Schweitzer Fachinformationen
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Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete ich als leitender Psychologe an einem großen Militärkrankenhaus, und ein junger Leutnant, der an Angst vor der Dunkelheit litt, wurde an mich überwiesen. Der Fall wurde mit Hypnose behandelt. Er wurde detailliert veröffentlicht (J. Watkins 1949) und ist vor einigen Jahren in gekürzter Form (J. Watkins 1992b) neu publiziert worden. Die erfolgreiche Lösung dieses Falles hing mit der Entdeckung zusammen, dass ich es mit mehr als einer "Entität" zu tun hatte. Damals hätte ich den Patienten als multiple Persönlichkeit betrachtet. Die beiden Subpersönlichkeiten traten nicht spontan in Erscheinung, sie konnten aber mithilfe von Hypnose aktiviert werden. Eine Vielzahl hypnotischer, analytischer und projektiver Techniken wurden eingesetzt, um sie, genau so wie die Interaktionen, die zu der Angst vor der Dunkelheit geführt hatten, zu verstehen. Die Phobie wurde aufgrund psychodynamischer Einsichten geheilt, zu denen der Patient mithilfe hypnotherapeutischer Verfahren geführt worden war; sie sind an anderer Stelle detailliert beschrieben worden (J. Watkins 1992b). So faszinierend diese komplexen Interaktionen auch waren - das Wichtigste für unsere heutige Arbeit ist, dass ich damals zum ersten Mal mit jenen segmentierten Persönlichkeitsstrukturen in Berührung gekommen bin, die wir heute "Ich-Zustände" nennen.
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg verbrachte ich viel Zeit damit, das Wesen und die verschiedenen Verfahren der Hypnose zu erforschen, sowohl als Forscher wie auch in der klinischen Praxis.1Eine persönliche Analyse bei dem Lehranalytiker Edoardo Weiss (1960), der seinerseits von Paul Federn analysiert und von Freud ausgebildet worden war, brachte mich in Berührung mit Federns Theorien von den Ich-Zuständen, die wir weiter unten beschreiben werden. Diese Erfahrung führte zu einem tiefer gegründeten Verständnis der menschlichen Persönlichkeit, die ich fortan als eine Vielheit und weniger als eine Einheit betrachtete.
Im Laufe der 50er- und der 60er-Jahre hatte ich Gelegenheit, eine Reihe von Menschen zu behandeln, bei denen es sich tatsächlich um multiple Persönlichkeiten handelte, darüber hinaus hatte ich Gelegenheit zu verfolgen, wie solche Fälle von Bernauer Newton und anderen Kollegen behandelt wurden, und bei der Abfassung von Berichten und der Bereitstellung von audiovisuellen Materialien, in denen solche Patienten beschrieben werden, mitzuarbeiten (siehe Bowers u. a. 1971). Diese Erfahrung war für mich sehr wertvoll und bereitete den Boden für das Verständnis verborgener Entitäten bzw. Anteile der Persönlichkeit im Vergleich zu den tatsächlich und offenkundig multiplen Persönlichkeiten. Die wirkliche Bedeutung der "Abwehr durch Abspaltung" jedoch, die viel stärker verbreitet ist und sich bei einem breiten Spektrum von Persönlichkeiten, angefangen bei der normalen Persönlichkeitsstruktur bis hin zu den schwer dissoziierten Persönlichkeiten, nachweisen lässt, trat erst dann klar in Erscheinung, als ich in den frühen 70er-Jahren mit meiner Frau und Kollegin, Helen H. Watkins, zusammenzuarbeiten begann.
Als Psychologin am Beratungszentrum der Universität von Montana hatte Helen viele College-Studenten mit normalen und neurotischen Problemen beraten und behandelt. Als geschulte Hypnotherapeutin nahm sie ständig diese verborgenen anderen in den Persönlichkeiten ihrer Klienten wahr, die intrapersonale Konflikte hervorriefen und die es zu verstehen galt, wenn Helen sie erfolgreich behandeln wollte. Auch ich begann, sowohl mit Blick auf verborgene Persönlichkeitssegmente als auch mit Blick auf das Individuum als Ganzes, hypnoanalytische Techniken anzuwenden, was nicht nur mein klinisches Verständnis, sondern auch den therapeutischen Erfolg verbesserte. Abgesehen davon, machte ich die Erfahrung, dass die Theorien von Paul Federn (1956) und Edoardo Weiss (1960), die ich bereits zwei Jahrzehnte früher kennen gelernt hatte, für die Fälle, mit denen ich es nun zu tun hatte, von Bedeutung waren.
Als Professor und Leiter des Ausbildungsprogramms im Bereich klinische Psychologie an der Universität von Montana verbrachte ich viel Zeit mit Unterrichten und Supervision und begleitete die Studenten auch bei der Ausarbeitung ihrer wissenschaftlichen Arbeiten zur Erlangung des Master's Degree; einige dieser Arbeiten befassten sich mit der Erforschung von Ich-Zuständen (Douglass a. Watkins 1994; Eiblmayr 1987; W. Hartman 1995).
Während Helen in diesen Jahren in erster Linie mit der allgemeinen klinischen Praxis zu tun hatte, beschränkte ich meine Behandlungsfälle nach und nach immer mehr auf offenkundig multiple Persönlichkeiten. Da wir beide versuchen mussten, sowohl offen in Erscheinung tretende als auch verborgene Persönlichkeitssegmente zu verstehen, spürten wir die Notwendigkeit, uns häufig gemeinsam zu besprechen - was bedeutete, dass jeder von uns gelegentlich bei den Behandlungssitzungen des anderen anwesend war - und gemeinsam eine kohärente Theorie von den Ich-Zuständen und ein entsprechendes Therapiesystem zu entwickeln.
Helen besaß eine Sensibilität, die dem, was Reik (1948; dt. 1976) als "Hören mit dem dritten Ohr" bezeichnet hat, ähnlich zu sein schien. Sehr häufig stimmte sie sich intuitiv auf das Verhalten verborgener Persönlichkeitsteile ein und entwickelte im Umgang mit ihnen innovative therapeutische Strategien. Diese Strategien kombinierten wir mit den früher von mir entwickelten hypnoanalytischen Vorgehensweisen, wie zum Beispiel Abreaktion (J. Watkins 1949), projektiven Techniken (1952) und der "Affektbrücke" (1971).
Ich selbst hatte das Bedürfnis, das Wesen dieser "Ich-Zustände" zu erforschen und eine theoretische Grundlage zu erarbeiten, um sie verstehen zu können. Auf dieser Basis führten wir gemeinsame Untersuchungen durch (Watkins a. Watkins 1979/80, 1980) und blieben ständig im Gespräch über die sich langsam herausschälende Theorie, die wir nach allen Seiten prüften und diskutierten (H. Watkins 1993). Helen stellte immer mehr Daten und Fallmaterial aus ihrer Praxis zur Verfügung, und ich versuchte beharrlich, aus all diesem Datenmaterial eine theoretische Bedeutung herauszudestillieren. In einer Reihe von Workshops begannen wir, das gesammelte Material zu präsentieren (siehe Steckler 1989) und verschiedene Veröffentlichungen herauszugeben.2 Freunde und Kollegen, mit denen wir unsere Gedanken und Konzepte diskutierten, nahmen die Konzepte von den Ich-Zuständen auf und überprüften sie in der Praxis; und so verfolgte dann nach und nach jeder seine eigene Spur hinsichtlich der weiteren Forschung und Theoriebildung.3
Unabhängig davon stellte Hilgard (1977,1986) Untersuchungen über das Phänomen des "versteckten Beobachters" vor, das den Faktor des Ko-Bewusstseins (Beahrs 1983) mit Blick auf das Funktionieren der Persönlichkeit untermauerte. Der Begriff, den Hilgard gebrauchte, nämlich "kognitive strukturelle Systeme", enthielt offenbar dieselben Entitäten, die wir "Ich-Zustände" genannt und mit denen wir therapeutisch gearbeitet hatten (Watkins a. Watkins 1979/80, 1980). Auch die Untersuchungen von Bower (1981) und seiner Mitarbeiter (1978) über Stimmungen und Gedächtnis schienen das Konzept von den Ich-Zuständen zu bestätigen.
In den letzten zwei Jahrzehnten ist das Interesse an der multiplen Persönlichkeitsstörung sowie dem gesamten Gebiet der Dissoziation wieder neu aufgelebt, und das gesamte Krankheitsbild erfährt in der Forschung zunehmend an Bedeutung und Beachtung.4 Das DSM-IV (American Psychiatric Association 1994) räumt einer genauen Definition von Krankheitszuständen, die mit Dissoziation einhergehen, bzw. den Kriterien für eine solche Diagnose viel Platz ein. Die Bezeichnung "multiple Persönlichkeitsstörung" (MPS) wurde zugunsten des Terminus "dissoziative Identitätsstörung" (DIS) aufgegeben.
Mittlerweile ist eine neue wissenschaftliche Vereinigung, die International Society for the Study of Dissociation, gegründet worden. Sie hat gegenwärtig mehr als 3000 im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie tätige Mitglieder; das von der Organisation herausgegebene Fachblatt, Dissociation, publiziert regelmäßig eine Fülle einschlägiger neuer Untersuchungen. Abgesehen davon, betrachtet man die Hypnose selbst heutzutage in erster Linie als eine Form der Dissoziation und nicht lediglich als einen Zustand, der durch Suggestion hervorgerufen wird (Hilgard 1986).
In der Literatur über Diagnose und Behandlung der multiplen Persönlichkeitsstörung begegnet heute immer häufiger der Begriff "Ich-Zustände", und es wird zunehmend deutlich, dass die Existenz verborgener Persönlichkeitsteile genau so anerkannt wird wie die offener zutage tretenden Persönlichkeitssegmente bei Patienten mit einer echten MPS (Brown a. Fromm 1986; Gruenwald 1986; Ramonth 1985). Es erscheint uns daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt notwendig, eine Theorie auszuarbeiten, welche eine Brücke herstellen kann zwischen dem normalen Funktionieren der Persönlichkeit und den extremen Formen der Dissoziation, wie sie sich bei den multiplen Persönlichkeitsstörungen, den Amnesien und den Fugue-Zuständen finden. Ausgehend von einer solchen theoretischen Grundlage, ließen sich vielleicht nicht nur bessere Behandlungsmöglichkeiten für Personen mit einer echten MPS entwickeln, sondern auch bessere Methoden, mit den "normaleren" und neurotischen Störungen, die ihre Ursache in leichteren Formen der Abspaltung haben, umzugehen.
Wir könnten das Auftreten von Multiplizität, sofern es sich dabei um etwas Pathologisches handelt, einfach als das Ergebnis...
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