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Ellie
Ich bin nicht nur nervös, sondern mir geht der Arsch auf Grundeis. Eigentlich ist es bescheuert, weil ich doch monatelang auf diesen Tag hingefiebert habe. Aber nun, wo der Transporter von meinem Onkel vor dem Haus parkt und ich auf den beigen Altbau schaue, überkommen mich so viele Ängste und Zweifel, dass ein Teil von mir wieder umkehren will.
»Wieso mache ich das nochmal?«, frage ich meinen Onkel, der gerade den Motor ausstellt. Das Lied von Céline Dion verstummt und lässt damit Platz für zu laute Gedanken.
Onkel Helmut lächelt sanftmütig. »Weil es schon seit Jahren dein Traum ist, in Köln zu studieren. Schon vergessen?«
»Ach ja«, sage ich lahm. Dieser Traum liegt gerade begraben unter einem Berg aus Sorgen. Ich bin echt ein gottverdammter Angsthase.
»Na komm, es wird bestimmt gut.« Mein Onkel tätschelt mir die Hand. »Du hast doch gesagt, dass deine neuen Mitbewohner nett sind.«
»Ja. Das denke ich. Aber was, wenn sie in Wirklichkeit ganz furchtbar sind und wir uns dauernd streiten?« Panik flackert in mir auf. Wieso bin ich nur auf die Idee gekommen, mit drei fremden Leuten in eine Wohnung zu ziehen? Ich habe noch nie mit jemandem zusammengelebt, der nicht zur Familie gehört. Wer weiß denn schon, ob ich kompatibel mit anderen bin?
»Das wirst du nur herausfinden, wenn du aus diesem Wagen steigst, in die Wohnung gehst und ihnen eine Chance gibst.«
Ich nicke wie in Trance. Ohnehin kann ich mir keine eigene Wohnung leisten. Dieses WG-Zimmer ist das Einzige, was ich hier bekommen habe. Der Wohnungsmarkt in Köln ist total überlaufen und meine finanziellen Mittel sind begrenzt, also habe ich nur diese Option, wenn ich nicht stundenlang zur Uni pendeln will.
Ich sehe nochmal hoch in den dritten Stock. Ab sofort mein Zuhause. Zumindest für die nächsten drei Jahre. »Okay«, sage ich und schlucke schwer. »Dann lass uns aussteigen.«
»Das ist mein Mädchen.« Mein Onkel lächelt mir nochmal aufmunternd zu, dann beginnen wir, die ersten Kisten aus dem Lieferwagen zu hieven. Viel Kram habe ich nicht. In dem WG-Zimmer gibt es schon ein Bett, einen Schreibtisch und einen Kleiderschrank vom Vormieter und so musste ich nicht mal Möbel kaufen - abgesehen von einem großen Spiegel, einer Stehlampe und einem Bücherregal.
Da ich meinen Schlüssel erst noch bekomme, klingeln wir an der Tür, die sofort aufgedrückt wird. Mein Herz beginnt zu rasen, was nichts mit den vielen Stufen zu tun hat, die zwischen mir und der Wohnung liegen. Immerhin werde ich nach drei Jahren tolle Waden haben, wenn ich immer die Treppe hoch und runtergehen muss. Ich klammere mich an diesen Gedanken wie an einen Rettungsring, um von meiner Nervosität nicht verschluckt zu werden. Es tut gut, meinen Onkel hinter mir zu wissen.
Von Tante Klaudia habe ich mich schon heute Morgen verabschiedet, da sie samstags immer in der Bibliothek aushilft und nicht frei bekommen hat. Ich vermisse sie schon jetzt. Der Gedanke, dass mir so ein Abschied gleich auch mit meinem Onkel bevorsteht, macht mich ganz trübselig.
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so viele verschiedene Emotionen auf einmal gefühlt habe. Ich bin wie ein Stimmungsring, der sich nicht entscheiden kann, welche Farbe er hat. Bin ich jetzt aufgeregt, ängstlich, voller Vorfreude oder neugierig? Wie kann es überhaupt sein, dass ich so unterschiedliche Emotionen auf einmal spüre?
Die weiße Tür, die zur Wohnung führt, steht einen Spalt breit offen. Ich höre Stimmen. Die Stimmen meiner neuen Mitbewohner.
»Bist du bereit?«, flüstert mein Onkel mir zu und legt mir seine Hand auf meine Schulter.
Ich nicke und zucke gleichzeitig mit den Schultern. Prima, jetzt bin ich wie Gollum. Zwei Seiten kämpfen in mir und ich bin nicht sicher, welche nun gewinnen wird: Die Angst oder die Vorfreude?
Kurz überlege ich, wieder nach unten zu gehen und mich im Transporter einzuschließen, aber mir ist durchaus bewusst, dass das nicht das Verhalten wäre, das von einer Studentin erwartet wird. Ich muss jetzt erwachsen werden, auch wenn ich es eigentlich kein Stück bin.
Ich atme tief durch, dann stupse ich die Haustür ein wenig weiter auf und betrete die Wohnung. Die dunklen Dielen knarren unter meinen Füßen und agieren wie ein natürlicher Bewegungsmelder. Ich lande direkt im Flur, wo die anderen schon auf mich warten und sofort die Köpfe nach mir umdrehen.
»Ellie, da bist du ja.« Meine neue Mitbewohnerin Alina kommt auf mich zu und umarmt mich schwungvoll. Schon beim ersten Treffen habe ich gemerkt, dass sie keine Probleme damit hat, auf andere zuzugehen. Sie hat mir sofort von ihrem Auslandsjahr in Australien erzählt und war total aufgedreht. Aber ich mag das. So muss ich mir wenigstens keine Gedanken darüber machen, wie ich ein Gespräch anfangen kann, weil Alina das für mich übernimmt.
»Hey, Leute«, sage ich in die Runde. Die Nervosität flattert in meinem Bauch. »Das hier ist mein Onkel. Helmut.« Ich zeige auf meinen Onkel, der hinter mir steht. »Und das sind meine Mitbewohner. Alina, Merle und Hendrik.« Mein Blick bleibt an der vierten Person hängen, ein Typ mit dunkelblonden Haaren und einer Cap, die er verkehrt herum trägt. »Äh . und du bist?«
»Lars Großkreuz.«
»Unser Nachbar«, erklärt Hendrik. »Wir dachten, du könntest beim Umzug noch etwas Hilfe gebrauchen.«
»Oh, das ist super. Vielen Dank.« Ich lächle Lars an, während mein Onkel allen die Hand gibt und sich nochmal offiziell vorstellt.
»Also, dann legen wir doch mal los«, sagt Hendrik und klatscht in die Hände.
Zu sechst ist der Transporter schnell ausgeräumt. Die Kartons stapeln sich im Flur, da in meinem Zimmer noch die Möbel verschoben werden. Ich will probieren, das Bett unter das Fenster zu schieben, auch wenn es den Raum vielleicht etwas kleiner macht. Ich schlafe einfach lieber unter Fenstern. Ich mag es, wenn ich den Regen besser hören kann - wozu sonst soll ein schräges Fenster unterm Dach gut sein? Außerdem bin ich eine Frischluftfanatikerin, die selbst im tiefsten Winter gerne die Fenster aufreißt. Mein Onkel hat deswegen immer geschimpft und mir einzureden versucht, dass Frauen normalerweise eher Frostbeulen sind, aber auf mich trifft das einfach nicht zu.
Kurz wirft es mich aus der Bahn, dass ich solche Sprüche von meinem Onkel bald nur noch an Wochenenden hören werde, wenn ich ihn besuchen komme. Es fühlt sich komisch an, ihn zu verlassen. Es schmerzt mehr, als ich vermutet hätte.
»Ellie, komm, sieh's dir mal an«, ruft mein Onkel. Ich verlasse den Flur und gehe in mein Zimmer. Das Bett steht nun direkt unter der Dachschrägen und dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Seite stehen der Schreibtisch und das neue Regal, in das ich meine Bücher stellen will.
»Es gefällt mir«, sage ich ehrlich. So eingerichtet fühlt es sich schon viel mehr nach mir an, als könnte ich mich hier wirklich wohlfühlen.
»Sehr gut.« Mein Onkel schnaubt. »Dann haben wir uns jetzt alle eine kleine Stärkung verdient.«
Ich nicke und hole die belegten Brötchen, die meine Tante vorbereitet hat.
»Sollen wir dir gleich auch noch beim Auspacken helfen?«, fragt Merle. Sie sieht Alina so ähnlich, dass ich sie beim ersten Besuch für Schwestern gehalten habe. Sie haben beide diese schlaksige Figur und spitze Nasen, aber in ihrer Haarfarbe unterscheiden sie sich. Merles Haare sind aschblond, während Alinas Haare eher kastanienbraun, manchmal fast rötlich, schimmern. Außerdem ist Merle einen Kopf kleiner als Alina, auch wenn sie im Vergleich zu mir beide winzig sind. Mit meinen 1,75 Metern komme ich mir vor wie eine Riesin, wenn ich neben ihnen stehe.
»Ich denke, das mache ich alleine. Viel Kram habe ich sowieso nicht dabei. Das meiste sind Klamotten.«
»Na gut«, antwortet Merle. »Aber wenn du doch Hilfe brauchst, dann sagst du uns Bescheid.«
»Auf jeden Fall.«
Wir essen unsere belegten Brötchen viel zu schnell. Ich wünschte, wir würden länger essen, denn ich weiß, dass es danach Zeit für den Abschied wird. Auch wenn ich gleichzeitig weiß, dass ich meinen Onkel bald wiedersehe und er nur rund vierzig Kilometer entfernt lebt, zieht sich mein Herz zusammen. Ich mag Abschiede nicht. Ich mag den Gedanken, an die Uni zu gehen, aber wirklich alleine zu wohnen und meinen Onkel und meine Tante zu verlassen, fühlt sich falsch an.
»Guck nicht so traurig«, flüstert er mir zu, als ich ihn umarme. »Wir sind doch nicht aus der Welt.«
»Ich weiß. Aber es wird trotzdem anders werden.«
»Veränderungen sind nicht immer was Schlechtes. Du wirst das schon hinbekommen. Und wenn etwas ist, steige ich sofort ins Auto und bin in Warpgeschwindigkeit wieder da.«
Ich gebe eine Mischung aus Schluchzen und Lachen von mir. »Alter Trekkie«, sage ich.
»Ich bin mir sicher, dass die Zeit auf der Uni toll wird. Du hast super Mitbewohner, ein schönes Zimmer und du bist in der Stadt, in der du schon immer leben wolltest. Köln wird dir sicher gefallen.«
Ich nicke an Helmuts...