Es war in der Woche nach Ostern. Fünf Jungen schoben ihre Fahrräder den Steilweg in den Grampian Mountains hinauf. Sie schwitzten, obwohl die Sonne nicht heiß schien, und schnauften. Der vorderste blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ich kann nicht mehr«, jammerte es von hinten. »Wenn ich noch weiter muss, falle ich tot um.«
»Reiß dich zusammen, Fred Brubeckle«, sagte der Anführer der Jungen. »Denk daran, dass du ein Pfadfinder bist! Gleich haben wir es geschafft, dann sind wir oben und können die Straße abwärts fahren. Und bevor es wieder aufwärts geht, schlagen wir unser Zelt auf.«
»Das ist ein Wort!«, entgegnete Fred Brubeckle. »Ich komme um vor Hunger.«
Er war wie die vier anderen fünfzehn Jahre alt. Sie gehörten zum Londoner Pfadfinderklub »Richard Löwenherz« und machten eine Radtour durch Schottland. Dazu hatten sie sich die beschwerlichste Route ausgesucht, quer durch die Grampian Mountains.
Insbesondere der hamsterbackige Fred Brubeckle mit seinem Speck bereute das jetzt.
»Du denkst immer nur ans Essen, Fred«, sagte Elroy Lorrimer vorwurfsvoll. Er war der Gruppenführer. »Sieh doch einmal, wie romantisch die Bergwelt rundum ist. Zerklüftete Felsen, aufragende Gipfel, schäumende Wildbäche und dann wieder Wälder. Und diese frische, klare Bergluft!«
»Eine kräftige Linsensuppe mit Brühwurst wäre mir lieber«, maulte Fred. »Mir hängt der Magen bis in den Kniekehlen, Leute. Es ist schon verdammt spät.«
»Ein Pfadfinder flucht nicht, Fred.«
Elroy schob sein Fahrrad wieder an. Er keuchte die letzten zweihundert Meter der Steigung hinauf. Die anderen folgten ihm. Oben auf dem Pass wurden sie von hochragenden dunklen Felswänden eingeengt. Eine Aussicht gab es hier nicht.
»Jetzt geht es abwärts, Leute«, sagte Elroy. »Keiner überholt mich, sonst gibt es einen Verweis im Fahrtenbuch. Ich habe keine Lust, euch von den Felswänden abzukratzen, weil ihr rast wie die Irren.«
Elroy stieg in den Sattel seines Drahtesels, und nun ging es auf der gewundenen Bergchaussee bergab. Das war eher nach dem Geschmack der Jungen. Sie brauchten nicht einmal in die Pedale zu treten, sondern mussten mit Handbremse und Rücktritt bremsen.
Ihr Jauchzen und ihre ausgelassenen Schreie halten von den Bergwänden wider. Einmal kam ihnen ein Auto entgegen, ein altersschwacher Lieferwagen. Es war eine recht einsame Gegend hier.
In der Nähe entsprang der Don, jener Fluss, der zusammen mit dem Dee bei Aberdeen in die Nordsee mündete. Die fünf Jungen fuhren in ein lang gestrecktes, bewaldetes Tal ein. Die Sonne war schon fast hinter dem Massiv des Ben Macdhui im Westen versunken. Der Berggipfel ragte düster ins Abendrot, und zwischen den Bäumen des Waldes war es schon dämmrig und dunkel.
Elroy Lorrimer sah sich nach einem geeigneten Platz um, wo man das Fünf-Mann-Zelt aufschlagen konnte. Er hatte sich die Karte bei der letzten Rast gründlich angesehen und wusste, dass es noch einige Kilometer bis zu dem Städtchen Drathwinnie waren.
Die Jungen wollten im Zelt übernachten, wie es sich für zünftige Pfadfinder gehört. Elroy hatte auch bald einen Platz gefunden. Da war eine Schneise im dichten Wald, und ein Bach floss ganz in der Nähe.
»Hier bleiben wir, Leute!«, rief der rothaarige Junge. »Jeder weiß, was er zu tun hat.«
Die Arbeitseinteilung für diesen Tag war schon am Morgen erfolgt, als sie von Schloss Balmoral aufbrachen. Dort gab es eine Jugendherberge. Bald stand das Zelt, das Lagerfeuer brannte und auf dem Propangaskocher wurde das Wasser für die Suppe heiß.
Elroy hatte seine Gruppe gut im Griff. Er schaute zu dem Pfadfinderwimpel, der schlaff herunterhing. Er zeigte als Symbol einen Eisenhandschuh, wie er sicher auch einmal zur Rüstung des Richard Löwenherz gehört hatte.
Die Fahrräder der Jungen standen beim Zelt. Die Packtaschen lagen ordentlich aufgereiht nebeneinander. Elroy schaute zum Himmel, wo bereits die Sterne funkelten. Regen würde es wenigstens nicht geben.
Aber kühl war es geworden mit Einbruch der Dunkelheit.
Fred Brubeckle, der Koch, hatte das Päckchen mit den Linsen und die Brühwürste bereitgelegt. Er schaute auf das sprudelnde Wasser im Kessel.
»Worauf wartest du noch?«, fragte einer der Jungen. »Bis es grün wird?«
Fred Brubeckle hob die Hand.
»Immer langsam, Leute, erst zehn Minuten abkochen lassen. Oder wollt ihr die Ruhr oder wer weiß was haben? Aber dann wird euch Old Fred ein Menü herzaubern, nach dem sich sogar die Gäste eines First-class-Motels die Finger bis zum Ellbogen ablecken würden.«
»Rede nicht so viel, du Quasselkopf! Sieh lieber zu, dass du mit dem Essen zurande kommst. Du bist so langsam, Fred, du bringst es sogar fertig, das Wasser langsam kochen zu lassen.«
»Jetzt ist es so weit.«
Fred Brubeckle gab erst die Linsen und dann die Brühwürste in den Topf. Es begann, verführerisch zu duften. Fred grinste über alle vier Backen. Wenn es ums Essen ging, da war er vornedran, während er sich sonst vor der Arbeit drückte, wo er nur konnte.
Elroy sah sich um. Unterbewusst hatte er schon die ganze Zeit gespürt, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Er fühlte sich unbehaglich. Während die anderen Jungen nur ihr Abendessen im Kopf hatten, fiel ihm auf, dass es völlig ruhig war, vom fernen Rauschen des Baches abgesehen.
Die Stille bedrückte Elroy. Das ganze Tal und die Berghänge waren bewaldet. Man hätte Tierstimmen hören müssen, das Knacken von Ästen oder ein gelegentliches Rascheln im Unterholz. Irgendetwas. Stattdessen herrschte Schweigen.
Unheimlich kam es Elroy vor, der etwas abseits von den anderen Jungen am Rand des Lichtkreises des Lagerfeuers saß. Ihm war fast, als seien die Bäume und Büsche zu beiden Seiten der Schneise näher herangerückt an die kleine Gruppe.
Gern hätte er mit einem von den anderen darüber gesprochen. Aber das getraute er sich nicht. Sonst wär es für alle Zeiten vorbei mit seiner Autorität als Gruppenführer und sie würden ihn nur noch auslachen. Elroy sagte sich, dass er irgendwie in eine merkwürdige Stimmung hineingeraten war.
Vielleicht hatte er etwas Verkehrtes gegessen. Vielleicht war gerade mit seinen belegten Broten, die man ihm wie den anderen in der Jugendherberge von Schloss Balmoral eingepackt hatte, etwas nicht in Ordnung gewesen.
Jetzt, wo er daran dachte, spürte Elroy auch ein Rühren in den Eingeweiden. Er sah zu den anderen hinüber. Bis die Linsensuppe fertig war, würde es noch eine Weile dauern. Also konnte er in den Wald und sein Geschäft erledigen.
Eine Papierrolle lag bei den Gepäcktaschen, und er riss einen Streifen ab und steckte ihn in die Tasche der Pfadfinderhose. Dann ging er auf den Waldrand zu. Ein bisher unbekanntes Gefühl hielt ihn zurück. Die düsteren, zusammengedrängten Bäume, Laub- und Nadelwald, erschienen ihm bedrohlich.
Energisch ermahnte er sich. Er war doch kein achtjähriges Pfadfinderwelpen mehr, das Angst vor der Dunkelheit hatte. Einer von den Jungen schaute zu ihm herüber. Er nickte ihm betont gleichmütig zu und trat zwischen die Bäume.
Das Dunkel des Waldes verschluckte ihn.
Es war finsterer, als Elroy gedacht hatte. Das kam auch daher, dass seine Augen noch den Feuerschein gewöhnt waren. Er kniff sie zu schmalen Schlitzen zusammen, damit sie sich schneller umstellen konnten.
Bald schon konnte er seine Umgebung deutlicher erkennen. Die Bäume und das Brombeergesträuch zur Rechten, die aus der Erde ragenden Wurzeln. Abgefallene Blätter und Nadeln bedeckten den Boden. Es war so finster, dass Elroy von allem, was weiter als zwei Meter entfernt war, nur Umrisse erkennen konnte.
Fast schien es, als schirmten die Bäume das Mond- und Sternenlicht ab. Elroy suchte sich einen Platz, wo er sich niederhocken konnte. Ein gestürzter Baumstamm vor einem Gebüsch erschien ihm geeignet.
Der Wald war sehr verfilzt und verwildert. Man merkte, dass niemand ihn hegte und pflegte.
Als Elroy die Jacke mit dem Pfadfinderabzeichen an einen Baumast hängte, sah er eine Bewegung. Er schaute schärfer hin. Kein Zweifel, da bewegte sich etwas in der Dunkelheit, kam näher. Er körte ein Knistern, Prasseln und Rauschen.
Zusammengeduckt stand Elroy da, im Moment vor Schreck unfähig, sich zu bewegen. Etwas Großes näherte sich ihm, streckte jetzt Äste und Zweige nach ihm aus.
Ein Schrei löste sich aus Elroys Kehle. Ein Baum war in Bewegung geraten und wollte ihn packen. Jetzt wusste er auch, woher die Geräusche kamen. Das Geäst und Laub des Baumes streifte das andere. Elroy wirbelte herum wie ein zu Tode erschrecktes Tier.
Er wollte davonlaufen. Hinter ihm ragte der Baum auf, massiv, borkig, mit starken Ästen. Er lief auf seinen Wurzeln. Ein Zweig legte sich um Elroys Hals, und der Junge schrie gellend auf Äste packten ihn mit eisernem Griff.
Er strampelte und schrie aus Leibeskräften. Aber gegen den Baum hatte der Fünfzehnjährige keine Chance. Kein Mensch und kein Tier hätte die Kraft gehabt.
Elroy schluchzte vor Entsetzen, als seine Arme und Beine gefesselt wurden, als ungeheure Kräfte ihn gegen Baumrinde und Aststummel pressten. Scharfe Holzkanten drangen in sein Fleisch, verletzten ihn aber nicht ernsthaft.
Er konnte nicht mehr laut schreien, denn der starke Zweig schnürte ihm wie eine Schlinge die Luft ab. Nicht so, dass er in Gefahr geraten wäre, zu ersticken. Aber fürs Schreien reichte die kostbare Atemluft auch nicht mehr.
Der Baum trug Elroy davon, tiefer in den dunklen Wald hinein. Ein Sturmwind...