Das Lied von Nacht
und Grauen
von Earl Warren
Missmutig tappte Ramon de Ybarra den Weg zum Schloss hinauf. Der Besuch bei seinem Bruder Estaban war wie immer unangenehm verlaufen. Schon Estabans bloße Anwesenheit genügte, um Ramon mit Ärger, Unwillen und Abscheu zu erfüllen.
In schlimme Gedanken versunken, halb laut vor sich hin schimpfend, bemerkte Ramon den allmählich näher kommenden Sprechsingsang nicht mal. Erst als der Urheber dieser Laute nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, durch die Büsche an der Wegbiegung in der mondhellen Nacht seinen Blicken verborgen, blickte Ramon auf.
Es war eine fremde Sprache, in der der Mann sprach und sang. Ramon verstand die Worte und Gesänge nicht, aber ein nie geahntes Grauen überkam ihn. Seine Muskeln versteiften sich, die Nackenhaare richteten sich auf, und es überlief ihn eiskalt. Das Zirpen der Grillen rundum verstummte. Die linde Luft schien schwer und drückend zu werden wie Blei.
Selbst die Sterne am Himmel schienen sich zu verändern. Waren sie zuvor noch helle, strahlende Lichter am Nachthimmel gewesen, so erschienen sie Ramon jetzt wie bedrohliche Punkte, die die Umrisse von dämonischen Fratzen und Grimassen bezeichneten.
Ramon vermochte sich nicht zu rühren. Mein Gott, was ging da vor? Was oder wer erzeugte diese Atmosphäre des Grauens, diese körperlich spürbare Aura des Bösen und Unheimlichen, der sich nichts entziehen konnte? Der bleiche Vollmond sah aus wie eine Teufelsfratze.
Das Sprechen und die Gesänge verstummten, doch der Unheimliche kam näher, noch immer durch die Büsche gegen Sicht gedeckt. Ramon de Ybarra starrte zu dem Fleck, an dem er auftauchen musste, er, der Herr und die Ausgeburt dieses Schreckens.
Dann kam er.
Ramon de Ybarras Schrei gellte auf und hallte durch die Nacht. Ein solches Geschöpf hatte Ramon in den fünfzig Jahren seines Lebens noch nie erblickt.
Es war groß, zwei Meter, und es hatte eine dicke, schuppige Hornhaut. Die Hände wiesen fünf klauenartige Finger auf. Der Kopf war der einer Echse und doch wieder menschenähnlich. Spitze Zähne blitzten.
Das schrecklichste aber waren die Augen. Groß, rund und rot glühend, schienen sie Ramon de Ybarra zu durchbohren. Er wollte weglaufen, aber er vermochte es nicht. Seine zitternden Knie versagten ihm den Dienst.
»Nein«, stammelte er. »Nein, nein, nein! Geh weg. Geh zurück in die Hölle, aus der du gekommen bist!«
Ein Grollen drang aus der schuppenbedeckten Brust der Schreckenskreatur. Langsam tappte das Monstrum näher. Die Augen leuchteten und glühten noch intensiver.
Ein stechender Schmerz zog durch Ramons Gehirn.
Er stolperte rückwärts, bis er mit dem Rücken gegen einen Baum stieß.
Das Monstrum kam immer näher. Wie ein Berg ragte es über Ramon auf. Die Klauenhände öffneten und schlossen sich. Eine eisige Kälte ging von dem Ungeheuer aus. Die roten Augen aber loderten und glühten.
Je näher das Ungeheuer kam, umso schrecklicher erschien es Ramon de Ybarra. Die Fratze des Satans war es, die ihn da angrinste.
Das Monstrum streckte die Klauenhände nach de Ybarra aus.
Jetzt erst erwachte er aus seiner Erstarrung. Mit einem gellenden Schrei warf er sich zur Seite und floh vom Weg in den Olivenhain hinein.
Hinter sich hörte Ramon das Krachen und Knacken von morschen Ästen, und er wusste, dass das Ungeheuer ihm folgte. Sie umzuschauen, wagte er nicht. Stets hörte er die Geräusche im gleichen Abstand hinter sich, obwohl er rannte wie toll.
Ramon de Ybarras Atem ging keuchend. Sein Herz hämmerte. Er war schweißgebadet. Er war nicht mehr der Jüngste. Von körperlicher Betätigung hatte er auch nie viel gehalten. Hinzu kam das Grauen, das ihn lähmen wollte und ihn fast wahnsinnig machte.
Nie wieder würde er nachts ruhig schlafen können, nachdem er dieses höllische Ungeheuer gesehen hatte. Aber ... würde er überhaupt je wieder schlafen? Es konnte nur einen Grund geben, dass die Höllenkreatur ihm folgte: Sie wollte ihn umbringen, auf eine Art, die ebenso schrecklich war wie ihr Äußeres.
Eine Wolke trieb vor den Mond. In der schwarzen Finsternis stieß sich Ramon de Ybarra Kopf und Körper an Bäumen und Ästen blutig. Dornenranken zerrissen seine Kleider. Er spürte es kaum. Die Panik, weil er nicht schneller vorwärts kommen konnte und weil das Ungeheuer sich immer mehr näherte, erfüllte ihn mehr und mehr.
Jetzt - zu spät - fiel dem hageren graulockigen Mann ein, dass er hätte zurücklaufen sollen, auf das Dorf zu, oder sich zumindest nach links, zur Autostrada, hätte wenden sollen.
So kam er zu den Hügeln. Dort war niemand, der ihm helfen konnte. Nur er ... und das Ungeheuer.
Gegen eine solche Kreatur konnte man nicht kämpfen, man konnte nur vor ihr fliehen.
Plötzlich hörte Ramon de Ybarra nichts mehr. Kein Brechen und Knacken von Ästen, keine stampfenden Tritte.
Er blieb keuchend stehen, versuchte, den keuchenden Atem zu dämpfen, um besser hören zu können, den pochenden Herzschlag zu bezwingen.
Nichts regte sich rundum. Schweigend und dunkel lag der Wald, den Ramon de Ybarra mittlerweile erreicht hatte.
Ramon presste die Hand an die Brust. Er sank auf einen gestürzten Baumstamm nieder, denn er konnte nicht weiter. Nun kam der Mond wieder hinter der Wolke hervor. Er übergoss das Land mit seinem silbrigen Licht. Schwarz erschienen die Schatten unter den Bäumen, und schwarz hoben sich alle Konturen in dem unwirklichen Licht ab.
Ramon de Ybarra wusste auf einmal, dass sich etwas hinter ihm befand. Etwas Unsagbares, Grässliches. Er spürte Kälte. Er wagte nicht, den Kopf zu wenden.
Ramon machte es in diesen Augenblicken, den letzten seines Lebens, wie der Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt, um die Gefahr nicht sehen zu müssen.
Etwas legte sich schwer auf seine Schulter. Ramon wurde an beiden Schultern gepackt, auf die Beine gestellt und herumgedreht wie eine Stoffpuppe.
Er sah direkt in die glühenden Augen des Ungeheuers, das ihn gepackt hatte. Die Krallenhände waren schrecklich kalt, so kalt, dass die Kälte wie ein Messer in Ramons Fleisch schnitt.
Die Augen aber sengten und loderten. Ramon de Ybarra, mit vollem Namen Don Ramon Alfonso Maria y Moreno de Ybarra, der Bruder des Conde von Schloss Aguila, schrie auf vor Schmerz und Entsetzen.
Die kalten Klauenhände packten seinen Hals und schüttelten ihn. Ein Grollen und Knurren kam aus dem Rachen des Ungeheuers zwischen den spitzen Dolchzähnen hervor.
Der Schmerz zersprengte schier Ramons Kopf. Sein Gebrüll schwoll an. Es hatte nichts Menschliches mehr. Der glühende Blick des Ungeheuers brannte sich wahrhaftig in Ramon de Ybarras Augen, versengte und verbrannte sie. Blut strömte aus den Augenhöhlen und zischte unter dem glühenden Blick. In Ramon de Ybarras Augenhöhlen wurden schwarze Löcher gebrannt.
Das Schreien wurde zu einem Winseln und Wimmern. Ein letztes, krampfhaftes Zittern und Zucken, und de Ybarra war tot.
Das Ungeheuer, dessen rote Augen nun nicht mehr so intensiv glühten, hielt den Toten noch eine Weile aufrecht. Der Leichnam war nicht etwa schlaff, sondern wurde immer steifer und starrer.
Schließlich packte das Ungeheuer mühelos die steife, starre Gestalt, hob sie hoch über den Kopf und schleuderte sie in die Büsche.
Dann drehte es sich um und stapfte davon. Es verschwand unter den Schatten der Bäume, als hätte es nie existiert.
Ramon de Ybarras Leichnam mit dem grässlich verzerrten, entstellten Gesicht bewies das Gegenteil.
┼
Gleich bei der Ankunft merkte Frank Müller, dass Schloss Aguila von einem schlimmen Unglücks- oder gar Todesfall heimgesucht worden war.
Die Fahne mit dem Wappen des Conde de Ybarra hing auf halbmast und war mit einem schwarzen Trauerflor versehen. Die Bediensteten des Schlosses gingen schwarz oder zumindest dunkel gekleidet. Kein lautes Wort war zu hören, kein fröhlicher Willkommensruf.
»Die schleichen alle herum, als hätte der Totengräber sie bei der Beerdigung vergessen«, sagte Frank zu seiner Schwester Sabine. »Wir hätten doch in ein Hotel ziehen sollen anstatt zu den de Ybarras.«
Die Grundmauern des Schlosses waren auf dem Sockel einer geschleiften Maurenfestung errichtet worden. Schloss Aguila befand sich auf einem schroffen Berggrat und war nur über eine holprige schmale Straße zugängig. Das massive, beeindruckende, düstere Gebäude mit dem großen Innenhof und den wuchtigen, dicken Mauern war im Laufe der Jahrhunderte mehrmals umgebaut und renoviert worden. Doch immer noch wirkte es zyklopenhaft wie ein Überbleibsel aus der Vorzeit.
Die Ornamente und Verzierungen, die maurischen Bogen und gotischen Erker vermochten die düstere Wucht der Mauern kaum zu mildern.
»Antonia hat nich zu viel versprochen«, sagte Sabine Müller. »Das ist wirklich ein klotziger alter Kasten. In so einem Gebäude muss man schon geboren und aufgewachsen sein, um es längere Zeit darin aushalten zu können. Ich bekäme da Zustände.«
»Warten wir erst mal ab, wie es von innen aussieht«, antwortete Frank. »Jetzt sind...