müsse sie gleich in ein Kohlebergwerk hinab und schuften wie ein Kind im viktorianischen Zeitalter. Sie zog die Tür auf und machte eine ausholende Armbewegung.
«Mittelgroße Zwerge, bitte aussteigen. Vorsicht an der Bahnsteigkante, und achtet auf Mütter mit Handys am Steuer.»
Die Kinder hatten sich bereits losgeschnallt und sprangen raus, wobei sie Ava nacheinander abklatschten. Doch anschließend blieb Kate unschlüssig stehen. Frances drehte sich um, um zu sehen, was los war. Das kleine Mädchen machte ein besorgtes Gesicht.
«Was ist denn, Schätzchen?»
Kate schaute Frances mit großen Augen an, ihr Kinn zitterte.
«Ich hab meine Klorollen vergessen.»
«Ach.» Frances sah zu ihrer Ältesten. Ava blickte mit einem Schulterzucken in den Minivan, dessen Tür noch offen stand.
«Im Auto sind sie tatsächlich nicht.»
«Ach, nicht so schlimm.» Frances lächelte Kate an. «Deine Lehrerin hat sicher einen Vorrat dabei.» Sie selbst hatte im Laufe der Zeit an die dreitausend Klorollen gesammelt. Genug, um daraus einen Teilchenbeschleuniger zu bauen. Oder eine exakte Nachbildung der New Yorker U-Bahn-Tunnel.
«Nö, ich brauch doch meine eigenen.» Kates Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Austick-Indikator schaltete auf Alarmstufe Rot. «Es ist doch für ein Schulprojekt. Alle anderen haben auch welche.»
Frances überlegte. Einerseits war Kate erst sechs, sie würde das Trauma der fehlenden Klorollen nicht nur überleben, sondern schnell wieder vergessen haben. Andererseits war sie in der Ersten bei Miss Lollio, und deren Schulklasse war wie eine Mafia-ähnliche Organisation, die sich stets wie Wölfe auf das schwächste Mitglied einer Schafherde stürzte. Seine Klorollen zu vergessen und sich welche borgen zu müssen, hieß unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Natürlich nicht so schlimm, wie in die Hose zu pinkeln, und auch nicht so schlimm, dass man einen Spitznamen bekam, den man bis zum College nicht mehr loswurde, aber immerhin.
«Meine Mommy hat sie in eine Tüte getan, aber sie hat vergessen, sie mir in die Hand zu geben», sagte das Kind mit einem stählernen Unterton im glockenhellen Stimmchen. Frances musterte das kleine Engelchen, das von ihrer Mutter gelegentlich «Butterblümchen» genannt wurde. Kates Augen waren kalt wie die eines Hais. Sie wusste,...
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