Schweitzer Fachinformationen
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Die Frau packte meine Hand und zog mich tiefer in den Wald. Ihre Stimme klang panisch. »Sie war unterwegs zur Schlucht, die Leute von hier nennen sie Dead Girl's Drop, die Schlucht der toten Mädchen.«
Das war beunruhigend, denn eigentlich neigen die Bewohner von Derbyshire nicht zu Übertreibung. Ich brüllte gegen den Wind an, gegen das Krachen der gefrorenen Zweige unter meinen Schuhen. »Was genau haben Sie gesehen?«
»Ich weiß genau, was Sie denken, aber ich hab mir das nicht eingebildet.« Der Wind fegte ihr Strähnen ihres dunklen Haares ins Gesicht. Sie musste um die vierzig sein, aber sie wirkte ausgelaugt, wie ein Kleidungsstück, das zu lange bei Wind und Wetter draußen gehangen hat. Sie zog einen gefleckten Windhund hinter sich her, der einen ähnlich verwaschenen Eindruck machte. »Ich hatte eigentlich mit einem richtigen Polizisten gerechnet.«
»Ich bin von der Polizei. DI Meg Dalton, erinnern Sie sich an mich? Wir tragen keine Uniform.« Es war egal, was ich anhatte, man traute mir meine Rolle ohnehin nicht zu. Elaine Grant nahm mich jedenfalls nicht für voll. Ich warf verstohlen einen Blick auf meine Uhr. Ein Anruf von meiner Mutter, ich musste sie so schnell wie möglich zurückrufen.
Elaine stolperte über einen Baumstumpf und drehte sich mit vorwurfsvollem Blick zu mir um. Im fahlen Morgenlicht verschwamm ihr Umriss. »Bleich wie ein Geist, auch mein Hund hat sie gesehen.«
Ich warf einen Blick auf den Hund. Er hechelte und sabberte leicht. Als Zeuge taugte er nicht viel, aber ich konnte mir nicht erlauben, dem Hinweis nicht nachzugehen. Ich zitterte vor Kälte und zog mir meinen Schal enger um den Hals.
»Sie meinen, in einem weißen Gewand? Aber da war auch Blut?«
»In einem Nachthemd, glaube ich. Es war ein Mädchen, es rannte zwischen den Bäumen hindurch, als sei ihm der Teufel auf den Fersen. Und ja, es war voller roter Flecken.«
Über uns rüttelte der Wind an den Ästen. Aus dem Augenwinkel nahm ich plötzlich eine Bewegung wahr - in einiger Entfernung leuchtete etwas hell. Mir stockte vor Schreck der Atem. »Steht hier im Wald nicht ein Haus?«, fragte ich. »Nur über eine kleine Straße zugänglich?«
Elaine machte noch ein paar Schritte, bevor sie antwortete. »Ja, Bellhurst House.«
Diese Adresse kannte ich. Die Bewohnerin des Hauses hatte mehrmals die Polizei verständigt, weil sie sich beobachtet fühlte, konnte aber keine genauen Hinweise geben. Nach ihrem ersten Anruf hatte man sich über sie lustig gemacht. Sie habe eine blühende Phantasie, hieß es. Oder sei scharf auf Männer in Uniform. Jedenfalls hatten wir sie nicht ernst genommen.
Elaine berührte mich leicht am Arm. »Haben Sie das Mädchen eben gesehen?«
Wir blieben stehen, alle Sinne gespannt. Der Hund gab einen kurzen beleidigten Laut von sich, eigentlich nur ein kurzes Knurren. Ein Zweig krachte, zwischen den Bäumen rannte etwas Weißes.
»Da ist das Mädchen!«, rief Elaine. »Los, schnell! Die Schlucht liegt da drüben. Es sind da schon Kinder reingefallen .«
Mir fiel wieder die entspannte Reaktion unserer Leitstelle auf den Anruf dieser Frau ein, unsere matten Antworten auf die Hinweise der Bewohnerin des Häuschens im Wald. Mir wurde mulmig. Ich stellte mir vor, wie ein kleines Mädchen über den Rand der Schlucht in den wilden Bachlauf darunter stürzte, in einem blutbefleckten Gewand, auf der Flucht - vor etwas, das uns bekannt sein sollte, das wir aber als nichtig abgetan hatten. Vielleicht war heute der Tag, an dem es ernst wurde.
Ich rannte humpelnd los, verfluchte meinen verkrüppelten Knöchel und dass ich den Einsatz nicht jemand anderem überlassen hatte. Diese Woche konnte ich eigentlich keinen neuen Fall mehr übernehmen.
Der Hund hechelte an meiner Seite, ihm schien die Verfolgungsjagd Spaß zu machen. Ich warf einen Blick über meine Schulter nach hinten. Falls das Mädchen vor jemandem flüchtete, wo blieb der Verfolger?
Ein Zaun, ein Schild: Privatbesitz. Gefährliche Steilhänge.
Elaine war mir schnaufend auf den Fersen geblieben.
Ich war bereits zur Hälfte über den Zaun geklettert, Stacheldraht pikste in meinem Schritt. »Haben Sie sonst noch jemanden gesehen?«
»Weiß nicht genau . ich glaube nicht.« Sie stand vornübergebeugt, die Hände auf die Schenkel gestützt, und keuchte, gut in Form war sie nicht gerade. »Über den Zaun schaffe ich es nicht«, sagte sie. »Ich habe ein verletztes Knie.«
»Dann warten Sie hier.« Ich eilte in die Richtung, wo ich den hellen Schimmer gesehen hatte. Der Hund setzte zirkusreif über den Zaun, riss die Leine mit und rannte mit mir davon.
In der Nähe der Felswand wurde der Wald lichter und das Tageslicht heller. Ich hörte Wasserrauschen aus der Tiefe, blickte mich nach allen Seiten um. Dort, links, schimmerte etwas durch die kahlen Zweige. »Hallo«, rief ich, »alles klar?« Ich eilte auf eine reglose, unheimliche weiße Gestalt zu.
Ich traute meinen Augen nicht. Eine Statue aus hellem Stein, die mit dem Untergrund verwachsen schien, als stünde sie seit Jahrhunderten dort. Ein weinendes Kind, dessen Tränen auf den grauen steinernen Wangen wie gefroren wirkten. Ich fluchte leise, mein Herzschlag beruhigte sich.
War da noch etwas? Es war schwierig, in diesem Zwielicht etwas zu erkennen.
Helle Baumwolle, ein Arm, eine weiße Gestalt, die wegrannte. Ich lief ihr nach. Vor mir eine weitere Statue. Diesmal ein Kind, den Mund zum Schrei aufgerissen, vor Schreck geweitete Augen. Es lief mir kalt über den Rücken.
Ich folgte dem Rauschen des Baches, einen von Gestein und Wasser zermalmten Mädchenkörper vor meinem geistigen Auge. Ein totes Kind auf dem Gewissen zu haben fehlte mir gerade noch. Nicht noch einmal. In der letzten Zeit hatte ich Fortschritte gemacht - hatte meine Zimmerdecken nicht mehr nach einer erhängten Schwester abgesucht oder Schlaftabletten gehortet. So sollte es auch bleiben.
»Hallo«, rief ich, »ist da jemand?«
Hinter einem Baum am Rand des Steilhangs lugte ein Gesicht hervor.
Das Mädchen war acht oder neun Jahre alt und trug nichts als ein Nachthemd auf dem Leib. Ein vor Angst und Kälte bleiches Gesicht, blondes Haar. Die fahle Bekleidung, die Farblosigkeit von Haut und Haar machten die roten Flecken umso auffälliger.
Ich ging auf das Kind zu, und es wich, mir weiter zugewandt, zurück, genau auf den dahinterliegenden Steilhang zu. Das Mädchen musste fast erfrieren vor Kälte. Ich versuchte, entspannt zu wirken, um ihr einen Eindruck von Sicherheit zu vermitteln.
Der Hund an meiner Seite hechelte laut nach seinem Waldlauf. Er machte ein paar Schritte in Richtung des Mädchens. Ich wollte ihn schon zurückrufen, aber sein Anblick schien das Kind zu beruhigen.
Der ganze Hund wackelte mit dem Schwanz. Das Mädchen streckte eine Hand aus und streichelte ihn. Ich erstarrte.
Es sah mich misstrauisch an. »Ich mag Hunde.« Ihre Stimme klang heiser als hätte sie gerade geschrien. »Darf aber keinen haben, die machen mich krank .«
»Bist du vor jemandem weggelaufen?« Ich musste sie unbedingt von dieser Kante weglocken, hatte aber das Gefühl, es wäre besser, Abstand zu ihr zu wahren.
Sie starrte mich aus Riesenaugen an und stand immer noch viel zu nah am Rand des Abgrunds.
Das Herz klopfte mir bis zum Hals. »Wollen wir ihn nach Hause mitnehmen, damit er was fressen kann?« Der Hund wedelte mit dem Schwanz. »Was meinst du?«
Sie machte einen Schritt nach vorn und streichelte den Hund sanft am Kopf. Unten im Bach fiel ein Stein ins Wasser. »Er muss was trinken«, flüsterte sie.
Elaine hatte recht gehabt, auf dem Nachthemd waren Blutflecken. Viele.
»Gut«, sagte ich. »Geben wir ihm was zu trinken und zu fressen, magst du?«
Das Mädchen nickte und entfernte sich vom Abgrund. Ich nahm die Leine auf und reichte sie ihr, in der Hoffnung, der Hund würde sofort Richtung Heimat zuckeln. Ich wollte, dass das Kind irgendwo im Warmen saß, bevor es völlig unterkühlt war oder Frostbeulen bekam, aber mein Bauch sagte mir, dass ich nichts überstürzen durfte.
Ich ging langsam weg, der Hund folgte mir und damit auch das Mädchen. Es hatte nichts an den Füßen, ein Zeh blutete.
»Wie heißt du?«
Ich rechnete nicht mit einer Antwort; das Kind trottete mit gesenktem Blick dahin.
»Abbie«, hörte ich nach einer Weile.
»Ich heiße Meg. Bist du vor jemandem weggelaufen?« Ich ließ meinen Blick zwischen den Bäumen schweifen.
»Mein Vater .«, flüsterte sie.
»Bist du vor ihm weggelaufen?«
Keine Antwort.
Ich versuchte, mich zu erinnern, was die Frau in dem Waldhaus bei ihren Anrufen genau gesagt hatte. Jemand sei hinter ihr her. Ziemlich vage. Außer ihr war niemandem etwas aufgefallen.
»Tut dir was weh? Darf ich nachsehen?«
Sie nickte. Ich ging in die Hocke und untersuchte sie auf Verletzungen. Von dem blutigen Zeh abgesehen, schien sie unversehrt, hatte aber Einstiche an den Armen. Die kannte ich von Drogensüchtigen, an einem so jungen Mädchen waren sie ungewöhnlich.
»Ich brauche meine Spritze«, sagte Abbie.
Was war bloß los mit ihr? Ich wurde wieder unsicher, griff nach meinem Funkgerät und rief einen Krankenwagen und Verstärkung.
»Da unten ist ein Bach«, sagte Abbie. »Er braucht was zu trinken.« Der Hund hechelte immer noch stark.
»Nein, Abbie, lass uns .«
Zu meiner Überraschung machte sie mit einem Mal eine Kehrtwende nach rechts.
»Das hat mir noch gefehlt«, murmelte ich.
Abbie rannte über den eiskalten...
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