Schweitzer Fachinformationen
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2. Happy birthday, weniger happy
Wenn man Menschen bittet, tapfer zu sein, dann erwartet man von ihnen, dass sie ganz neu über das nachdenken, was ihr Leben ausmacht.
Gordon Livingston, Lamm oder Löwe? 30 unbequeme Wahrheiten, um endlich angstfrei zu leben
East Alabama Klinik Opelika, Alabama, 2008
Ich hatte gerade den ersten operativen Eingriff des Tages hinter mir, als mein Handy einen Summton von sich gab. Ich sah auf das Display.
»Rufen Sie Dr. Stinson in der Notaufnahme an. 35 J., männlich, Autounfall, wahrscheinlich Hirntumor.«
Ein fünfunddreißig Jahre alter Mann, Zustand: nach Autounfall, wahrscheinlich Hirntumor? Das machte mich neugierig. Anstatt also Dr. Stinson anzurufen, beschloss ich, selbst hinzugehen und mir das Ganze anzusehen.
»Morgen Doc«, sagte Claudette, als ich den Raum betrat. Seit gefühlten dreihundert Jahren schon versah sie ihren Dienst als leitende Sekretärin in der Notaufnahme und war von dort nicht wegzudenken.
»Guten Morgen, was ist das für eine Geschichte?«
»Der Typ hatte so was wie einen Anfall. Auf dem Weg zur Arbeit hat er sein Auto zerlegt. Das MRT zeigt, dass irgendwas nicht stimmt mit ihm. Dr. Stinson hat die Scans.«
Ich machte mich auf den Weg, um Stinson in seinem Arztzimmer aufzusuchen.
»Ach und noch was Doc«, rief Claudette mir hinterher, »heute ist sein Geburtstag.«
Ich schüttelte den Kopf und schob meine Hände ganz tief in die Taschen meines Kittels. Wenn Stinson mit seiner SMS recht hatte, würde das kein besonders schöner Geburtstag für diesen Patienten werden.
Stinson saß vor seinem PC, als ich eintraf, neben ihm ein Stapel Papiere. Auf dem Bildschirm begutachtete er die Röntgenaufnahme eines Brustkorbs, auf der Tastatur hatte er einen angebissenen Donut liegen. Seit 1988 begegne ich diesem Mann nie ohne irgendetwas Essbares in der Hand und doch scheint er von Mal zu Mal dünner zu werden. Da er mit »Ärzte ohne Grenzen« regelmäßig in die unterschiedlichsten Entwicklungsländer reist, frage ich mich, ob er sich vielleicht dabei einen Bandwurm oder so was Ähnliches eingefangen hat. Er ist fast einen Kopf größer als ich und dabei so dünn wie eine Rasierklinge. Er hat gewelltes schwarzes Haar und trägt eine Kippa.
»Hey Stinson«, sagte ich, »schon 'ne Menge Patienten durchgeschleust heute?«
Er schniefte und schnippte etwas Puderzucker von seiner Tastatur. »So um die siebenundachtzig. War mal wieder total verrückt hier unten.«
Wenigstens hat er Sinn für Humor. Hätte er den nicht, würde ihn sein Dienst in der Notaufnahme wahrscheinlich den Verstand kosten.
Er drückte mir die Patientenunterlagen in die Hand. »Traurige Sache, wenn es das ist, wonach es aussieht.«
»Ja«, sagte ich, »zeig mir doch mal die Scans.«
Ein paar Mausklicks später erschienen die Bilder vom Gehirn des Patienten auf dem Bildschirm, die das MRT erbracht hatte. Ich beugte mich über den Bildschirm, nahm ihm die Maus ab und ging die Unterlagen durch.
Gespeichert war das Dokument unter »Martin, Samuel. Fünfunddreißig«. Drei Jahre jünger als ich. Und er hatte heute Geburtstag, so wie Claudette es gesagt hatte.
Ich begann an der Schädelbasis und mit jedem weiteren Bild erschloss sich mir das Organ, das aus Samuel den Menschen machte, der er war. In diesem Schädel befanden sich die knapp hundert Milliarden Zellen, in denen das saß, was ihn ausmachte - sein Geist, seine Erinnerungen, seine Persönlichkeit, seine Überzeugungen, sein Verstand, einfach alles.
Als ich zu den Schläfenlappen kam, sprang mir das Problem förmlich entgegen.
»Mist«, entfuhr es mir.
Stinson deutete auf den Bildschirm. »Was könnte das deiner Meinung nach sein?«
Ich rückte meine Brille zurecht: »Ohne Biopsie kann ich das nicht mit Sicherheit sagen, doch ich schätze, dass es sich um ein Glioblastom handelt.«
Ein Astrozytom vierten Grades, ein bösartiges Gliom. Dieser Tumor ist unter vielen Namen bekannt, die allesamt nur Umschreibungen sind für eine Krankheit, die man eigentlich »Hirnmörder« nennen sollte. Ein eiskalter Killer. Frisst zuerst den Verstand, bis er den Menschen irgendwann komplett verschlingt. Ein Glioblastom ist so ziemlich die schlimmste, am stärksten mutierte und destruktivste Form der Krebserkrankung.
Stinsons Nasenflügel blähten sich auf und in seiner Stimme schwang eine große Portion Abscheu mit. »Ich hasse diese Dinger. Meine Schwägerin hatte so eins und ist innerhalb eines Jahres daran gestorben. Mein Bruder blieb mit drei kleinen Kindern zurück. Dieser Tumor ist ein echter Albtraum.«
»Das tut mir leid für euch«, sagte ich.
Ich merkte, wie schlimm die Erinnerungen waren, die in ihm erwachten. Sein Blick wurde weicher und seine Schultern senkten sich für einen Augenblick. So viel Schmerz und Verlust.
Dann riss er sich sichtlich zusammen. Zurück an die Arbeit. Mit einer Handbewegung wischte er die Gedanken fort. »Das ist der Kreislauf des Lebens, Bruder. Solche Geschichten erleben wir hier tagtäglich. Hat man seitdem in der Behandlung dieses Tumors auch nur den kleinsten Fortschritt erzielt? Als meine Schwägerin erkrankte, meinten die Ärzte, dass er fast immer zum Tod des Patienten führt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Keine echte Weiterentwicklung in den letzten vierzig Jahren. Das überlebt keiner. Um seinetwillen hoffe ich allerdings, dass es sich um irgendetwas anderes handelt. Ich komme später noch mal, sehe nach ihm und mache eine Biopsie.«
»Danke.« Stinson streckte sich und seufzte. »Viel Glück und Gottes Segen.« Dabei klang er fast so wie ein Rabbiner.
* * *
Am 7. Oktober des Jahres 1939 wurde mein Vater in Idabel, Oklahoma, geboren. Wie um das auszugleichen und als ob er jede Verantwortung für eine Explosion der Bevölkerungszahlen von sich weisen wollte, starb Harvey Williams Cushing am gleichen Tag in New Haven, Connecticut. Harvey Cushing war zwar nicht verwandt mit uns, doch er ist weltweit der geistige Vater aller Neurochirurgen.
Cushings Einfluss auf die Neurochirurgie sowie auf die gesamte Medizin überhaupt kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Für seine Beiträge zur Grundlagenforschung und zur klinischen Praxis in den Bereichen Neurochirurgie, Anästhesie, Neurologie, Physiologie, Endokrinologie und anderen Gebieten war er in aller Welt bekannt. Für seinen Dienst als Feldarzt im Ersten Weltkrieg wurde er hoch dekoriert und für seine Biografie des berühmten kanadischen Mediziners Sir William Osler erhielt er sogar den Pulitzerpreis.
Dreizehn Jahre vor seinem Tod schrieb er zusammen mit dem jungen Universalgelehrten Dr. Percival Bailey, dessen Förderer er war, ein Buch mit dem Titel »Die Gewebs-Verschiedenheit der Hirngliome und ihre Bedeutung und die Prognose«1. Dieses Buch präsentierte der Fachwelt erstmalig eine allgemein verständliche Einführung in die Gruppe der Gliome, ihre zellulare Struktur und ihr Wachstumsverhalten. Mit diesem Buch begründeten sie die moderne Disziplin der Neuroonkologie. Präzise beschreiben sie darin den Tumor, den wir heute Glioblastoma multiforme nennen, und beschreiben ihn in Abgrenzung zu allen anderen Hirntumoren als eigene Erscheinungsform.
Auch wenn uns Cushing und Bailey über diese Tumoren und die Zellen, aus denen sie entstehen, grundlegendes Wissen vermittelt haben, so hatte dieses Wissen zu der Zeit, als Cushing starb, noch keinen nennenswerten Einfluss auf die Überlebenschancen oder die Lebensqualität der von dieser Krankheit betroffenen Patienten. Zu Cushings Zeiten endete ein chirurgischer Eingriff häufig mit dem Tod des Patienten und die Strahlenheilkunde steckte noch in den Kinderschuhen. Chemotherapie war nur eine Idee in den Köpfen einiger Chemiker und noch Jahre später, als diese Behandlungsmethode verfügbar war, lachten die Gliome sie nur aus, flohen hinter die Blut-Hirn-Schranke (BHS) und setzten ihren Todesmarsch durch das Gehirn ihres Opfers fort.
Cushing starb, mein Vater wuchs heran und dreißig Jahre später kam ich zur Welt. Ich hatte mit Dutzenden von Glioblastom-Patienten zu tun, und auch wenn ich dank der Arbeit eines Harvey Cushing ihre Krankheit umfassender verstehe, so ist doch die Überlebenschance dieser Menschen heute nicht viel besser als zu den Zeiten, als man diese Krankheit entdeckte. Die Technologie, die uns in der Diagnostik zur Verfügung steht, und die Strategie, mit der wir bei der Behandlung vorgehen, sind exzellent; unsere chirurgischen Eingriffe genügen höchsten Sicherheitsstandards und berücksichtigen die größtmögliche Schonung des Patienten. Und dennoch - von den jährlich etwa achtzehntausend US-Bürgern, bei denen ein Glioblastom diagnostiziert wird, geht der Prozentsatz derer, die zehn Jahre später noch leben, gegen null.
Alle Neurochirurgen teilen das Vermächtnis, dass sich die technologische Ausrüstung einer jeden neuen Generation zwar immer weiter verbessert, aber die Frustration angesichts ihrer scheinbaren Hilflosigkeit bei der Behandlung dieser Krankheit gleichbleibt. Auch achtzig Jahre nach Harvey Cushings Tod kommt es mir manchmal so vor, als ob das Beste, was wir für unsere Glioblastom-Patienten tun können, darin besteht, dass wir beten. Beten, dass die Diagnose nicht zutrifft.
Kennen Sie die alte Frage, was passiert, wenn eine unaufhaltsame Kraft auf...
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