Tobey
Es war gerade mal April, und die Stadt platzte in der ersten halbwegs schönen Samstagnacht aus allen Nähten.
Ich saß hinter Samuel im Wagen und betrachtete durch die getönten Scheiben das bunte Treiben auf den Straßen.
Es war nicht besonders warm. Aber die britischen Frauen taten bereits bei siebzehn Grad so, als gingen sie auf einer jamaikanischen Promenade spazieren.
Miniröcke. Bloße Füße in offenen Schuhen. Die Männer an ihrer Seite legten die Arme um nackte Schultern.
Drei junge Frauen in engen Leggings marschierten Arm in Arm mit wehenden, langen Haaren den Gehweg entlang.
Ich wollte Andy auf sie aufmerksam machen, aber mein Bodyguard nutzte die Fahrt zum Club für ein Nickerchen.
Nicht weiter tragisch. Andy verpasste ja sonst nie eine Gelegenheit, langen Beinen hinterherzustaunen.
Mein Sicherheitschef Dan saß vorn neben Samuel und schaute gelassen aus dem Fenster. Selbst auf dem Beifahrersitz einer gepanzerten Limousine wirkte der drahtige Dan mit den grauen Schläfen, als würde er gerade im Lotussitz meditieren.
Samuel überholte einen Sightseeing-Bus, auf dessen Seite gigantisch groß mein Gesicht prangte. »'n Abend Mr. Lambert«, schmunzelte er und warf mir im Rückspiegel einen kurzen Blick zu. Ich lächelte zurück, wir ließen mein Konterfei links liegen. Es konnte mir auch heute noch passieren, dass ich so einen gigantischen Doppelgänger tendenziell spooky fand.
Der Verkehr stockte wieder einmal.
Samuel summt die Melodie eines Kinderliedes. Er hatte vor einem halben Jahr eine kleine Tochter bekommen und war ganz vernarrt in sie. Die Töne waren mir vertraut. Ma hatte Lin und mir früher genau dieses Lied vorgesungen, wenn wir nicht schlafen konnten. War das nicht verrückt? Nach so vielen Jahren, nach fast drei Jahrzehnten, sangen auch heute noch Eltern ihren Kindern dieselbe Melodie, um sie zu beruhigen und sie spüren zu lassen, wie sehr sie geliebt wurden.
Leise summte ich mit, erfand eine zweite Stimme. Und plötzlich war da die Idee, genau dieses Lied vor den neuen Song mit den Streichern zu stellen. Vielleicht von Kindern gesungen. Nein, besser nur von einem Kind. Eine einzige klare, glockenhelle Stimme.
Ich zückte das Notizbuch, das ich immer bei mir trug. Schließlich konnte ich nie sicher sein, wann mir eine gute Idee zu einem neuen Song kam. Manchmal überfielen sie mich geradezu. Aber wenn ich sie nicht aufschrieb, stoben sie wieder auf und davon, unmöglich einzufangen. Über die Noten notierte ich auch ein paar Textzeilen. Super Idee. Bei der nächsten Probe würde ich es meiner Band vorstellen.
Schließlich bogen wir in die Straße ein, auf der das Zenobia lag. Als wäre er auf die Adresse seines alten Arbeitsplatzes programmiert, erwachte Andy mit einem Schnarcher und setzte sich auf. »Ging ja schnell«, brummte er.
»Soll ich auf euch warten?«, wollte Samuel wissen, als er auf den Parkplatz der Club-Mitarbeiter einbog.
»Ja. Wir werden nicht so lange bleiben. Ich will mir nur diesen neuen Saxofonisten ansehen, von dem Lin mir erzählt hat. Er hat gleich seine dritte Session im Laden, und das Publikum liebt ihn angeblich.« Meine Schwester Lin war Musikjournalistin und fütterte mich regelmäßig mit Infos über interessante aufgehende Sterne am Musikerhimmel.
»Okay, ich bin auf Sendung, wenn ihr mich braucht.« Samuel nickte, wendete den Wagen und setzte ihn geschickt in eine Parklücke.
Andy, Dan und ich nahmen den Seiteneingang. Wie immer begrüßte Andy den dort postierten Türsteher kumpelhaft und wirkte, während er an meiner Seite bis zu dem reservierten Tisch auf der Empore ging, noch ein paar Zentimeter größer als üblich. Diesen Wachstumsschub zeigte er auch dann, wenn ich - so wie heute Abend - hinter einem Schal und einer Baseballkappe so gut verborgen war, dass niemand mich erkannte. Für Andy reicht vollkommen aus, dass alle Angestellten im Zenobia, vom Türsteher bis zur Tischbedienung, Bescheid wussten.
In diesem Club hatte ich meinen Bodyguard vor drei Jahren kennengelernt. Als eine Gruppe von betrunkenen, turnschuhtragenden Touristen sich gewaltsam Einlass verschaffen wollte und Andy souverän und ohne lange zu fackeln deren Anführer gegriffen und mühelos am Boden festgetackert hatte. Noch am selben Abend hatte ich ihm einen weitaus besser bezahlten Job bei mir angeboten.
Oben auf der Empore gab es ein kurzes Hallo, denn Justin und Betty hatte es an diesem Abend ebenfalls hierhergezogen. Seit dem Start meiner Solokarriere vor mehr als drei Jahren war Justin mein genialer Bassist. Betty war seine langjährige Freundin: Krankenschwester, bildhübsch. Das Bühnenprogramm hatte bereits begonnen, doch der Saxofonist war noch nicht aufgetreten.
»Mann, bin ich fertig!«, stöhnte Andy und ließ sich auf den Stuhl fallen, der der Treppe am nächsten stand.
»Wovon? Vergebliches Anmachen der Foto-Praktikantin beim heutigen Shooting?«, kicherte Justin.
»Hey, woher weißt du davon? Du warst doch gar nicht dabei!«, sagte ich grinsend.
Andys Miene hatte sich verfinstert, aber bevor er zu einer seiner wenig schlagfertigen Antworten ausholen konnte, hatte Betty bereits den Arm um ihn geschlungen und ihn auf die Wange geküsst.
»Dämliches Weibsstück!«, sagte sie, laut genug, dass alle am Tisch es verstehen konnten. »Die weiß eben nicht, was ihr entgeht, oder, Andy?«
Andy errötete sichtbar und lächelte breit, während Justin so tat, als wäre er nach dieser Erklärung durchaus ein wenig eifersüchtig. Neckereien unter Freunden. Zeit, um auszuspannen.
Das Zenobia war einer der wenigen Clubs, die ich in meiner Freizeit besuchte. Die Location war angenehm geräumig, der Besitzer diskret und klug genug, auch nicht hinter vorgehaltener Hand damit anzugeben, dass ein Star wie Tobey Lambert hier regelmäßig verkehrte. Abgesehen von dem einen oder anderen Gast - na ja, Gästin in der Regel -, die mich trotz aller Maskerade erkannte und atemlos um ein Autogramm bat, war hier noch nie etwas vorgefallen. Und außer all diesen Vorzügen gab es hier an drei Abenden in der Woche Sessions mit unbekannten Musikern, unter denen ich schon mehr als ein Talent entdeckt hatte.
So auch heute. Der Saxofonist war wirklich gut, Lin hatte nicht zu viel versprochen. Auch das restliche Publikum schien Musikverstand zu haben. An vielen Tischen waren die Gespräche und das Gelächter verstummt. Die Klänge des Tenorsaxofons schwebten geradezu durch den Raum und brandeten in kleinen Wellen an die Empore, über dessen Geländer ich mich beugte, um besser sehen zu können.
Und dann waren da plötzlich diese zwei Augen.
Sie gehörten einer jungen Frau, die am Rand der Tanzfläche stand und zu mir heraufblickte. Die Intensität, mit der sie mich ansah, ließ mich reflexartig zurückzucken.
Doch schon wenige Sekunden später musste ich wieder hinsehen. Die langen dunklen Locken, die ihr über die Schultern bis hinunter zum Bauch flossen. Die Herzform ihres Gesichts. Die schmale Figur. Das alles erinnerte mich so sehr.
Aber sie war es nicht. Die junge Frau da vor der Bühne war einfach nur eine Fremde, die einem Schatten aus meiner Vergangenheit zum Verwechseln ähnlich sah. Und die mich offensichtlich erkannt hatte. Ich konnte von hier aus sehen, dass ihre Brust sich rasch hob und senkte.
Dan, der neben mir saß, neigte sich ein Stück in meine Richtung und sagte dicht an meinem Ohr: »Ich habe mich schon gefragt, wann es dir auffällt. Sie starrt dich seit einer halben Stunde an, ohne zu blinzeln.« Er verzog den Mund zu einem winzigen Lächeln. Dan machte sich nie über Menschen lustig. Er verspottete sie nicht oder stellte ihre Schwächen bloß - obwohl er gerade die bei so gut wie jedem zu erkennen schien. Er verfügte über außergewöhnliche Menschenkenntnis. Nur so hatte er den Blickwechsel zwischen der jungen Frau da unten und mir mitbekommen können.
Wie gut, dass er mich angesprochen hatte. Andernfalls hätte wahrscheinlich auch ich eine halbe Stunde lang gestarrt, und das wäre dort unten bestimmt komplett falsch interpretiert worden. Schließlich konnte ich einer Wildfremden nicht einfach erklären: »Sorry, dass ich dich so anglotze, aber du erinnerst mich an jemand von früher.«
Abgesehen davon, dass das wie eine reichlich abgedroschene Anmache klang, hätte ich diese simple Wahrheit niemandem anvertrauen können. Oder wollen. Diese Wahrheit, dass es immer noch hin und wieder Momente gab, in denen ich sie irgendwo zu erkennen glaubte.
Ich riss mich zusammen und wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Bühne zu. Nach dem Saxofonisten trat ein Geschwisterpaar auf, das sich mit Gitarren auf zwei Barhockern niederließ und bekannte Folksong-Melodien mit selbst gedichteten, witzigen Texten vortrug.
Es wurde viel gelacht, das Publikum mochte so was. Aber ich war mit den Gedanken noch bei dem vielversprechenden Musiker mit dem Saxofon. Andys ehemaliger Chef würde mir die Nummer des Musikers geben, und Steven, mein Manager, sollte in den nächsten Tagen ein Treffen arrangieren. Vielleicht war irgendwo im Terminkalender noch ein Platz frei. In dem neuen Stück, das wir morgen proben würden, wäre ein Tenorsaxofon im Intro und in dem langen Mittelteil genial.
Mit einem Mal wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Dan neben mir richtete sich noch ein wenig gerader auf. Ich versuchte, seinem Blick zu folgen, doch ich konnte nichts weiter erkennen als ein begeistert lauschendes, aufgeheiztes Publikum.
»Was ist los?«
Dan antwortete leise, ohne den Kopf zu wenden: »Wir hätten vom Studio aus nicht direkt hierherfahren sollen.«
Da war es wieder. Dans rätselhaftes...