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Olga Island lief auf dem Deich entlang. Die Kordel ihrer Kapuze hatte sie fest vor dem Kinn verschnürt, und sie duckte sich immer wieder gegen die Windböen, die von Norden her über das Watt fegten. Weiter hinten, wo die Entwässerungsgräben zusammenliefen, in den Salzwiesen des Vorlandes, wo Sturmmöwen niedergingen, um nach ertrunkenen Wühlmäusen zu picken, standen zwei Häuser auf einer Warft, dazwischen ein Leuchtturm. Westerheversand.
Graue Wolkenfetzen zogen über den Himmel. Wintergrau, Sturmgrau, Januar- und Wochenendnachmittagsgrau. Was mache ich hier eigentlich?, dachte Island und spuckte in den Wind.
Am späten Vormittag war sie aufgebrochen, man hätte auch sagen können, sie war aus ihrer Wohnung geflüchtet, hatte Gummistiefel, Schal und Daunenjacke in den Kofferraum ihres Mazdas geworfen und war losgefahren. Planlos, ziellos. Nur um ihren trüben, trostlosen Gedanken zu entkommen, der Sonntagmorgendepression, die sich trotz Zeitungslektüre und drei Bechern Kaffee mit viel Milch eingestellt hatte. Ein leichter Kater hatte ihr in den Gliedern gesteckt, der von zu viel französischem Rotwein, Schokoladenchips und Fernsehkonsum am Abend zuvor herrührte.
Sie war auf die Autobahn gefahren, Richtung Rendsburg, und dann immer geradeaus gen Westen, auf das Meer zu, von dem seit Wochen Wind, Wolken und Regen herüberzogen. Erst vor drei Tagen hatte der Wind auf Nordnordost gedreht. Die Luft war kälter geworden. Aber die nordatlantischen Luftmassen zogen heran, ohne dass Schnee fiel.
Erst als sie auf dem Parkplatz hinter dem Deich angekommen war und sich in Jacke und Gummistiefel zwängte, wurde ihr bewusst, wie verrückt die ganze Aktion eigentlich war. Ein Ausflug an die Nordsee, im Januar. Das machte niemand. Jedenfalls keiner, der an der Ostsee wohnte und einigermaßen bei Trost war.
Sie wohnte jetzt an der Ostsee. Wieder. Nach fast zwanzig Jahren als Kriminalhauptkommissarin in Berlin hatte man sie vor wenigen Monaten nach Kiel versetzt. In die Stadt, in der sie zur Welt gekommen und in deren Nähe sie aufgewachsen war. Versetzt in die Bezirkskriminalinspektion.
Die meisten ihrer neuen Kollegen von der Mordkommission Kiel glaubten, sie sei freiwillig in den Norden zurückgekehrt, aber das stimmte nicht. Olga Island war aus Berlin fortgegangen, weil man ihr deutlich gemacht hatte, dass ihr Leben dort nicht länger sicher war. Piotr, der »große Balte«, Chef einer der mächtigsten Mafiabanden der Hauptstadt, hatte sie zu seiner Gegnerin erklärt.
Im letzten Sommer hatte Island im Laufe der Ermittlungen gegen seine blutigen Machenschaften einen seiner besten Männer erschossen: Mischa, einen jungen Polizisten, den Piotr regelmäßig mit Drogen versorgt hatte. Mischa war einer von ihren engsten Mitarbeitern bei der Berliner Mordkommission gewesen. Sie hatte ihn aus Notwehr getötet, doch das Gefühl einer tiefen, unauslöschbaren Schuld war seitdem ihr ständiger Begleiter. Niemals würde sie sein Gesicht vergessen, den verwirrten, verwunderten und verletzten Ausdruck in seinen Augen, als die tödliche Kugel aus ihrer Pistole in seinen Körper gedrungen war. Dieser Moment würde sie immer verfolgen, überallhin, zu allen Zeiten. Auch wenn es Mischa gewesen war, der plötzlich ohne Vorwarnung kaltblütig seine Waffe auf sie gerichtet hatte, um sie an Ort und Stelle und ohne Zeugen zu erschießen.
Der psychologische Dienst ihres neuen Arbeitgebers hatte ihr Hilfe angeboten, aber bereits nach zwei Terminen bei einer matronenhaften Polizeipsychologin am Alten Markt, von deren Praxis aus man auf die Werftkräne blicken konnte, hatte sie die Gesprächstherapie abgebrochen. Zu oft hatte sie während der Sitzungen in Gedanken auf einem der Kräne gestanden, bereit, sich hinunterzustürzen. Aber davon hatte sie nichts erzählt, weil sie der Meinung war, dass diese Gedanken nur sie selbst etwas angingen. Tausend Stunden Therapie können mir nicht helfen, dachte sie.
Kurz nach ihrer Versetzung nach Kiel war Piotr in Berlin festgenommen worden und saß seitdem in Moabit in Untersuchungshaft. Der Gerichtsprozess gegen den Bandenchef war noch nicht eröffnet worden, denn die Ermittlungen waren kompliziert und würden sich lange hinziehen. Olga Island hatte viele ähnliche Prozesse erlebt: gegen vietnamesische Zigarettenhändler, gegen albanische Familienclans, gegen libanesische Banden. Nicht selten war es vorgekommen, dass man die Oberhäupter der Gruppen gefasst hatte, sie aber nach achtzehn Monaten Untersuchungshaft hatte laufen lassen müssen, weil ein ordentliches Gerichtsverfahren während dieser Zeit nicht eröffnet werden konnte. Möglicherweise würde es bei Piotr ebenso sein. Entlassung statt Knast. Freiheit statt Strafe.
Was Island am meisten wurmte, war, dass man sie nicht von offizieller Seite über die Verhaftung des Mannes informiert hatte, der sich damit brüstete, ihr Leben jederzeit auslöschen zu können. Im Gegenteil: Piotr höchstpersönlich hatte sie angerufen, um ihr mitzuteilen, dass er einsaß. Das war seine Art und Weise, ihr klarzumachen, dass man sie ausgebootet hatte. Sie war draußen, auf dem Abstellgleis, in der Provinz. Aber immerhin lebte sie.
Die Sohlen ihrer Stiefel schmatzten in den schlammigen Pfützen, als sie über den Sommerdeich auf den Leuchtturm zuwanderte. Pittoresk, dachte sie, wie das Leuchtfeuer zwischen den beiden Häusern eingeklemmt auf der kleinen Warft steht, in der Einsamkeit der weiten Landschaft, Sturm, Regen und Springfluten trotzend. Sie stemmte sich gegen den eiskalten Wind, ballte die Fäuste in den Taschen und versuchte, etwas schneller voranzukommen.
Sie dachte daran, wie Lorenz, ihr Freund und Wochenendgeliebter, ein lebensfroher Künstler aus Berlin-Kreuzberg, sie in ihrer ersten Zeit in Kiel ein paar Mal besucht hatte. Ziemlich bald aber hatte er die ständigen Zugfahrten satt gehabt und sich noch etwas mehr aus ihrem Leben zurückgezogen. »Ein bisschen ausgeklinkt«, hatte er es genannt. Von Trennung hatte er nicht sprechen wollen. Im Nachhinein war sie sich gar nicht sicher, ob sie überhaupt je richtig zusammen gewesen waren.
Im Dezember war sie nach Berlin gereist und hatte sich um einen Zwischenmieter für ihre alte Wohnung im Stadtteil Friedenau gekümmert. Auf ihre Anzeige hatten sich zahlreiche Interessenten gemeldet. Von allen, die sich die Wohnung angesehen hatten, waren ihr zwei schwule Männer am sympathischsten erschienen. Das Paar war begeistert gewesen von den abgeschliffenen, hellen Holzdielen in den Zimmern und dem großen Baum im Hinterhof. Es waren zwei junge Kommissare, beide frisch von der Polizeischule, die gerade ihre erste Anstellung bei der Schutzpolizei angetreten hatten. Sie hatten sogar unaufgefordert die Police ihrer Haftpflichtversicherung vorgezeigt. Das hatte ihr gefallen, denn schließlich hatte sie sich in der Hoffnung, doch eines Tages nach Berlin zurückkehren zu können, entschlossen, den größten Teil ihrer Möbel zurückzulassen und nur das Allernötigste nach Kiel mitzunehmen.
»Kiel«, hatte einer der beiden gesagt. »Cool! Da wollen wir auch hin, wenn wir für Berlin zu alt sind. Die ganzen Matrosen dort. Traumhaft!«
»Ja, ja«, hatte sie tapfer genickt und ein Lächeln versucht, so als hätten diese Worte sie nicht ins Mark getroffen.
Die Wolken hingen tief über dem Land, aber ihr Blick konnte bis zu einem fernen Horizont schweifen. Das gab ihr die beruhigende Gewissheit, dass die Erde, die ihr oft so klein und beengt vorkam, ein großer Planet war, der vielleicht sogar für jeden Platz bereithielt. Mit einer Natur, die man nicht beherrschen konnte oder musste, weil sie großartig und schön war. Hier draußen, am Rande eines wütenden Meeres, ging es nicht um psychologisches Geschwätz über Befindlichkeiten, sondern ums nackte Überleben. Genug Schutz gegen die Kälte, genug Nahrung, Strategien gegen das Gefressenwerden. Darauf kam es hier draußen an. Wenn man all dies erreichte, dann ging es einem gut - als Strandkrabbe, Miesmuschel, Möwe oder als Mensch.
Aber war das wirklich schon alles?
Bleibt noch die Vermehrung, dachte Olga Island. Das große Ziel im Leben aller Organismen. Das habe ich ausgelassen. Was soll's? Ohne Kinder bleibt einem ja auch eine Menge erspart. Vielleicht kaufe ich mir irgendwann einen Hund. Dem würde es bestimmt gefallen, auf dem Deich spazieren zu gehen.
Der Weg, auf den sie inzwischen gelangt war, machte eine Biegung, und sie hatte die Warft fast erreicht. Die beiden Häuser, die viel größer waren, als sie aus der Ferne ausgesehen hatten, wirkten verlassen. Kein Mensch weit und breit. Nur oben vom Turm das rhythmische Blinken des Leuchtfeuers.
Hatte sie sich so ihr Leben vorgestellt? Kurz vor dem vierzigsten Geburtstag durchgefroren auf einem winterlich öden Marschenvorland Trübsal zu blasen? Allein, ohne irgendjemanden, den sie anrufen oder dem sie wenigstens eine SMS schicken konnte oder wollte.
Sie zog einen Schokoriegel aus ihrer Jackentasche und riss das Papier auf. Klebriges Karamell geriet zwischen ihre Backenzähne und verursachte augenblicklich einen sengenden Schmerz im Unterkiefer.
Sie musste schon wieder an Berlin denken. Besonders das vergangene Weihnachten dort war schrecklich gewesen. Sie hatte den Heiligen Abend bei ihrer Tante Thea im Wedding verbracht. Lorenz war zu seinen Eltern nach Süddeutschland gereist und hatte sie natürlich nicht gefragt, ob sie hätte mitkommen wollen. Tante Thea, die seit ein paar Jahren in einem Wohnprojekt im Berliner Norden lebte, war Olga Islands engste Verwandte. Thea hatte sie großgezogen, seit Olgas Mutter Anfang der siebziger Jahre von einer Reise nach Südamerika nicht zurückgekehrt war. Zusammen mit ihrer Nichte hatte Thea in einem kleinen Haus an der Strandpromenade von Laboe bei...
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