Schweitzer Fachinformationen
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When I'm Sixty-Four. Das Wecksignal ihres Handys riss sie hoch, aus einem endlosen Film immer wiederkehrender Bilder. Olga Island schlug die Augen auf, ihr T-Shirt klebte zwischen den Schulterblättern. Bunte Vorhänge bauschten sich vor einem Fenster, das gekippt war. Kühle Luft strömte herein, draußen war es schon hell. Eine Möwe kreischte schrill und anhaltend.
Sie lag in einem Bett, das mit einer gebügelten, weißen Bettwäsche bezogen war. Sie besaß keine weißen Bettbezüge, und sie bügelte Bettwäsche nie. Dazu hatte sie gar keine Zeit. Also musste es ein fremdes Bett sein, aber sie war allein. Kiel, schoss es in ihren Kopf, ich bin in Kiel. Sie drehte sich auf die Seite, schloss die Augen und stöhnte.
Als sie sie wieder öffnete, zeigte das Display ihres Handys sechs Uhr dreißig. Wenn sie tatsächlich in Kiel war, dann war es höchste Zeit aufzustehen. Sie streckte sich und atmete ein paarmal tief ein und aus. Sie befand sich in einer Frühstückspension in Schönkirchen, einem Vorort von Kiel. Seufzend rollte sie sich aus dem Bett, trat vor das kleine Waschbecken hinter der Tür, beugte sich darüber und ließ sich kaltes Wasser über den Kopf laufen.
Es waren immer dieselben Bilder, die sie seit Wochen quälten, die immer gleichen Gedanken, die sie beschäftigten, egal ob sie träumte oder wach war. Ihr letzter Einsatz in Pankow. Es war alles in Ordnung gewesen, bis zu dem Moment, als Mischa seine Waffe auf sie gerichtet hatte. Da war plötzlich alles aus dem Ruder gelaufen, es war der Augenblick gewesen, den jeder Polizist insgeheim fürchtet, aber so gut es geht verdrängt. Es war der Moment, in dem alles schiefläuft, in dem man die Kontrolle über das Geschehen vollkommen verliert. Dabei war sie so kurz davor gewesen, in diesem brutalen Fall einen entscheidenden Schritt voranzukommen. Verdammte Mafia. Sie hatte sie dazu gebracht, einen Menschen zu erschießen. Wie sollte sie damit zurechtkommen?
Immer wieder sah sie Mischas Augen vor sich: kalt, konzentriert und absolut entschlossen. Dann, als der Schuss gefallen war mit einem Knall, den sie auch jetzt noch zu spüren glaubte, und die Kugel in seinen Bauch gedrungen war, hatte er sie ungläubig angesehen, als habe eine Geliebte völlig unvermittelt zu ihm gesagt: »Übrigens, ich liebe einen anderen.« Diesen Blick konnte sie nicht vergessen.
»Sie müssen eine Zeit lang aus Berlin verschwinden«, hatte der leitende Oberstaatsanwalt ihr mitgeteilt. »Wir können Sie nicht beschützen. Sie wissen zuviel. Sie sind auf der Abschussliste ganz oben. Bis das Ergebnis der Untersuchung zum Tod ihres Kollegen vorliegt, sind Sie vom Dienst suspendiert, aber ich rate Ihnen unabhängig davon, Berlin so schnell wie möglich zu verlassen. Sie bekommen eine neue Identität, wenn Sie wollen. In Ihre Dienststelle können Sie aber auf keinen Fall zurück. Nicht, bis wir die Strukturen der Mafia durchschaut haben. Nicht, bevor Piotr sitzt. Sie wissen selbst am besten, dass es lange dauern kann, bis wir ihn haben, bis wir ihm das alles nachweisen können. Vielleicht gelingt es uns nie. Und selbst wenn er weggebunkert ist, müssen wir damit rechnen, dass er weiter aus dem Knast heraus regiert.«
Das kalte Wasser brannte auf ihrer Kopfhaut. Sie fuhr sich mit dem Handtuch durch das halblange, dunkelblonde Haar und rubbelte es trocken. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass sie sich einmal so niedergeschlagen fühlen würde wie in den Tagen nach dem Einsatz in Pankow. Sie hatte einen Menschen erschossen. Sie hatte auf einen Kollegen gezielt, auch wenn dieser Kollege die Seite gewechselt hatte. Sie hatte geschossen, um ihr eigenes Leben zu retten, doch genau dieses Leben schien ihr plötzlich völlig wertlos. Sie starrte in den Spiegel. Ein müdes Gesicht blickte ihr entgegen, dunkle Halbmonde unter den Augen, unübersehbare Spuren der letzten Wochen. Sie sah genauso alt aus, wie sie war: neununddreißig! Sie ging für keinen Tag jünger mehr durch.
Nach der Freistellung von ihrem Dienst hatte sie drei Tage und drei Nächte allein in ihrer Wohnung in Friedenau gesessen. Sie hatte Bier getrunken und versucht, eine Entscheidung zu treffen. Lorenz, der Mann, mit dem sie ihre wenigen freien Wochenenden verbrachte, war bis zum Ende des Sommers in Italien unterwegs, wo er ältere Damen und Herren der Volkshochschule Berlin-Mitte im Aquarellmalen unterrichtete. Sie musste die Entscheidung allein treffen. Ich lasse mich nicht einschüchtern, hatte sie immer wieder gedacht. Es muss doch andere Kommissariate geben, in denen ich arbeiten kann, auch wenn mir die Kollegen nun mit Misstrauen begegnen. Ich bleibe in Berlin.
Am Morgen des zweiten Tages hatte ein Projektil unbekannter Herkunft das obere Flügelfenster in ihrer Küche durchschlagen, am Abend des dritten Tages ein verdächtiges Päckchen in ihrem Briefkasten gelegen. Die Kollegen vom Sprengstoffdienst waren gekommen und hatten die Briefbombe entschärft. Island hatte mehr Bier gekauft und noch eine Nacht lang getrunken. Dann hatte sie sich entschieden. Sie war in der Stadt nicht mehr sicher. Sie würde ihre Wohnung untervermieten und für eine Weile woandershin gehen. Den Vorschlag mit der neuen Identität hatte sie sofort verworfen. Wenn Piotr sie eliminieren wollte, würde er es tun. Aber sie war sich sicher, dass er sich damit zufriedengeben würde, sie eingeschüchtert und vertrieben zu haben. Er hatte gesiegt. Er hatte mit seinem fetten, blutbesudelten Grinsen die Hauptstadt für sich allein.
Piotr hatte Kontakte bei der Polizei. Das war der wirkliche Grund, warum man Island angeblich nicht beschützen konnte. Mit Recht und Ordnung hatte das alles nichts mehr zu tun.
Olga Island zog die Vorhänge zur Seite und sah hinaus. Auf dem kurz gemähten Rasen stand ein aufblasbarer Swimmingpool für Kinder, in dem Plastikspielzeug vor sich hin dümpelte. Über den Dächern der niedrigen, geklinkerten Nachbarhäuser türmten sich graue Wolken, hinter einer akkurat gestutzten Hecke flatterte ein blau-weiß-roter Wimpel an einem Fahnenmast. Ein feiner Kopfschmerz pochte in ihren Schläfen. Sie öffnete den Schrank, nahm Jeans, Unterwäsche und eine weiße Bluse heraus und zog sich an. Kiel, dachte sie, ausgerechnet Kiel. Hier ist es kalt, obwohl eigentlich noch Sommer ist. Hier ist der Hund begraben. Hierher wollte ich niemals zurück.
»Hiermit versetze ich die Kriminalhauptkommissarin Olga Island in den Dienstbereich der Schleswig-Holsteinischen Landespolizei. Sie wird dort der Bezirkskriminalinspektion der Polizeidirektion Kiel zugeordnet werden. Gezeichnet: Der Innensenator.«
Das war der Dank für lange Jahre erfolgreicher Arbeit bei der Berliner Mordkommission.
Man hatte ihr die Versetzungsurkunde zugestellt, zusammen mit den abschließenden Ermittlungsergebnissen über den letalen Schusswaffengebrauch. Das Ergebnis hätte ihr etwas von ihren Schuldgefühlen nehmen können, aber es verstärkte sie im Gegenteil noch. Die Obduktion von Mischas Leiche hatte ergeben, dass er regelmäßig Heroin konsumiert hatte. Für Piotr war er ein leichter Fang gewesen. Ein drogensüchtiger Bulle, es hätte nicht besser sein können. Piotr hatte Stoff in der Wohnung zurückgelassen. Mischa hätte alles getan, um daranzukommen, auch gemordet. Warum habe ich das nicht bemerkt, dachte sie immer und immer wieder. Warum habe ich nicht bemerkt, dass ein so naher Mitarbeiter drogenkrank ist? Ich hätte es sehen müssen. Ich war blind.
Man hatte ihr Notwehr in unübersichtlicher Situation zugestanden und von Disziplinarmaßnahmen abgesehen. Sie war eine fähige und ausdauernde Hauptkommissarin, und wenn der Berliner Stellenschlüssel es hergegeben hätte, dann hätte man sie längst befördert. Sie war eine Frau in den besten Jahren, kinderlos, mit mittelmäßigem Abitur, aber brillanten Noten an der Polizeihochschule. Sie konnte sich keinen anderen Beruf als ihren jetzigen vorstellen. Polizeiverwaltung? Innendienst? Nein. Sie konnte tagelang über Akten brüten, wenn es darum ging, einen Fall zu lösen, aber sie konnte sich nicht vorstellen, es immer und ausschließlich zu tun. Es würde die Welt nicht besser machen. Innendienst war keine Lösung.
Sie ging nach unten in den Frühstücksraum. Am Nachbartisch saßen zwei Männer, die sich über einen Strauß Plastikblumen hinweg auf Englisch unterhielten. Es ging um irgendwelche Motoren, die nach Estland verschifft werden sollten. Island trank drei Becher starken Kaffee mit viel Kaffeesahne, weil es keine Milch gab. Lustlos aß sie ein Brötchen mit Marmelade und blätterte in der Tageszeitung, die auf dem Tisch lag. Im Radio lief ein Musiksender, Welle Nord, und spielte Schlager und seichte Popmusik. Nach jedem zweiten Lied schaltete sich ein Moderator mit Altmännerstimme ein und machte einen Witz, den nur verstand, wer auf dem Land wohnte und sich niederdeutschen Humor bewahrt hatte. Manche Anekdoten erzählte er gleich ganz auf Platt.
Die Titelseite der Zeitung zierte das Bild vom Ausschwimmen einer Luxusjacht aus einem Dock. Sie hatte die Größe eines Passagierschiffes. Ein Ölmilliardär, der in der Zeitung nicht genannt werden wollte, hatte sie von der größten der Kieler Werften, den Howaldtswerken, bauen lassen.
Island blätterte weiter. Auf Seite zwei gab es einen Bericht über die schwierige wirtschaftliche Lage im Land, den das Bild einiger Werftkräne zierte, während auf Seite drei ein üppig bebilderter Artikel über die Kreuzfahrtschiffe abgedruckt war, die voraussichtlich im nächsten Jahr den Kieler Hafen anlaufen würden. Die Sportseiten berichteten über eine Regatta in der Flensburger Förde, die deutschen Surfmeisterschaften vor St.Peter-Ording und ein Beachvolleyballturnier am Schilkseer Strand. Sie dachte an die Schlagzeilen in den Berliner Zeitungen: Polizist von Kollegin...
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