Schweitzer Fachinformationen
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Auch wenn sie sich hütete, es zu zeigen, war Madeline Singer keineswegs verzweifelt, als ihr Jüngster zum Studium aus dem Haus ging.
In dem Vorort von Atlanta, wo sie wohnte, brachen andere Mütter reihenweise zusammen. Tränen flossen. Antidepressiva wurden geschluckt. Ihre Freundinnen erkannten sich ohne Kinder nicht wieder. Eine kollektive Amnesie hatte die Erinnerung an die Pubertätskrisen der aufmüpfigen Teenager komplett ausgelöscht - so wie der Geburtsschmerz, der vergessen war, sobald man den Säugling in Armen hielt.
Madeline hatte erwartet, dass die Leere im Haus sie erdrücken würde. Sie liebte ihre Kinder und hatte gern auf die Berufstätigkeit verzichtet, um den ganzen Tag für sie da zu sein. Aber während sie sich auf den vernichtenden Schlag gefasst machte, kümmerte sie sich einfach um all die Dinge, für die sie nie Zeit gefunden hatte, als Kyra und Andrew noch zu Hause waren. In jenem Herbst, als ihre Freundinnen zur Therapie gingen, schon mittags tranken und heimlich an der Highschool vorbeifuhren, wo sie so viele Stunden ehrenamtlich gearbeitet hatten, antwortete Madeline mit Freuden auf die Anrufe und SMS ihrer Kinder, klebte allerdings nebenbei die Bilder der gefühlt letzten 20 Jahre in Fotoalben. Dann räumte sie, angefangen mit dem Keller, jedes Stockwerk des Hauses auf und sortierte in einer Art Befreiungsaktion den ganzen Krempel aus, der seit Ewigkeiten überhandnahm.
Danach stürzte sie sich in die vorweihnachtliche Hektik mit Einkaufen, Backen und Geschenkebesorgen und gab sich Mühe, das Weihnachtsfest nicht durch die Wirtschaftskrise überschatten zu lassen. An den Feiertagen kamen die Kinder nach Hause. Andrew von der Vanderbilt University in Nashville. Kyra, die gerade die Filmschule in Berkley absolviert hatte, vom Dreh des ersten Spielfilms, an dem sie seit zwei Monaten arbeitete. Sie strahlte vor Energie und verwandelte sich erneut in den Mittelpunkt des familiären Universums.
Madeline schob die Gedanken an die Projekte, die sie in der Zeit nach den Ferien angehen wollte, beiseite, kochte für die Kinder und deren Freunde, nahm sich Zeit, wenn diese Freunde keine hatten, und störte sich nicht einmal daran, im Leben von Andrew und Kyra nur noch ein Anhängsel zu sein.
Steve, der Weihnachten im Familienkreis mit der Hartnäckigkeit eines Einzelkinds liebte, wirkte besorgt und seltsam abgelenkt, aber wenn sie ihn darauf ansprach, schaffte er es immer, das Thema zu wechseln.
Während sie am ersten Weihnachtstag den Truthahn begoss, wurde Madeline klar: Sie konnte kaum erwarten, dass ihr Mann wieder ins Büro und die Kinder in ihr jeweiliges neues Leben zurückkehrten, damit sie endlich ihr eigenes beginnen konnte.
An diesem ersten Märztag war es im Haus endlich wieder herrlich still. Man hörte keinen Fernseher. Keine Musik. Kein Videospiel-Geballer. Kein Pling, wenn SMS ankamen oder versandt wurden. Keine Kühlschranktür, die auf- oder zuging. Und niemand - wirklich niemand - fragte, was es zum Abendessen gäbe, wann die Wäsche fertig sei, oder ob sie mal eben 20 Minuten Zeit hätte.
Madeline stand in Kyras leerem Zimmer und atmete die Stille ein, hielt sie in ihren Lungen und ließ sich ganz von ihr durchdringen. Das Haus war nicht nur leer, es war vollkommen ordentlich und aufgeräumt. Es war Zeit, ihr «neues» Leben zu beginnen.
Und nicht zum ersten Mal musste Madeline sich eingestehen, dass mit ihr offensichtlich etwas nicht stimmte. Denn die Stille, die ihre Freundinnen so beunruhigte, weckte in ihr ein vorfreudiges Prickeln. Sie wollte vor Freude tanzen. Drachenfliegen. Ein Heilmittel für Krebs finden. Stricken lernen. Einen großen amerikanischen Roman schreiben. Oder eine wirklich lange Zeit einfach gar nichts tun.
Endlich konnte Madeline selbst entscheiden, wie ihr Leben aussah.
Als sie die Fenster aufriss und die ersten Frühlingsdüfte den Raum füllten, baute sie das Zimmer ihrer Tochter in Gedanken in den Arbeitsraum um, von dem sie immer geträumt hatte. Sie würde ein Regal für Bücher und ihren Krimskrams anbringen. Einen Tisch hineinstellen, der als Schreibtisch und Werkbank diente. Vielleicht auch einen Clubsessel mit Hocker, um in der Ecke am Fenster zu lesen. Madeline maß die Fenster für Vorhänge aus, die sie selbst nähen wollte. Sie könnte am Nachmittag in den Stoffladen fahren und sich nach etwas Interessantem umsehen. Vielleicht fuhr sie bei der Gelegenheit gleich bei einem ihrer geliebten Antiquitätenläden vorbei, um nach einem passenden Tisch oder Sessel zu suchen.
Mittags machte sie sich ein schnelles Sandwich und setzte sich an den Küchentisch, um Steves Wall Street Journal und die lokale Wochenzeitung zu lesen. Sie war gerade bei einem Artikel über einen weiteren Vermögensberater, der mit dem Geld seiner ahnungslosen Kunden verschwunden war, als das Telefon klingelte und sie aus der angenehmen Stille riss.
«Mrs. Singer?» Eine weibliche Stimme, kurzangebunden, aber nicht unfreundlich. «Hier ist das St. Joseph's Klinikum.»
Madeline schloss ihre Finger fester um das Telefon. Sie machte sich auf einen Schlag gefasst.
«Vor etwa einer halben Stunde wurde eine Mrs. Clyde Singer eingeliefert. Sie hat eine Rauchgasvergiftung und eine Platzwunde an der Stirn. Bei ihrem letzten Aufenthalt bei uns hatte sie diese Nummer als Notfallkontakt angegeben.»
«Rauchgasvergiftung?» Madeline stand neben dem Stuhl und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. «Wie geht es ihr?»
«Sie schläft jetzt, aber die Arme hat einiges durchgemacht. In ihrer Küche hat es gebrannt.»
«Oh, mein Gott.» Madeline drehte sich um und rannte mit dem Telefon in der Hand die Treppen hinauf. Letzten Monat war ihre Schwiegermutter im Bad gestürzt und hatte sich nur mit Glück nichts gebrochen. Edna Singer war 87, und es wurde für sie immer schwieriger und gefährlicher, allein zu leben. Bisher hatte sie allerdings nicht einmal darüber nachdenken wollen, ihr Haus aufzugeben, und Steve mochte seine Mutter nicht drängen.
Madeline schrieb sich die Zimmernummer auf und ließ sich noch einmal bestätigen, dass es der Patientin, auch wenn sie schlimm aussah, bald bessergehen würde. «Ich bin in etwa 25 Minuten da.»
Sie tauschte die Shorts gegen eine lange Hose und zog ein Paar Slipper an. Während sie die Eingangstreppe hinunterlief, wählte Madeline die Nummer von Steves Handy. Sofort ging die Mailbox an. Sie hinterließ eine Nachricht mit den wichtigsten Informationen und blieb nur kurz stehen, um Steves Büronummer aus ihrem Notizbüchlein zu suchen. Dort rief sie so selten an, dass die Nummer nicht in ihrem Handy gespeichert war.
Adrienne Byrne, die als Sekretärin seit 15 Jahren vor Steves Eckbüro in der Investment-Firma saß, hob ab.
«Adrienne?», sagte Madeline, während das Garagentor rumpelnd hochfuhr. «Ich bin es, Madeline. Können Sie mich zu Steve durchstellen?»
Am anderen Ende herrschte Schweigen, während Madeline die Autotür aufriss.
«Hallo?», fragte Madeline. «Tut mir leid, wenn ich so kurz angebunden bin, aber es ist ein Notfall. Edna ist wieder im St. Joseph's, und Steve soll dort hinkommen.»
Madeline setzte sich hinters Steuer, klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter und legte den Rückwärtsgang ein.
«Äh . haben Sie es auf seinem Handy versucht?» Adrienne klang zaghaft, was überhaupt nicht zu ihr passte.
«Habe ich.» Madeline fuhr rückwärts aus der Einfahrt. In ihrem Kopf schwirrten alle möglichen Informationen durcheinander. Wie schlimm sah Ednas Küche aus? Sollte sie Steve allein ins Krankenhaus schicken und sich schon mal das Haus ansehen? «Die Mailbox ist gleich rangegangen. Ist er nicht im Büro? Wissen Sie vielleicht, wie ich ihn erreichen kann?»
Nach einer weiteren Pause sagte Adrienne: «Steve . arbeitet hier nicht mehr.»
Unwillkürlich machte Madeline eine Vollbremsung, und das Auto kam abrupt zum Stehen. «Bitte? Was sagten Sie, wo er ist?»
«Ich habe keine Ahnung, wo er ist, Madeline», sagte die Sekretärin langsam. «Steve arbeitet hier nicht mehr.»
Madeline versuchte zu verarbeiten, was sie gerade gehört hatte.
«Ich habe Steve nicht mehr gesehen, seit er entlassen wurde. Das war Anfang September. Vor etwa sechs Monaten.»
Madeline hatte keine Ahnung, wie sie zum Krankenhaus gekommen war, als sie dort auf den Parkplatz fuhr. Nichts war in ihrem Bewusstsein hängengeblieben, weder die Straßenschilder noch die unzähligen Autos, die auf dem Highway 400 oder der Abzweigung zum Krankenhaus an ihr vorbeigeströmt waren. Auf dem gesamten Weg hatte sie zu begreifen gesucht, was Adrienne ihr gesagt und Steve ihr verschwiegen hatte. Man hatte ihm vor sechs Monaten gekündigt? Er war arbeitslos?
Wie in Trance meldete sie sich an der Rezeption und ging den Flur entlang zu Ednas Zimmer. Überall waren Menschen, es war laut. Eine Krankenliege wurde vorübergerollt, eine Reinigungskraft wischte am anderen Ende des Flurs den Boden. Madeline nahm die Bewegungen, die Hektik um sich herum wahr, aber Bilder und Töne drangen nicht wirklich zu ihr durch. Nichts kam gegen die Fragen in ihrem Kopf an. Wenn Steve keinen Job hatte, wohin ging er dann jeden Morgen, nachdem er seinen Anzug angezogen und mit der Aktentasche in der Hand das Haus verlassen hatte? Und, noch wichtiger, warum hatte er es ihr nicht erzählt?
In der Tür zum Zimmer ihrer Schwiegermutter blieb Madeline kurz stehen und sortierte sich. Edna sah aus, als wäre sie in eine Schlägerei geraten. Ein Verband verdeckte mehr als die Hälfte ihrer Stirn. Die Lippen...
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